„Ist ein Arzt im Saal?“ – Ja gut, an so einem Abend wird dieser Klassiker zum Kalauer. Schließlich war nicht nur einer da, sondern über hundert davon… Das Bayerische Ärzteorchester, auch unter dem eigenwillig lautmalerischen Kürzel BÄO firmierend, ist nämlich tatsächlich das, was draufsteht: ein großbesetztes klassisch-romantisch gepoltes Symphonieorchester, in dem ausschließlich Mediziner jeglicher Couleur spielen. Die ärztliche Grundversorgung im erfreulich gut besuchten Herkulessaal war also gesichert, und auch musikalisch wurde durchaus die richtige Rezeptur angemischt. Der Klangkörper, Ende der sechziger Jahre von musikbegeisterten Medizinstudenten gegründet, ist nämlich eine Institution und zählt dem Ohrenschein nach zu den besten Laienorchestern im Süden der Republik. Natürlich lässt sich die Performance der Damen und Herren Doktoren – im Programmheft fein säuberlich nach Instrument und Fachrichtung gelistet – in Sachen Klangvolumen und –fülle, Farbenreichtum und Agogik nicht wirklich mit guten Profiorchestern vergleichen, aber was an Technik und Routine fehlt, wird durch Engagement, Hingabe und Liebe zur Sache ausgeglichen; im Notfall entzündet man halt mal ein Opferkerzchen an den heiligen Intonatius…
So konnte man vielleicht auch die Programmgestaltung mit zwei großen romantischen Sakralwerken verstehen, sowohl Felix Mendelssohn-Bartoldys Lauda Sion op. 73 als auch Antonin Dvořáks Stabat Mater op. 58 führen, wenn überhaupt, auf unseren Konzertpodien ein Nischendasein. Im Falle des Mendelssohnschen Opus‘, einer 1846 entstandenen Vertonung des katholischen Frohnleichnamshymnus, hält sich das Bedauern eher in Grenzen; dieses Stück klingt doch extrem nach dem, was es auch war: eine reine Geldarbeit, kirchliche Massenware ohne größere individuelle Akzente. Nichts gegen zu sagen, auch Maestri müssen ihre Miete zahlen. Warum man es heute unbedingt noch spielen musste, übersetzte sich mir weniger, da hätte es kürzere und auch interessantere Einspielstücke gegeben.
Da ist der Dvořák schon eine ganz andere Hausnummer, dieses Werk gälte es durchaus zu entdecken bei Orchestern, Chören und Veranstaltern, das steht in seiner melodischen Kreation, seiner emotionalen Tiefe und kunstvollen Instrumentierung durchaus mit den Sinfonien und Solistenkonzerten des Meisters auf einer Stufe, immer wieder überrascht, ja überwältigt die Komposition durch eindringliche Steigerungen und Effekte, auch wenn die musikalische Grundfarbe, dem Text entsprechend, insgesamt düster ist; darin unterscheidet sich die Version Dvořáks grundlegend von der weitaus bekannteren von Rossini. Da kamen auf die musizierende Ärzteschafte unter der gelassen-souveränen Leitung ihres Gründers und musikalischen Ordinarius Reinhard Steinberg sowie auf den Deutschen Ärztechor in der Einstudierung von Marius Popp gesteigerte Ansprüche zu. Der Chor funktioniert übrigens nach derselben Grundidee, nur eben bundesweit, nun ja, operierend… Mittlerweile war man aber eingespielt und soweit aufgelegt, dass die Aufgabe mit doch erfreulicher Spielkultur gelang. Etwas größere Abstimmungsprobleme offenbarte dagegen der Chor, vielleicht könnte man in Zukunft ein paar mehr Herren zur Stärkung des Klangfundamentes gewinnen?
Zum Ereignis wurde der Abend durch das erstaunlich namhaft besetzte und herausragend singende, sozusagen handverlesene Solistenquartett. Susanne Bernhard führte einen kraftvollen, dunkel abgemischten Sopran ins Treffen und nutzte geschickt die sich bietenden Gelegenheiten für die opernhafte, oder zumindest dramatische, Geste. Mit noch größerer Innigkeit gestaltete Cornelia Lanz den Mezzopart, mit breiter vokaler Farbpalette umschmeichelt sie den Text und gibt dem Leiden einen sanft leuchtenden und auf wunderbar unpretenziöse Weise berührenden Ausdruck. Matthew Grills aus dem Opernstudio der BSO wußte tenoral aufzutrumpfen wo nötig, aber begeisterte auch mit außergewöhnlicher Pianokultur; diesen Sänger sollte man am Max-Joseph-Platz ganz schnell längerfristig binden. Last but not least sorgte Wilhelm Schwinghammer mit seinem schlank geführten und bis in die tiefste Lage einschmeichelnd weich timbrierten Bass immer wieder für die vom Komponisten vorgesehenen Gänsehautmomente.