BR-Symphonieorchester: Simon Rattle dirigiert Haydns “Die Jahreszeiten” – 26.5.2016

Ach ja, das Landleben…! Ein Hort des Friedens, der Gemeinschaft und der Symbiose zwischen Mensch und Natur; jedenfalls bevor irgendein Bösnickel Monsanto, Massentierhaltung, Glyphosat und den ganzen anderen Dreck erfunden hat. 1801 jedenfalls war die Welt noch in Ordnung, fröhliche Bauersleute säten, hegten und ernteten die Früchte des Feldes, gingen auf die Jagd, betranken sich mit Verve zur Feier der Ernte und sammelten sich in kalter Winternacht in muckelig warmer Stube zu Handarbeiten und Geschichten… Zumindest sah man es so durch die idyllisch rosarot getönte Brille des adelig-aufgeklärten Großstädters.

In jenem Jahr 1801 schrieb der notorische Baron Gottfried van Swieten, der bereits drei Jahre zuvor das Textbuch der Schöpfung verbrochen hatte, nämlich ein weiteres Oratorium für Joseph Haydn: Die Jahreszeiten. Der große Kassenschlager sind diese von Anfang an nicht gewesen und stehen denn auch bis heute ganz tief im Kernschatten des populäreren Vorgängerwerkes. Nun hat GvS in den Jahreszeiten die Schöpfung nochmal getoppt und sein Textbuch mit Lyrik-Perlen bestickt, die nun wirklich jedweder Beschreibung spotten und einige Male für raumfüllendes Kollektiv-Kichern im ausverkauften Herkulessaal sorgten… Sätze wie „Außen blank und innen rein, muss des Mädchens Busen sein… Fleißig, fromm und sittsam sein, locket wackre Freier!“ oder „Die Mädchen, groß und klein, dem Obste das sie klauben, an frischer Farbe gleich“ sind da durchaus typisch. Ansonsten huldigt der Autor auch diesmal einem idealistisch-humanistischem Welt- und Gottesbild, verklärt und verkitscht zur Potenz, läßt ständig wackere Landmänner und -frauen mit fröhlichen Liedchen zur Arbeit eilen und zwischen Aussaat und Abendruhe noch weihevolle philosophische Betrachtungen in den Raum werfen…

Rattle BRGewohnt energetische Pult-Performance: Simon Rattle bei der Probe im Herkulessaal (Foto: Bayerischer Rundfunk)

All dies hat Haydn lebhaft und abwechslungsreich vertont, der durchgehende Weiheton der Schöpfung wird hier abgelöst durch ein ungleich entspannteres musikalisches Idiom, auch wenn die kompositorische Struktur aus Orchesterüberleitungen, Chorsätzen, Rezitativen und Arien im Grundsatz sehr ähnlich ist. Wie Simon Rattle in einem seiner gewohnt launigen Interviews feststellt, hat das Stück mit den Jahreszeiten an sich eher wenig zu tun, die vier Abschnitte des Oratoriums erzählen vielmehr vom sich ewig wiederholenden Zyklus des Werdens und Vergehens, bei dem im Winter auch musikalisch unüberhörbar Schluß mit lustig ist; für heutige Ohren wirkt gerade der pathetisch-hochdramatische Schluß kaum mit den ersten zwei Stunden des Werkes kompatibel, hier schalten die Autoren in einen anderen Gang und lassen es rauschen wie in Händels Messias

Kein Selbstläufer also, aber eine durchaus originelle Partitur, aus der man einiges rausholen kann. Simon Rattle, nunmehr bereits zum vierten Mal am Pult des BR-Symphonieorchesters zu Gast, erwies sich als Idealbesetzung für das Werk. Wie kaum ein anderer Dirigent besitzt Rattle ein Gespür für musikalische Bildhaftigkeit und Klangmalerei, sein Dirigat sprüht nur so vor Energie, Elan und Dynamik, die Entwicklungsprozesse des Jahres mit seinen Stationen und Stimmungen werden so plastisch herausgearbeitet, dass man die einzelnen Episoden fast vor sich sieht; sei es das erste Grün des Frühlings, die Tiere in Wald und Feld, die aufwallenden Gefühle des jungen Landvolkes für einander, die Festtagsstimmung, aber auch die Melancholie und Erstarrung des Winters, hier sind wir schon ganz nahe bei Schubert. Selbst die disparaten Pathos-Schübe und großen kosmischen Momente moderiert und integriert Rattle harmonisch in den sinfonischen Satz. Eine Meisterleistung, die durchaus Lust auf Wiederholungstaten macht. Der Wunsch, die Aufführung bald auf dem hauseigenen CD-Label des BR publiziert zu sehen, ist hiermit geäußert…!

Vokal verwöhnt wurde man an diesem Abend in erster Linie durch den wie immer grandiosen Chor des Bayerischen Rundfunks in der Einstudierung von Peter Dijkstra, eine einzige Demonstration, wie farbenreich, sprachmächtig und sinnlich Chorgesang sein kann. Von den drei Solisten konnte allerdings nur die Sopranistin Marlis Petersen auf diesem Niveau mithalten, mit ihrer glasklaren, schwebend leichten, und doch körperhaft präsenten Tongebung, dem blühenden Höhenglanz und ihrem glaubwürdig unpretenziösen Vortrag begeisterte die Künstlerin auf allen Ebenen. Eher rustikal als balsamisch klang dagegen das baritonale Material von Florian Boesch, zudem war auch die Gesangslinie nicht durchgehend frei von Manirismen und vokalen Überpointierungen à la Fischer-Dieskau. Dennoch reichte es zu einer genießbaren Interpretation; was man von dem Tenor Jeremy Ovenden leider nicht behaupten konnte… Im Würgegriff einer massiven Indisposition presste und quetschte der Sänger sich eine hart erkämpfte Phrase nach der anderen aus dem Hals; vollkommen unverständlich, dass hier keine Ansage seitens des Veranstalters gemacht wurde! Am zweiten, live im Radio übertragenen, Abend strich Ovenden denn auch die Segel und wurde vom Kollegen Andrew Staples ersetzt.

Das Publikum dankte auch zu später Stunde lautstark und ausdauernd.

Gehabt Euch wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: “Norma” – 17.4.2016

Galliens next Topmodel

Die Gelsenkirchener Oper heißt eben nicht „Opernhaus“ oder „Städtische Bühnen“ oder etwas in der Richtung, sie heißt Musiktheater im Revier. Ein Name, der kein Zufall ist, sondern Programm, ein künstlerisches Statement und zugleich eine Versprechung. In der Tat nimmt der Intendant Michael Schulz, ebenso wie seine Vorgänger, den Begriff sehr ernst und läßt risikolos-langweilige 0815-Inszenierungen lieber anderswo stattfinden. Das ist zumeist spannend, oftmals erhellend, es kann im Einzelfall allerdings auch fulminant daneben gehen. Diese Norma ist leider ein Abend der letzteren Kategorie, zumindest was die szenische Seite betrifft.

Musikalisch kann sich das Ergebnis der Einstudierung nämlich absolut hören lassen, alle Protagonisten sind ihren Partien gewachsen, in einigen Szenen war geradezu ein Gang durch die sängerische Feinkostabteilung angesagt; schon beeindruckend, auf welchem Niveau hier am Haus trotz schwieriger Rahmenbedingungen immer wieder Ensemblepflege betrieben wird. Dabei siegten im Dreiecksverhältnis der Norma-Handlung die beiden weiblichen Pole über den männlichen: Jonghae Lim sang mit schlank geführtem Tenor und einer zuweilen etwas unorthodoxen Phrasierung einen soliden Pollione und lieferte auch die Höhen mit sauberer Tongebung ab. Vom Gesamteindruck her blieb er aber hinter seinem Duca di Mantova aus der letzten Saison zurück, für den römischen Erzmacho und Eroberer fehlt es dem etwas schmächtig und androgyn wirkenden Sänger noch an Autorität. In der Titelpartie präsentierte sich mit Hrachuhi Bassénz einer der früheren Publikumslieblinge an alter Wirkungsstätte und feierte völlig zu recht einen großen Erfolg; die Künstlerin hat sich die Geschmeidigkeit und schwebende Leichtigkeit ihres reizvoll timbrierten Soprans erhalten und zugleich in der Mittellage an Fundament und Wärme gewonnen. So bewältigt sie die langen Vokallinien und Aufschwünge ins obere Register bemerkenswert mühelos und kraftvoll, kann aber auch in den eher kontemplativen Momenten punkten. Wenn sie die Partie öfter singt – und vielleicht das Glück haben wird, einen Regisseur zu finden – wird sich das Farb- und Ausdrucksspektrum des Vortrges sicherlich noch ausweiten. Kein Wunder übrigens, dass sich das Können und Potenzial der Künstlerin bereits herumgesprochen haben; in der kommenden Saison wird Hrachuhi Bassénz an der Londoner Royal Opera debütieren… In bocca al lupo!

Norma GE2Im Zentrum des Abends: Hrachuhi Bassénz in der Titelrolle (Foto: Karl u. Monika Forster)

Dass die beiden großen Duette zwischen Norma und Adalgisa die Höhepunkte der Aufführung wurden, war ebenso das Verdienst von Alfia Kamalova, die mit der exquisit zarten und lyrischen Tongebung ihres jugendlichen Soprans einen wunderbaren Klangkontrast zu ihrer Partnerin setzt und der Figur Profil verleiht. Hier reift in der Talentschmiede MIR definitiv das nächste sängerische Juwel heran! Präsent, aber auch etwas müde klang diesmal der Bass von Dong-Won Seo als Oroveso, allerdings hatte der Gute auch am Vorabend noch den Alvise in der Premiere von La Gioconda gesungen… Ensemblealltag an städtischen Theatern, da muss man durch.

Norma GE3La signora in giallo: Alfia Kamalova als Adalgisa, im Hintergrund Hongjae Lim als Pollione (Foto: Karl u. Monika Forster)

Übrigens schmückt sich das MIR mit der szenischen deutschen Erstaufführung der 2012 herausgekommenen historisch-kritischen Edition von Maurizio Biondi und Riccardo Minasi. Diese hat nicht nur eine Reihe von tradierten Strichen, Retuschen und Schlampereien aus der Partitur rausgeworfen, sondern auch durch die Besetzung der Adalgisa mit einem zweiten Sopran die ursprüngliche Stimmfach-Dramaturgie wieder hergestellt. Auch der verklärend glissandierende Schluß des Guerra!-Chors ist ein feiner, aber signifikanter Kontrast zum gewohnten Knalleffekt. Allerdings sind auch die im Vergleich zur Aufführungstradition deutlich kleinere Orchesterbesetzung und vor allem der Einsatz historischer Instrumente integrale Bestandteile dieser Ausgabe; in Gelsenkirchen wird natürlich das „normale“ Symphonieorchester aufgefahren, was so sicher nicht ganz im Sinne des Erfinders ist, angesichts der Bedingungen aber zumindest einen annehmbaren Kompromiss darstellt. Valtteri Rauhalammi war am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen um eine dynamische und offensive Lesart bemüht, gab aber im Laufe der Vorstellung den Tempovorstellungen der Sänger immer mehr Raum und verlor darüber zuweilen etwas die Linie, erst im Finale konnte er die Kräfte wieder bündeln und die angestrebte Wirkung realisieren.

Norma GE1Tollhaus Gallien in der Totalen (Foto: Karl u. Monika Forster)

Leider hatte die Vorstellung – wie das nunmal in der Oper so ist – auch eine szenische Komponente. Diese hatte die Regisseurin Elisabeth Stöppler zu verantworten. Nun ja, irgendetwas wird sie sich schon gedacht haben und vielleicht macht das für die Urheberin in ihrer Vorstellung tatsächlich einen Sinn… Auch wenn dem so ist, übersetzt hat es sich mir nicht. Um das jetzt mal diplomatisch zu formulieren. Man könnte auch einfach sagen, dass sie das Unternehmen durch einen Mischmasch von Klischees, Mätzchen und unfreiwilliger Komik komplett vor die Wand gefahren hat. Hermann Feuchtner hat dazu ein graues Bühnenbild in praktischer Bauklotz-Optik erreichtet, das ebenso wie die Kostüme von Nicole Pleuler keinerlei zeitliche oder geographische Verortung zulässt; letztere reichen von einem Madonnenmantel für die Primadonna über konturenlose Einheitsfräcke bis hin zu knallgelben Kleidern mit passenden high heels für die anderen Priesterinnen… Galliens next Topmodel ist im Anmarsch. Es gibt einen klobigen Tisch, um irgendwen drarauf festzuschnallen, ein paar Gemeindezentrums-Stühle und im zweiten Akt liegt alles in Unordnung inmitten der Bühne… Ach ja, die Ordnung ist ins Wanken geraten. Welche? Egal, so genau will das doch keiner wissen. Überhaupt trägt Norma Züge einer christlich-ikonographischen Figur und entschwebt am Schluß in gekreuzigter Haltung in die Lüfte; selbst nach diesem Konglomerat noch ein Brüller der Sonderklasse. Normas Kinder, sehr engagiert und natürlich gespielt von Asya Cakmakci und Selin Türk, wuseln den ganzen Abend durchs Geschehen; keiner darf von ihnen wissen und jeder scheint sie zu kennen… Jeder außer Papa Pollione, der ganz erstaunt aus der Wäsche schaut. Im Stück gibt es eigentlich noch zwei kleine Rollen, Clotilde und Flavio. Beides Stichwortgeberpartien für die Hauptdarsteller und in der Handlung deren confidenti, Vertraute. Clotilde fällt hier komplett weg, ihre wenigen Sätze werden von Adalgisa und von einer unbenannten Chorsolistin übernommen. Dafür ist Flavio in Gestalt von Lars-Oliver Rühl umso präsenter, in ihm hat Frau Stöppler einen „Grenzgänger zwischen den Welten“ erkannt, der ganz offenbar Pollione in unerwiderter homoerotischer Absicht zugetan ist. Vermutlich deswegen labert er den Musikern immer wieder dazwischen und rezitiert in bellender Diktion Gedichte von Pier Paolo Pasolini. Wie jetzt? Mitten rein in Bellini? Allerdings, sogar das große Final-Concertato wird durch diesen Mumpiz auseinander gerrissen und in seiner musikalischen Faktur empfindlich gestört; ohne die Spur eines Erkenntnisgewinns. An diesem Punkt wird eine missglückte Inszenierung dann wirklich zum Ärgernis. Wollte man alle Ungereimtheiten und Unsinnigkeiten dieser Arbeit protollieren wäre die Liste länger als Felice Romanis Libretto, einschließlich der Pasolini-“Zugaben“. Am Ende des Tages bleiben die sorgfältig gecasteten gallischen Supermodels, äh, Priesterinnen, die sind schon nett anzuschauen… Man hat sich nur irgendwie in der Tür geirrt. Um im Bild zu bleiben: Nein, Frau Stöppler, ich habe heute leider kein Foto für Sie. Aber vielleicht genügt ja eine DVD der Stuttgarter Norma-Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito? Die beiden haben seinerzeit nämlich gezeigt, wie man diese Geschichte spannend, modern und aktuell erzählen und sie dennoch ernstnehmen kann.

Gehabt Euch also wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

Weitere Vorstellungen am 5., 14. und 26. Mai 2016

Karten unter: http://www.musiktheater-im-revier.de