Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: “L’Italiana in Algeri” – 25.12.2013

Gioachino Rossini war so manches: gefeierter Komponist, Opernreformer, Aphoristiker, Lebemann und Gourmet sowie nach seinem Rückzug aus dem Operngeschäft mit gerade mal Mitte Dreißig der vermutlich fröhlichste Frührentner (nicht nur) der Musikgeschichte. Darüber hinaus hat er, ohne dass dieser Umstand jemals gebührend gewürdigt worden wäre, in seinen komischen Opern das absurde Musiktheater erfunden, die vollkommene Entkoppelung von Textinhalt und musikalischer Form, die virtuose musikalische Organisation des Nonsense.

Dies hat Regisseur David Hermann in seiner Inszenierung von L’Italiana in Algeri am Gelsenkirchener MIR beherzigt und damit für einen wunderbar amüsanten, spritzigen und kurzweiligen Opernabend gesorgt. In seiner 1813 entstandenen opera buffa nimmt Rossini den Zusammenstoß zweier Kulturen, der europäischen und der orientalischen, humorvoll auf die Schippe und verrührt dies noch genüsslich mit den schon damals gängigen Geschlechterklischees und dem skurrilen Typenarsenal einer handfesten italienischen Musikkomödie. Nun kann ja gerade ersteres heute, in Zeiten der political corectness und der öffentlichen Hysterie leicht auf ganz dünnes Eis führen… Hermann entgeht dem, indem er den Bey Mustafà samt seinem Hofstaat und den Schauplatz Algier kurzerhand in eine andere, räumlich und politisch ungleich weiter entfernte Weltgegend versetzt und umwidmet: irgendwo in die Südsee nämlich, die Entführerin reist nicht ins Serail, sondern in den Dschungel. Für die Dramaturgie des Stückes spielt das keine Rolle und die diversen textlichen wie szenischen Gags funktionieren auch in diesem Umfeld prächtig. Eigentlich sogar fast noch besser, da man das so noch nicht gesehen hat und dieses Konzept wirklich originell ist. Für den ersten “Wow!”-Effekt sorgt bereits das Bühnenbild von Rifail Ajdarpasic: ein riesiges, mitten im Dschungel abgestürztes Flugzeugwrack, in weiten Teilen ausgeweidet und von der Natur zur Hälfte schon zurückerobert. In dieser Maschine haust ein Stamm putziger Ureinwohner mit geschnitzten Masken, zwischen Teddybär und Star Wars (Kostüme: Bettina Walter), Ladung und Ausrüstung des Havaristen tauchen immer wieder da auf, wo es niemand vermutet und werden fröhlich zweckentfremdet. Dass sich der Großteil dieser Gesellen am Ende des Tages als die gefangenen Italiener entpuppt, die sich die “Pensa alla Patria” Masken und Umhänge abstreifen und ungläubig ins Licht blinzeln wie beim Gefangenenchor aus Fidelio, mag vielleicht nicht ganz logisch sein, aber siehe oben! Natürlich kriegen sie die Maschine am Ende wieder flott und heben ab, lediglich Taddeo geht so in seiner Rolle als Kaimakan so auf, dass er freiwillig im Urwald zurückbleibt, während Stammesfürst Mustafà als “Pappataci” seine Spaghetti mampft; ein nettes Zitat aus Ponnelles berühmter Inszenierung, die jahrzehntelang die Bühnen beherrscht hat. Das ist einfach exzellent gemachtes musikalisches Unterhaltungstheater, mit leichter Hand und viel Witz, hohem Tempo und Genauigkeit, getragen von der ansteckenden Spielfreude des Ensembles und auch des Chores. Das Publikum hatte verständlicherweise seinen Spaß und ging voll mit.

Ensemble Belcanto im Dschungelcamp – Foto: Pedro Malinowski

A propos Ensemble: dass man in Gelsenkirchen, einer der finanziell klammsten Kommunen der Republik, nicht über die Mittel verfügt, die angesagtesten Goldkehlen und Koloraturkanonen einzukaufen, versteht sich von selbst. Hier muss durch Engagement, Spielfreude und Ensemblegeist ausgeglichen werden, was im Einzelfall an Virtuosität und Vokalbravour fehlen mag. Eine echte Primadonna gab es dennoch zu bestaunen, Carola Guber als Isabella nämlich. Schon mit dem ersten Auftritt kehrt sie das Unterholz zuoberst und mischt den Regenwald auf; ein singendes Vollweib, “lecker ordinär”, dominant, kokett, notorisch gut gelaunt und vor allem hinreißend selbstironisch. Eine Königin des Urwalds, die aus jedem Wink, jedem Umzug oder Abgang eine Staatsaktion macht. Die dazugehörige Stimme ist sicher kein Naturereignis, aber ein geläufig, sauber und musikalisch geführter und sehr angenehm timbrierter Mezzo. Hongjae Lim als ihr Lindoro setzt effektvolle Spitzentöne in den Saal, kämpft etwas mit den schnellen parlando-Passagen und legt im Pappataci-Terzett eine Gangnam Style-Persiflage hin, dass kein Auge trocken bleibt. Einigen Sopranglanz verbreiten Alfia Kamalova als Elvira und Anke Sieloff als Zulma. Größere Abstriche sind dagegen bei den tiefen Herren zu machen: während Piotr Prochera als Taddeo seine Probleme mit Rhythmus und Intonation durch sein lebhaftes Spiel noch einigermaßen wettmachen kann, fallen Dong-Won Seo als Haly und vor allem Krysztof Borysiewicz als Mustafà doch sehr ab. Gerade bei letzterem ist das natürlich sehr bedauerlich, da so der Gegenpart zu Gubers Italiana weitgehend ausfällt; selbst in der 6. Parkettreihe ist er akustisch kaum noch präsent und den wenigen vernehmbaren Phrasen fehlt es an Bassfarbe.

FOTOS: PEDRO MALINOWSKI L’Italiana in Algeri Komische Oper in zwei Akten von Gioacchino Rossini Text von Angelo Anelli Ua 1813 Besetzung: Mustafa: Krzysztof Borysiewicz Elvira: Alfia Kamalova Zulma: Anke Sieloff Haly: Dong-Won Seo Lindoro: Hongjae Lim IC.Guber, H.Lim, A.Kamalova, K.Borysiewicz und P.Prochera (Foto: Pedro Malinowski)

Dirigent Askan Geisler am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen ging die Sache zunächst recht zaghaft an und schien das Orchester eher einbremsen zu wollen, Rossinis musikantischer Wirbel stellte sich so natürlich nicht ein. Erst im Laufe des ersten Aktes gewann das Dirigat an Sicherheit, Tempo und Musizierfreude, ein Sonderlob geht an den Hornisten für sein Solo in der ersten Lindoro-Arie.

Bayerische Staatsoper: “La forza del destino” – 22.12.2013

Der Todestisch von Calatrava oder die schwarze Romantik des Giuseppe Verdi

Es gibt bekanntlich auf Erden ignorante und nörgelige Zeitgenossen, welche die Oper an sich für einen Ausbund an Abstrusität und Unglaubwürdigkeit halten. Diese bedauernswerten Geschöpfe weisen dann besonders gerne auf Werke wie Ponchiellis La Gioconda oder eben auch Verdis La forza del destino. Sicherlich, auch der geneigte Opernfreund muss bei der Lektüre des Librettos von Francesco Maria Piave einmal tief durchatmen, denn die Häufung von handlungslogischen Ungereimtheiten und dramaturgisch widersinnigen Konstellationen in dieser Oper, die eigentlich besser La forza del caso, also Die Macht des Zufalls, heißen müsste, ist selbst innerhalb dessen, was in dieser Kunstform locker weggesteckt wird, ein Stich in die Nase. Mit der Ratio lässt sich hier folglich nichts ausrichten, vielmehr belegt die aberwitzige Verkettung tragischer Zufälle und unheilvoller Überraschungen, wie wenig der Mensch gegen das sinnlose Wüten der Geschicke ausrichten kann; das ist schwarze Romantik pur. Das kann und darf nicht rational hinterfragt werden, es muss am Abend auf der Bühne einfach stattfinden. Und das tut es mit aller Macht des Schicksals, es geht um nichts weniger als um eine die bürgerlichen Normen sprengende Liebe, um Rivalität und Hass, Rassismus und Standesdünkel, Krieg und Verwüstung – im physischen wie im seelischen Sinne – Mord und Totschlag. Mit einem Wort: die perfekte Weihnachtsoper für die ganze Familie.

993810_10152093494478794_1988517771_nDa brennt nicht nur der Baum… (Foto: Wilfried Hösl)

Und natürlich hatte die Bayerische Staatsoper bei dieser Weihnachtspremiere den Gabentisch wieder reich eingedeckt mit illustren Namen, schon der Blick auf den Besetzungszettel ließ die Melomanengesichter in seligem Glanze erstrahlen. Also, keine lange Vorrede mehr, steigen wir gleich mal ein in die fällige Lobpreisung einer Besetzung, wie man sie in dieser überragenden Qualität und Homogenität heute so bald kein zweites Mal antreffen wird; da müsste man schon ganz tief hinuntersteigen in die Archive. Und das soll jetzt nicht die übliche langweilige Konfrontation des Früher mit dem Heute sein, das bringt schließlich niemanden weiter und jede Epoche hat eben ihre prägenden Interpreten. Solche sind Anja Harteros und Jonas Kaufmann bekanntlich in besonderem Maße; als Lohengrin und Elsa, Don Carlo und Elisabetta sowie zuletzt als Manrico und Leonora agierten sie schon gemeinsam auf dieser Bühne und nun also in einem doppelten Rollendebüt als Alvaro und wiederum Leonora. Eine Konstellation wie Verdi sie liebte: die höhere Tochter und der gesellschaftliche Outlaw, die empfindsame und tief melancholische Weiblichkeit und der italienische Macho und romantische Desperado, das knalligste Gemisch seit Nitro und Glyzerin. Genau diese Konstellation ist es, die gerade diese beiden begnadeten Sängerpersönlichkeiten so perfekt umsetzen und verkörpern können wie kaum jemand anderes. Dass beide ihre Rollen zum ersten Mal überhaupt sangen, konnte man angesichts der stimmlichen wie gestalterischen Intensität und Bravour eigentlich kaum glauben. Bei Anja Harteros‘ Leonora fasziniert und überwältigt, wie auch bei ihrer Elisabetta, der tief im Inneren lodernde und schließlich zerstörerisch ausbrechende Konflikt zwischen Melancholie, Verletzlichkeit und Leidenschaft. Auf den ersten Blick wirkt diese Leonore vielleicht introvertierter und beherrschter als die Interpretation manch anderer Kollegin, aber Harteros legt in ihren Gesang alle widersprüchlichen Affekte und Leidenschaften, die man sich nur vorstellen kann, das ist Feuer und Eis zugleich, zärtliche Hingabe und Sehnsucht, aber auch unbedingte Leidenschaft und innere Stärke, eine Frau die ihren Weg geht ohne Kompromisse. Aufgesetzte Effekte, Drücker und Schluchzer hat diese wunderbare Sängerin nicht nötig, da liegt alles in der Stimme, vom sanftesten, entrückt schwebenden pianissimo bis hin zum furios strahlenden Spitzenton. Dass sie das gesamte technische und stilistische Arsenal des Verdi-Gesangs in Perfektion beherrscht und jede Phrase mustergültig gestaltet und mit sinnlicher Glut erfüllt ist, versteht sich bei dieser Ausnahmesängerin von selbst. Das Premierenpublikum feierte sie entsprechend mit einer geradezu die Grundmauern erschütternden dimostrazione d’affetto. Nicht nur zur Weihnachtszeit ist jeder Abend mit Anja Harteros ein Geschenk! Dass der Alvaro eine großartige Partie für Jonas Kaufmann sein würde, stand zu erwarten und er löste diese auch in vollem Umfang ein. Mit öliger, schulterlanger Bombenleger-Frisur, hautengen Jeans und monströser Gürtelschnalle gab er schon optisch einen Latino-Proll wie aus dem Bilderbuch und untermauerte dies auch mit dem entsprechenden Bewegungs- und Gestenrepertoire. Dass dieser Alvaro ein wandelnder Konventionsbruch ist, der mit seiner geballten Andersartigkeit in die bürgerliche Welt der Calatrava Family einbricht, übersetzte sich sofort. Kein Traumschwiegersohn, sondern ein unverschämt viriler Halunke, selbstbewusst, fordernd, stolz und unbeirrt. Kaufmann verkörperte dieses singende Testosteronmonster mit spürbarem Spaß an der Freud, gab der Rolle aber mit seinem farbenreichen und differenzierten Vortrag ihre Schichtungen mit auf den Weg. Er verfügt über die adäquate Stimmfarbe, vereint jugendlich-sinnliche Frische und mediterranes Fluidum mit klanglicher Reife und intelligenter Gestaltung. Auch die früher oft unschön herausstechenden und stilistisch eigenwilligen piani hat er mittlerweile technisch im Griff und bindet sie sauber in die Gesangslinie ein; sogar in der technisch heiklen Übergangslage, dem sogenannten passaggio, etwa im Mittelteil der berühmten Arie im dritten Akt. Leonoras rachsüchtiger Bruder, der Edel-Wüterich Don Carlo di Vargas, ist eine darstellerisch heikle Rolle, die sehr zu Überzeichnung und Karikatur einlädt. Ludovic Tézier widerstand der Versuchung bravourös und flößte dennoch Furcht ein vor der destruktiven Energie und der Brutalität des Charakters. Stimmlich bot der französische Bariton eine Glanzleistung, die denjenigen von Harteros und Kaufmann jederzeit ebenbürtig war; der Künstler besitzt ein sehr gepflegtes Material und führt die Stimme weich, kantabel und hochmusikalisch, aber eben auch mit jenem metallischen Kern, der für die großen dramatischen Ausbrüche unerläßlich ist. In Sachen Eleganz und kultivierter Linienführung fühlte man sich streckenweise an Piero Cappuccilli erinnert, auch wenn Téziers Timbre noch eine Spur weniger individuell und profiliert erscheint. Vitalij Kowaljow war gleich in zwei Partien zu erleben, als Marchese und Padre Guardiano. Der tiefere Sinn dieser Doublette erschloss sich mir nur bedingt, zwar sind beide dominante (Über)väter, aber doch eindeutig zwei verschiedene Personen. Mit Kowaljows sattem, voluminösen Bass waren beide jedenfalls bestens besetzt, der Gestaltungsspielraum des Sängers ist hier rollenbedingt nun mal eher überschaubar. Kernig und prägnant fiel auch der Auftritt von Renato Girolami als Melitone aus, der dankenswerterweise ohne die üblichen aufgesetzten Buffo-Klischees auskam. Zu kämpfen hatte dagegen Nadia Krasteva, zum einen mit den vokalen Tücken der beinahe unsingbaren Preziosilla-Partie – tatsächlich habe noch nie eine wirklich überzeugende Interpretin erlebt – sondern auch mit dem Umstand, dass auch der Regie zu dieser Figur absolut nichts Sinnstiftendes eingefallen ist. Christian Rieger (Alcalde), Heike Grötzinger (Curra) und Francesco Petrozzi (Trabucco) blieben, sportlich ausgedrückt, relativ unauffällige Ergänzungsspieler.

1546006_10152093499618794_1958046923_nZentrum des Abends: Anja Harteros als Leonora (Foto: Wilfried Hösl)

Soweit also eine wirklich schöne Bescherung und das erhoffte Opernfest. Leider ist jetzt allerdings Schluß mit der Schwärmerei, denn in den Disziplinen Dirigat und Inszenierung bot der Premierenabend höchstens Durchschnittliches. Laut und wuchtig bohrte Dirigent Asher Fisch die Einleitungsakkorde mitten hinein in die kribbelige Premierenstimmung, die Ouvertüre klang zwar wenig subtil und eher holzschnittartig, wurde aber technisch zumindest sauber gemeistert… Eine Sternstunde des Staatsorchesters kündigte sich nicht an und in der Tat zeigten sich die Kollegen auch in der Folge eher werktäglich denn vorweihnachtlich aufgelegt. Das war schon einigermaßen in Ordnung, alles zusammen und mit gesunder Lautstärke gespielt, aber an ein Spitzenorchester hat man doch etwas andere Ansprüche. Da fehlte es an Farben und instrumentalen Finessen, der Klang wirkte zu kompakt, zu wenig transparent und auch Verdis so charakteristisches furioses Brio und seine musikantische Leidenschaftlichkeit waren eher zu erahnen als wirklich zu erleben. Dafür ist Asher Fisch wohl auch die falsche Adresse, zu breit und schwerfällig sind seine tempi, immer wieder reißt der Spannungsbogen ab und er leistet sich, vor allem vor der Pause, regelrechte Absenzen, wo man über zehn Minuten oder noch länger das Orchester kaum noch wahrnimmt. Wesentlich besser kam der Staatsopernchor (Einstudierung: Sören Eckhoff) mit dieser Gangart zurecht und nutzte das langsame Zeitmaß zur vokalen Entfaltung. Dennoch: nach diesem Abend hält sich die Vorfreude auf die zahlreichen Opernabende, die Fisch diese Saison hier noch dirigieren soll, in engen Grenzen.

993816_10152093499158794_1267947536_nLicht aus, Messer raus! – Jonas Kaufmann (Alvaro) und Ludovic Tézier (Carlo di Vargas) – Foto: Wilfried Hösl

Während man vom Dirigat nicht viel mehr erwartet hatte, geriet die Inszenierung von Martin Kušej zu einer ausgesprochenen Enttäuschung. Dabei hatte es durchaus verheißungsvoll begonnen: während der durchinszenierten Ouvertüre und im ersten Bild der Oper zeigt uns der Regisseur eine packende, kammerspielartig konzentrierte Innenansicht des verkrusteten Familienclans der Calatrava; streng, elitär, dogmatisch und angedeuteterweise im Mafia-Milieu heimisch; eine präzise Studie der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den folgenden Ausbruch Leonoras und die gesellschaftlichen Verwerfungen der Handlung insgesamt nachvollziehbar macht. Leider hält die Regie dieses Niveau nicht lange durch, bereits ab dem zweiten Bild wird die Umsetzung immer beliebiger und die offenbar angestrebte Verlagerung der Handlung in die modernen Vereinigten Staaten bringt keinen interpretatorischen Mehrwert oder Erkenntnisgewinn. Ob es sich nun um die pittoresk qualmenden Trümmer von 9/11, die Folterkeller von Abu Ghraib oder die aseptische Kleinbürgerlichkeit freikirchlicher Sekten-Fuzzis handelt, nichts davon führt wirklich ins Zentrum. Dass Kušej ein guter Regisseur ist und sein Metier beherrscht, merkt man an der Personenführung, er hat definitiv mit seinen Stars intensiv gearbeitet und sie sind ihm offensichtlich auch gefolgt, als genuiner Schauspielregisseur pflegt er einen kleinteiligen, berührungsintensiven Regiestil von hoher szenischer Dichte, der trotz aller konzeptionellen Unschärfe immer wieder durchkommt. Komplett misslungen sind ihm dagegen die Massenszenen, die Chorauftritte und die Kriegsszenen; der dritte Akt ist szenisch der absolute Tiefpunkt des Abends. Eine alberne Plastik-Ruine mit bemerkenswert symmetrischen Einschlagskratern (Bühne: Martin Zehetgruber) und bevölkert von Statisten in Designer-Lumpen (Kostüme: Heidi Hackl), die händeringend “der Menschheit ganzes Elend” spielen, dazu rotes Licht, Rauch und jede Menge Kunstblut. Madame Tussaud’s lässt grüßen. Das ist einfach nur billig, trivial und ärgerlich, zumal sich Kušej hier einige handwerkliche Klöpse leistet, die einem solchen Profi einfach nicht passieren dürfen. Ähnlich platt ist auch die Orgie im Feldlager, die aus den kollektiven Verrenkungen, dem Jucken und Kratzen und den Plastikflaschen besteht, die man aus zig anderen Kušej-Inszenierungen kennt. Überhaupt besteht der zweite Teil des Abends zu einem erheblichen Teil aus Selbstzitaten, wieder einmal wird die Sopranistin, in diesem Fall ihr Double, unter Wasser getaucht und seltsamerweise steht auch mitten auf dem Schlachtfeld der braune IKEA-Tisch, der schon bei Calatravas und den Sektierern stand und auf dem später Melitone seine Essenspakete füllen und Leonora ihr Leben aushauchen wird… Ein offenbar lebensgefährliches Universalmöbel, der Todestisch von Calatrava sozusagen. Lieber Martin Kušej – bei aller persönlichen Wertschätzung Ihrer Arbeit, das ist konzeptionell und als Theaterereignis einfach zu dünn. Aber wenn Sänger mal einen schlechten Tag haben dürfen, dann gilt das auch für Regisseure.

BR-Symphonieorchester und -Chor: Bernard Haitink dirigiert “Die Schöpfung” – 19.12.2013

„Papa Haydn“ – wohl selten war ein Spitzname so dämlich und hat, wiewohl gut gemeint, das Bild seines Trägers für die Nachwelt derart nachhaltig ruiniert. Papa Haydn, das klingt schon so bräsig, so verzopft, so betulich… Und genauso ist seine Musik dann auch Generationen lang aufgeführt worden: als zahnlose, sanft plätschernde Kuschel-Klassik, die perfekte Klangkulisse zu Heizdecke und Kaffee Hag, bestenfalls als Einspielstück für das Hauptwerk des Abends. Da muss doch mehr dahinter stecken?! Tut es auch. Das haben sie uns inzwischen eindrucksvoll bewiesen, die Herren Harnoncourt, Hogwood, Antonini, Rattle und Co., Originalklang-Apostel ebenso wie musizierende Sinnsucher und Freunde der sogenannten period informed interpretation. So gesehen sind die alten Zöpfe längst ab und Haydn als Komponist rehabilitiert. Sicher, mit Mozart kann er nicht mithalten – was er übrigens auch selbst erstaunlich neidlos erkannte und zugab – und neben Beethovens sinfonischem Furor und präromantischen Feueratem hört sich der Gute zugegebenermaßen schon eher blass an… Trotzdem: ein gut gespielter Haydn ist was Feines und ein Hörvergnügen voller musikantischer Frische.

Nun ist es nicht nur phonetisch ein kleiner Schritt von Papa Haydn zu Papa Haitink, Bernard Haitink. Der holländische Maestro gehört zu den Doyens der Branche und feiert im kommenden Frühjahr immerhin den 85., beim BR-Symphonieorchester hat er bereits 1958 (!) debütiert und gehört seither zu den treuesten künstlerischen Partnern des bayerischen Eliteorchesters und ist seit Jahrzehnten im Münchner Musikleben eine feste Größe. Zudem ist er,  neben seinem Generationsgenossen Pierre Boulez, der vermutlich uneitelste und unpretenziöseste Dirigent, den man sich vorstellen kann, ein hochseriöser und zu Recht beliebter Musiker. 1987 habe ich mein erstes Haitink-Konzert gehört und schon optisch hat er sich seitdem nicht wirklich verändert. Das gilt allerdings auch für seinen künstlerischen Ansatz; damals wie heute steht Haitink für grundsoliden, gefälligen und weitgehend pathosfreien Wohlklang ohne Exzesse in Sachen Tempo oder Dynamik. Wenn man sich eine Konzertkarte für ihn kauft, weiß man, was man bekommt, Enttäuschungen sind praktisch ausgeschlossen. Überraschungen allerdings leider ebenfalls, interpretatorisches Neuland wird nicht betreten, Denkanstöße oder Entdeckungen finden nicht statt. Das ist old school, mit allen Vor- und Nachteilen.

So gab es auch an diesem Abend nicht wirklich was zu meckern, das BR-Symphonieorchester spielte in voller Pracht, mit opulentem romantischen Sound und schillernder Farbigkeit und der großartige Chor in der Einstudierung von Peter Dijkstra wurde seinem überragenden Ruf einmal mehr gerecht und schwang sich in den zahlreichen Lob- und Jubelgesängen zu beeindruckender Klangfülle und Geschmeidigkeit auf. Das klang alles wunderprächtig und hochmusikalisch. Nun ist gerade Die Schöpfung allerdings ein inhaltlich und gattungstypologisch sehr interessantes Werk, das zwar formal noch an die Oratorientradition Händels anknüpft, diese allerdings immer wieder aufbricht und Ausblicke in die Moderne eröffnet. So ist beispielsweise der Einbruch des Lichtes ein Geniestreich; ein allgemeingültiger Topos, auf den später Komponisten wie Beethoven, Rossini, Wagner, Meyerbeer und Strauss ebenso zurückgegriffen haben wie die Filmmusik des 20. Jahrhunderts. Dass die Amtskirche dieser in Teilen sehr eigenwilligen und betont humanistisch geprägten Version der Schöpfungsgeschichte eher ambivalent gegenüber stand, ist kein Wunder; verkörpern Texte und Musik doch jenen fröhlich-naiven, sinnlichen Humanismus, wie er zu der Zeit in den Salons der aufgeklärten Wiener Aristokratie verbreitet war. Die haben das Werk bestellt und bezahlt, ergo schafften sie auch an.

Gerade dieser Aspekt kam in der Aufführung leider entschieden zu kurz, von der visionären Kraft der Musik und ihrer musikdramatischen Modernität war bei Haitink wenig zu spüren. Schon die einleitende Illustration des Chaos, der Welt im Urzustand, klang seltsam geordnet und domestiziert und auch für die Natur(ereignis)schilderungen wie Donner, Blitz und Sturm hätte ich mir eine farbenreichere, dramatischere, suggestivere Gangart gewünscht. Haydns hier zelebrierter extremer Hang zu lautmalerischen Schilderungen war schon 1798 nicht unumstritten, gerade bei der Erschaffung der Tierarten klang an diesem Abend manches eher nach Familiengottesdienst und auch in den Jubelgesängen von Adam und Eva machten sich gewisse Längen bemerkbar.

Von den drei Gesangssolisten begeisterte vor allem Mark Padmore, der derzeit beste und künstlerisch interessanteste englische Tenor; sorry, liebe Bostridge-Fans, ist einfach so. Die Stimme besitzt im Piano eine exquisite Süße, in der Mittellage einen warmen und doch sehr maskulinen und körperhaften Klang und in der Tiefe ein wunderbares baritonales Fundament. Der Vortrag ist differenziert, textdeutlich und von starker gestalterischer Intensität. In Sachen Wortgestaltung und Lebendigkeit war Hanno Müller-Brachmann ihm ebenbürtig, stimmlich hatte der Bariton dagegen nicht seinen Glanztag erwischt; die Stimme rutschte einige Male aus dem Fokus, neben kraftvollen, kernig gesungenen Passagen unterliefen ihm immer wieder auch mürbe und brüchige Töne. Die Sopranistin Camilla Tilling bringt angemessen lyrisches Material mit und bewältigt den Part tadellos, die manchmal etwas sehr neckisch-burschikose Attitüde ist Geschmackssache… Große Begeisterung im ausverkauften Herkulessaal für einen schönen vorweihnachtlichen Ohrenschmaus.

Bayerische Staatsoper: “Tosca” – 13.12.2013

Ja, is denn heid scho Weihnachten? So ähnlich wie in dem bekannten Werbespot dürften die Staatsopern- Besucher am Freitagabend vor dem dritten Advent reagiert haben als vor der Vorstellung Hausherr Nikolaus Bachler vor den Vorhang trat und mit stolzgeschwellter Brust als Ersatz für den ursprünglich vorgesehenen italienischen Mittelklasse-Barden keinen geringeren Ersatz als Publikumsliebling Jonas Kaufmann aus dem Hut zog… Für die zahlreichen Fans des wuschelköpfigen Lokalmatadoren war die Bescherung damit tatsächlich um anderthalb Wochen vorverlegt, für Kaufmann selbst war der Abend gleich ein doppeltes Heimspiel; schließlich hatte er den temperamentvollen Maler und Freiheitskämpfer Mario C. aus R. bereits in der Premiere im Juli 2010 sowie in der Wiederaufnahme im Oktober 2012 verkörpert. Dass er sich dies mitten in den Endproben für sein Rollendebüt in Verdis Forza del destino in gut einer Woche noch angetan hat, verdient natürlich größten Respekt und sagt eine Menge über das enge, beinahe familiäre Verhältnis des Hauses und des Publikums zu seinen Stars aus. Dass unter diesen Umständen der eine oder andere Spitzenton nicht ganz stressfrei klang, ist nachvollziehbar, aber auch unabhängig davon gehört Kaufmann zu den Künstlern, die den Unterschied machen und einen Opernabend musikalisch und darstellerisch prägen. Dabei fügte er sich auch ohne Probe nahtlos in die Vorstellung ein, seine Interpretation war wie gewohnt sinnlich, suggestiv und hochmusikalisch und gerade im dritten Akt wartete er, im Zusammenspiel mit dem Dirigenten, mit einer Vielzahl feiner Farb- und Ausdrucksnuancen auf. Diesmal allerdings führte sein Auftritt auch zu einer gewissen Verwerfung in Form eines deutlichen Qualitätsunterschiedes zum restlichen Ensemble. Am ehesten konnte noch Catherine Naglestad in der Titelpartie mithalten. Die Amerikanerin wurde ihrem Renommée als leidenschaftliche und ausdrucksstarke Interpretin einmal mehr gerecht, allerdings musste die darstellerische Intensität diesmal auch eine Reihe stimmlicher Unebenheiten kaschieren, gegen Ende hatte sie zudem auch mit Konditionsproblemen zu kämpfen. Insgesamt bestätigte sich der Eindruck, dass es Rollen gibt, die der Künstlerin besser in der Stimme liegen. Ein glatter Ausfall war hingegen in der Rolle des Scarpia zu beklagen: Scott Hendricks ist kein bigotto satiro, kein kaltherziger Psychopath in der Maske des Gentleman, sondern ein graumäusiger mürrischer Schreibtischtäter. Dass vor ihm „ganz Rom gezittert“ haben soll, vernahm man mit Erstaunen, glauben tat man es nicht. Aber auch gesanglich blieb Hendricks um Klassen unter dem, was an einem First Class-Opernhaus gefragt ist, die Stimme ist für das Nationaltheater mindestens eine Nummer zu klein, klingt heiser, resonanzarm und in Artikulation und Phrasierung schmerzhaft unitalienisch. Ach ja, noch ein Tipp: man wirkt NICHT bedrohlicher, wenn man alle drei Minuten zwischen zwei Phrasen einen bemüht dreckigen J.R. Ewing-Lacher vom Stapel lässt…!  Das BSO-Hausensemble war diesmal mit Goran Jurić (Angelotti), Francesco Petrozzi (Spoletta) und Christian Rieger (Sciarrone) solide, mit Christoph Stephinger (Mesner) ausbaufähig vertreten, der Staatsopernchor entfaltete im Te Deum des ersten Aktes beeindruckende Klangfülle.

Tosca BSOFoto: Wilfried Hösl

Nun dürften allerdings die wenigsten Besucher wegen der Sängerbesetzung gekommen sein und erst recht nicht wegen der banalen szenischen Einrichtung von Luc Bondy, sondern einzig und allein, um zu hören, ob der neue Chef Kirill Petrenko auch Puccini kann und was er aus dieser vielstrapazierten Partitur herauszaubern würde. Um es gleich vorweg zu sagen: schier Unglaubliches. Puccini ist ja, gerade oltr’alpe, also nördlich des Alpenhauptkamms, immer noch ein sträflich unterschätzter Komponist, an dem sich Generationen von Dirigenten aufs Übelste versündigt haben. Mit dieser Tradition des Schreckens, mit der Verschnulzung und Überzeichnung seiner Musik, macht Petrenko konsequent Schluss. Er zeigt uns Puccini weniger als den Nachfolger Verdis, sondern in erster Linie als Zeitgenossen von Strauss, Mahler und Schreker; als einen ambitionierten und hochinnovativen Musiker an der Nahtstelle zweier Jahrhunderte. Tosca so wie Petrenko sie dirigiert, ist eben kein „Quälodramma“ (wie es Richard Strauss in seiner so kollegialen Art ausdrückte) und kein shabby little shocker, sondern eine moderne Partitur von immenser emotionaler Sprengkraft. Petrenko kann es sich leisten, beinahe grenzwertig breite tempi anzuschlagen, da er diese in jedem Moment mit Sinn und Spannung füllt. Der Klang ist körperhaft und opulent, dabei aber vollkommen entfettet und ungeheuer differenziert, unsentimental und transparent. Die Härten und Schroffheiten der Musik werden kein bißchen abgeschliffen oder geglättet, so können die lyrischen Momente einen ungeahnten poetischen Zauber entfalten. Puccini ist Dialektik in Musik, Liebe, Leidenschaft und Tod als bestimmende Faktoren menschlichen Lebens und Strebens verschmelzen hier zu einem ganz speziellen Lebensgefühl, zu einer unverwechselbaren musikalischen Farbe. Innigste Affekte blühen im Schatten von Diktatur und Terror, umgekehrt bringen sie aber auch eine leuchtend heroische Kraft hervor. Solche magischen Augenblicke gibt es viele in Petrenkos Tosca-Dirigat, beglückend viele. Damit zurück zur Eingangsfrage… Ja, irgendwie schon!

Münchner Volkstheater: “Julius Cäsar” – 29.11.2013

Bekanntlich stammen die Shakespeare-Dramen in Wirklichkeit gar nicht von William Shakespeare, sondern von einem vollkommen unbekannten Autor gleichen Namens… Dieser in Theaterkreisen noch immer beliebte Witz zielt natürlich darauf ab, dass man nach wie vor über Leben und Schaffen eines der populärsten Dramatiker überhaupt kaum etwas Gesichertes weiß. Dafür ist der Julius Cäsar das vermutlich beste Beispiel; wenn man den Text wirklich genau liest und sich die Sprache auf der Zunge und am Rachen zergehen lässt, kommt man kaum um die Feststellung herum, dass dieses Stück von mindestens zwei verschiedenen Autoren stammen muss, die sprachlichen und stilistischen Diskrepanzen sind einfach zu groß, um noch als Stilmittel oder Formschwankung durchzugehen.

Solchen Erwägungen geht man am Münchner Volkstheater von vornherein aus dem Weg, indem man ohnehin alles anders macht. Der junge ungarische Regisseur Csaba Polgár hat für seine Inszenierung das Stück radikal entkernt und in eine Art Steinbruch verwandelt, aus dem er einzelne Marmorbröckchen entführt und in eine Art existenzialistische Polit-Groteske mit Slapstick-Elementen eingearbeitet hat, „nach William Shakespeare“ steht denn auch auf den Karten; nicht, dass nachher wieder einer meckert! Polgár und seine Dramaturgen Gergely Bánki und Ildiko Gáspár haben den Text nicht nur radikal auf knackige 1 3/4 Stunden mit ohne Pause zusammengestrichen und von ursprünglich 42 auf nur noch 12 Rollen eingedampft, sondern auch mit zig Zutaten, Extempores und Kommentaren verrührt. Das ist im Einzelfall herrlich schnoddrig und amüsant, zuweilen aber auch eher albern und aufgesetzt, der Originaltext wirkt in diesem Zusammenhang oftmals wie eine Behauptung oder ein Zitat, in jedem Fall aber wie in Anführungszeichen gesetzt. Auch stehen vier jener zwölf Rollen so gar nicht im Stück, sondern bilden eine Art Chor der antiken Tragödie, ein unabhängiges Ensemble von Kommentatoren. In Putzfrauen- und Hausmeisterkluft schrubben und wienern sie Boden und Wände, unterhalten sich dabei auf Ungarisch und singen wunderbare vierstimmige Kanons und Madrigale; das Repertoire reicht von gregorianischen Chorälen bis hin zu The Final Countdown. Caroline Adler, Katalin Szilágyi, Richárd Barbarás und Támas Herczeg machen das bisweilen so stoisch und knochentrocken, dass es einen schier schmeißt vor Lachen.

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Ursula Maria Burkhart (Cäsar) mit landestypischem Pelztier (Foto: Arno Declair)

Spielen tut das Ganze auch nicht in Rom, schon gar nicht im alten, sondern in einem schwer definierbaren, leicht schmuddeligen Festsaal mit unverkennbar ostzonalem Charme, dessen Wände zur Gänze mit Jagdtrophäen und ausgestopftem Viehzeug behängt sind (Bühne: Lili Izsák). Wenn der Vorhang aufgeht, stehen Freunde, Römer und Landsleute in Habacht-Stellung inmitten dieser seltsamen Location und warten. Sie warten lange. Das nervt. Dann endlich erscheint Cäsar! Und ist… man ahnt es schon, eine Frau. Zu Shakespeares Zeit wurden bekanntlich auch alle Frauenrollen von Männern gespielt, in letzter Zeit hat das Regietheater den Spieß umgedreht und besetzt Männer mit Frauen. Macbeth hat es schon getroffen, Shylock und sogar König Lear. Und jetzt auch Cäsar. So what? Worin der ästhetische oder inhaltliche Mehrwert solcher Travestien besteht, habe ich noch nie verstanden. Jedenfalls baut sich die Cäsarin an der Rampe auf und lächelt gefühlt jeden Zuschauer in den ersten fünf Reihen einzeln an. Das nervt. Dann beginnt sie, ihre Pumps an einer Schuhputzmaschine auf Hochglanz zu trimmen… erst den linken, dann den rechten. Das nervt jetzt richtig. So ein Beginn ist normalerweise für einen Theaterabend bereits der Todesstoß. Hier allerdings entwickelt sich dann doch in burlesk-überdrehtes und durchaus originelles Spektakel, das zumindest nie langweilig wird. Allerdings leider auch weniger erhellend als eigentlich erhofft. Schließlich kommt das Regieteam aus Ungarn, einem Land also, dessen innenpolitische Situation dem Rom Cäsars nicht unähnlich ist, in dem die Demokratie nur noch eine täglich weiter ausgehöhlte Fassade und der Sturz in die Diktatur mehr als nur eine reale Option ist. Schon Shakespeare selbst hat sich in diesem Werk weit weniger für die Herrscherfigur selbst, als vielmehr für die Strahlkraft der Macht und deren Kehrseite interessiert. Entsprechend stark liegt der Fokus auf den Verschwörern. Diese Akzentuierung hat Polgár sogar noch weiter zugespitzt, schon nach nicht mal der Hälfte des Abends findet Cäsar ihr Ende – mit dem Kopf in die rotierende Schuhputzmaschine gestopft, ebenso wie später Brutus; ein Moment zwischen Inspektor Barnaby und Tarantino. Das Verschwörer-Trio Cassius, Brutus und Casca ist ein wirrköpfiger, infantiler Haufen von Posern und Maulhelden, angeführt von Cassius – und dieser, der einzige echte Mann nach antikem Verständnis, ist hier ebenfalls mit einer Frau besetzt. Eine bemerkenswerte Pointe, zudem werden erotische Begierden und Lockungen hier ganz knallhart als Mittel zu Machterwerb und –erhalt, zu Manipulation und Obsession inszeniert. Das hat man so tatsächlich noch nicht gesehen. Und die hochattraktive Mara Widmann nutzt die Chance straight ahead, spielt mit vollem Einsatz und bietet auch in Sachen Textbehandlung und Bühnenpräsenz die mit Abstand überzeugendste Performance des Abends; beinahe außer Konkurrenz. So sehen keine Sieger aus und die Opposition hat zwar die Macht, aber keinen blassen Schimmer, was damit anzufangen wäre. Dementsprechend qualvoll ist der Verfall jener Macht und aller Allianzen, eine Lösung ist nicht in Sicht und das Spiel könnte, mit anderem Personal, gleich von vorne beginnen. Eine von tiefem Misstrauen in politische und gesellschaftliche Strukturen getragene Haltung, wie sie derzeit für die Arbeiten vieler Regisseure aus Osteuropa typisch ist. Und in diesem Punkt ist dann doch mehr Shakespeare drin in der Packung, als man auf den ersten Blick meint. Polgárs Ansatz geht mit dem Text sicherlich ruppig um, manches mag man als etwas respektlos empfinden, den Grundgestus dieser Geschichtstragödie verfehlt er nicht. Dennoch vermag die Umsetzung am Ende des Tages nicht vollauf zu überzeugen, dafür ist sie über weite Strecken nicht konsequent genug. Eine solche Deutung müsste noch härter sein, noch greller, noch schmutziger, von richtig anarchischem Witz und Mut zur Groteske… da ist die Schuhputzmaschine ein guter Anfang, mehr aber auch nicht.

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Als Verschwörer sieht man besser! – Mara Widmann (Cassius) und Jean-Luc Bobert (Brutus) – Foto: Arno Declair

Leider überträgt sich diese szenische Indifferenz auch etwas auf das Ensemble. Außer Mara Widmann überzeugt vor allem der sehr agile Pascal Riedel als Marc Anton, der mit einer gekonnten Mischung aus Wurstigkeit und Pathos auch seine berühmte Trauerrede zu einem Kabinettstück macht. Ansonsten wird gerne mal sehr dick aufgetragen und chargiert, dass die Auslegeware Wellen wirft , die Charaktere bleiben indes bloße Karikaturen ihrer selbst und die originalen Textpassagen kommen so hölzern rüber wie beim Vorsprechen für die Schauspielschule. Da ist man hier am Hause eigentlich ungleich besseres gewohnt… Auch Cäsar selbst gewinnt in der Darstellung durch Ursula Maria Burkhart kaum Profil; warum man ausgerechnet gegen diese freundliche, etwas unbeholfene Dame ein Mordkomplott schmiedet, bleibt unverständlich.

Ein kurzweiliger Theaterabend, der aber nicht wirklich ins Zentrum führt.