Der Todestisch von Calatrava oder die schwarze Romantik des Giuseppe Verdi
Es gibt bekanntlich auf Erden ignorante und nörgelige Zeitgenossen, welche die Oper an sich für einen Ausbund an Abstrusität und Unglaubwürdigkeit halten. Diese bedauernswerten Geschöpfe weisen dann besonders gerne auf Werke wie Ponchiellis La Gioconda oder eben auch Verdis La forza del destino. Sicherlich, auch der geneigte Opernfreund muss bei der Lektüre des Librettos von Francesco Maria Piave einmal tief durchatmen, denn die Häufung von handlungslogischen Ungereimtheiten und dramaturgisch widersinnigen Konstellationen in dieser Oper, die eigentlich besser La forza del caso, also Die Macht des Zufalls, heißen müsste, ist selbst innerhalb dessen, was in dieser Kunstform locker weggesteckt wird, ein Stich in die Nase. Mit der Ratio lässt sich hier folglich nichts ausrichten, vielmehr belegt die aberwitzige Verkettung tragischer Zufälle und unheilvoller Überraschungen, wie wenig der Mensch gegen das sinnlose Wüten der Geschicke ausrichten kann; das ist schwarze Romantik pur. Das kann und darf nicht rational hinterfragt werden, es muss am Abend auf der Bühne einfach stattfinden. Und das tut es mit aller Macht des Schicksals, es geht um nichts weniger als um eine die bürgerlichen Normen sprengende Liebe, um Rivalität und Hass, Rassismus und Standesdünkel, Krieg und Verwüstung – im physischen wie im seelischen Sinne – Mord und Totschlag. Mit einem Wort: die perfekte Weihnachtsoper für die ganze Familie.
Da brennt nicht nur der Baum… (Foto: Wilfried Hösl)
Und natürlich hatte die Bayerische Staatsoper bei dieser Weihnachtspremiere den Gabentisch wieder reich eingedeckt mit illustren Namen, schon der Blick auf den Besetzungszettel ließ die Melomanengesichter in seligem Glanze erstrahlen. Also, keine lange Vorrede mehr, steigen wir gleich mal ein in die fällige Lobpreisung einer Besetzung, wie man sie in dieser überragenden Qualität und Homogenität heute so bald kein zweites Mal antreffen wird; da müsste man schon ganz tief hinuntersteigen in die Archive. Und das soll jetzt nicht die übliche langweilige Konfrontation des Früher mit dem Heute sein, das bringt schließlich niemanden weiter und jede Epoche hat eben ihre prägenden Interpreten. Solche sind Anja Harteros und Jonas Kaufmann bekanntlich in besonderem Maße; als Lohengrin und Elsa, Don Carlo und Elisabetta sowie zuletzt als Manrico und Leonora agierten sie schon gemeinsam auf dieser Bühne und nun also in einem doppelten Rollendebüt als Alvaro und wiederum Leonora. Eine Konstellation wie Verdi sie liebte: die höhere Tochter und der gesellschaftliche Outlaw, die empfindsame und tief melancholische Weiblichkeit und der italienische Macho und romantische Desperado, das knalligste Gemisch seit Nitro und Glyzerin. Genau diese Konstellation ist es, die gerade diese beiden begnadeten Sängerpersönlichkeiten so perfekt umsetzen und verkörpern können wie kaum jemand anderes. Dass beide ihre Rollen zum ersten Mal überhaupt sangen, konnte man angesichts der stimmlichen wie gestalterischen Intensität und Bravour eigentlich kaum glauben. Bei Anja Harteros‘ Leonora fasziniert und überwältigt, wie auch bei ihrer Elisabetta, der tief im Inneren lodernde und schließlich zerstörerisch ausbrechende Konflikt zwischen Melancholie, Verletzlichkeit und Leidenschaft. Auf den ersten Blick wirkt diese Leonore vielleicht introvertierter und beherrschter als die Interpretation manch anderer Kollegin, aber Harteros legt in ihren Gesang alle widersprüchlichen Affekte und Leidenschaften, die man sich nur vorstellen kann, das ist Feuer und Eis zugleich, zärtliche Hingabe und Sehnsucht, aber auch unbedingte Leidenschaft und innere Stärke, eine Frau die ihren Weg geht ohne Kompromisse. Aufgesetzte Effekte, Drücker und Schluchzer hat diese wunderbare Sängerin nicht nötig, da liegt alles in der Stimme, vom sanftesten, entrückt schwebenden pianissimo bis hin zum furios strahlenden Spitzenton. Dass sie das gesamte technische und stilistische Arsenal des Verdi-Gesangs in Perfektion beherrscht und jede Phrase mustergültig gestaltet und mit sinnlicher Glut erfüllt ist, versteht sich bei dieser Ausnahmesängerin von selbst. Das Premierenpublikum feierte sie entsprechend mit einer geradezu die Grundmauern erschütternden dimostrazione d’affetto. Nicht nur zur Weihnachtszeit ist jeder Abend mit Anja Harteros ein Geschenk! Dass der Alvaro eine großartige Partie für Jonas Kaufmann sein würde, stand zu erwarten und er löste diese auch in vollem Umfang ein. Mit öliger, schulterlanger Bombenleger-Frisur, hautengen Jeans und monströser Gürtelschnalle gab er schon optisch einen Latino-Proll wie aus dem Bilderbuch und untermauerte dies auch mit dem entsprechenden Bewegungs- und Gestenrepertoire. Dass dieser Alvaro ein wandelnder Konventionsbruch ist, der mit seiner geballten Andersartigkeit in die bürgerliche Welt der Calatrava Family einbricht, übersetzte sich sofort. Kein Traumschwiegersohn, sondern ein unverschämt viriler Halunke, selbstbewusst, fordernd, stolz und unbeirrt. Kaufmann verkörperte dieses singende Testosteronmonster mit spürbarem Spaß an der Freud, gab der Rolle aber mit seinem farbenreichen und differenzierten Vortrag ihre Schichtungen mit auf den Weg. Er verfügt über die adäquate Stimmfarbe, vereint jugendlich-sinnliche Frische und mediterranes Fluidum mit klanglicher Reife und intelligenter Gestaltung. Auch die früher oft unschön herausstechenden und stilistisch eigenwilligen piani hat er mittlerweile technisch im Griff und bindet sie sauber in die Gesangslinie ein; sogar in der technisch heiklen Übergangslage, dem sogenannten passaggio, etwa im Mittelteil der berühmten Arie im dritten Akt. Leonoras rachsüchtiger Bruder, der Edel-Wüterich Don Carlo di Vargas, ist eine darstellerisch heikle Rolle, die sehr zu Überzeichnung und Karikatur einlädt. Ludovic Tézier widerstand der Versuchung bravourös und flößte dennoch Furcht ein vor der destruktiven Energie und der Brutalität des Charakters. Stimmlich bot der französische Bariton eine Glanzleistung, die denjenigen von Harteros und Kaufmann jederzeit ebenbürtig war; der Künstler besitzt ein sehr gepflegtes Material und führt die Stimme weich, kantabel und hochmusikalisch, aber eben auch mit jenem metallischen Kern, der für die großen dramatischen Ausbrüche unerläßlich ist. In Sachen Eleganz und kultivierter Linienführung fühlte man sich streckenweise an Piero Cappuccilli erinnert, auch wenn Téziers Timbre noch eine Spur weniger individuell und profiliert erscheint. Vitalij Kowaljow war gleich in zwei Partien zu erleben, als Marchese und Padre Guardiano. Der tiefere Sinn dieser Doublette erschloss sich mir nur bedingt, zwar sind beide dominante (Über)väter, aber doch eindeutig zwei verschiedene Personen. Mit Kowaljows sattem, voluminösen Bass waren beide jedenfalls bestens besetzt, der Gestaltungsspielraum des Sängers ist hier rollenbedingt nun mal eher überschaubar. Kernig und prägnant fiel auch der Auftritt von Renato Girolami als Melitone aus, der dankenswerterweise ohne die üblichen aufgesetzten Buffo-Klischees auskam. Zu kämpfen hatte dagegen Nadia Krasteva, zum einen mit den vokalen Tücken der beinahe unsingbaren Preziosilla-Partie – tatsächlich habe noch nie eine wirklich überzeugende Interpretin erlebt – sondern auch mit dem Umstand, dass auch der Regie zu dieser Figur absolut nichts Sinnstiftendes eingefallen ist. Christian Rieger (Alcalde), Heike Grötzinger (Curra) und Francesco Petrozzi (Trabucco) blieben, sportlich ausgedrückt, relativ unauffällige Ergänzungsspieler.
Zentrum des Abends: Anja Harteros als Leonora (Foto: Wilfried Hösl)
Soweit also eine wirklich schöne Bescherung und das erhoffte Opernfest. Leider ist jetzt allerdings Schluß mit der Schwärmerei, denn in den Disziplinen Dirigat und Inszenierung bot der Premierenabend höchstens Durchschnittliches. Laut und wuchtig bohrte Dirigent Asher Fisch die Einleitungsakkorde mitten hinein in die kribbelige Premierenstimmung, die Ouvertüre klang zwar wenig subtil und eher holzschnittartig, wurde aber technisch zumindest sauber gemeistert… Eine Sternstunde des Staatsorchesters kündigte sich nicht an und in der Tat zeigten sich die Kollegen auch in der Folge eher werktäglich denn vorweihnachtlich aufgelegt. Das war schon einigermaßen in Ordnung, alles zusammen und mit gesunder Lautstärke gespielt, aber an ein Spitzenorchester hat man doch etwas andere Ansprüche. Da fehlte es an Farben und instrumentalen Finessen, der Klang wirkte zu kompakt, zu wenig transparent und auch Verdis so charakteristisches furioses Brio und seine musikantische Leidenschaftlichkeit waren eher zu erahnen als wirklich zu erleben. Dafür ist Asher Fisch wohl auch die falsche Adresse, zu breit und schwerfällig sind seine tempi, immer wieder reißt der Spannungsbogen ab und er leistet sich, vor allem vor der Pause, regelrechte Absenzen, wo man über zehn Minuten oder noch länger das Orchester kaum noch wahrnimmt. Wesentlich besser kam der Staatsopernchor (Einstudierung: Sören Eckhoff) mit dieser Gangart zurecht und nutzte das langsame Zeitmaß zur vokalen Entfaltung. Dennoch: nach diesem Abend hält sich die Vorfreude auf die zahlreichen Opernabende, die Fisch diese Saison hier noch dirigieren soll, in engen Grenzen.
Licht aus, Messer raus! – Jonas Kaufmann (Alvaro) und Ludovic Tézier (Carlo di Vargas) – Foto: Wilfried Hösl
Während man vom Dirigat nicht viel mehr erwartet hatte, geriet die Inszenierung von Martin Kušej zu einer ausgesprochenen Enttäuschung. Dabei hatte es durchaus verheißungsvoll begonnen: während der durchinszenierten Ouvertüre und im ersten Bild der Oper zeigt uns der Regisseur eine packende, kammerspielartig konzentrierte Innenansicht des verkrusteten Familienclans der Calatrava; streng, elitär, dogmatisch und angedeuteterweise im Mafia-Milieu heimisch; eine präzise Studie der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den folgenden Ausbruch Leonoras und die gesellschaftlichen Verwerfungen der Handlung insgesamt nachvollziehbar macht. Leider hält die Regie dieses Niveau nicht lange durch, bereits ab dem zweiten Bild wird die Umsetzung immer beliebiger und die offenbar angestrebte Verlagerung der Handlung in die modernen Vereinigten Staaten bringt keinen interpretatorischen Mehrwert oder Erkenntnisgewinn. Ob es sich nun um die pittoresk qualmenden Trümmer von 9/11, die Folterkeller von Abu Ghraib oder die aseptische Kleinbürgerlichkeit freikirchlicher Sekten-Fuzzis handelt, nichts davon führt wirklich ins Zentrum. Dass Kušej ein guter Regisseur ist und sein Metier beherrscht, merkt man an der Personenführung, er hat definitiv mit seinen Stars intensiv gearbeitet und sie sind ihm offensichtlich auch gefolgt, als genuiner Schauspielregisseur pflegt er einen kleinteiligen, berührungsintensiven Regiestil von hoher szenischer Dichte, der trotz aller konzeptionellen Unschärfe immer wieder durchkommt. Komplett misslungen sind ihm dagegen die Massenszenen, die Chorauftritte und die Kriegsszenen; der dritte Akt ist szenisch der absolute Tiefpunkt des Abends. Eine alberne Plastik-Ruine mit bemerkenswert symmetrischen Einschlagskratern (Bühne: Martin Zehetgruber) und bevölkert von Statisten in Designer-Lumpen (Kostüme: Heidi Hackl), die händeringend “der Menschheit ganzes Elend” spielen, dazu rotes Licht, Rauch und jede Menge Kunstblut. Madame Tussaud’s lässt grüßen. Das ist einfach nur billig, trivial und ärgerlich, zumal sich Kušej hier einige handwerkliche Klöpse leistet, die einem solchen Profi einfach nicht passieren dürfen. Ähnlich platt ist auch die Orgie im Feldlager, die aus den kollektiven Verrenkungen, dem Jucken und Kratzen und den Plastikflaschen besteht, die man aus zig anderen Kušej-Inszenierungen kennt. Überhaupt besteht der zweite Teil des Abends zu einem erheblichen Teil aus Selbstzitaten, wieder einmal wird die Sopranistin, in diesem Fall ihr Double, unter Wasser getaucht und seltsamerweise steht auch mitten auf dem Schlachtfeld der braune IKEA-Tisch, der schon bei Calatravas und den Sektierern stand und auf dem später Melitone seine Essenspakete füllen und Leonora ihr Leben aushauchen wird… Ein offenbar lebensgefährliches Universalmöbel, der Todestisch von Calatrava sozusagen. Lieber Martin Kušej – bei aller persönlichen Wertschätzung Ihrer Arbeit, das ist konzeptionell und als Theaterereignis einfach zu dünn. Aber wenn Sänger mal einen schlechten Tag haben dürfen, dann gilt das auch für Regisseure.