Wenn zu Beginn eines Opernabends vor dem Dirigenten der Intendant auftritt, bedeutet das meist nichts Gutes. Und tatsächlich hatte Hausherr Benedikt Stampa schlechte Nachrichten: der Kapitän war von Bord gegangen, Yevgenij Nikitin hatte am Vormittag die Segel gestrichen und sich unpässlicherweise abgemeldet. High Noon also… was tun? Die entsprechenden Fachkräfte sind bekanntlich limitiert und nicht nach Belieben verfügbar. Hier hatte man allerdings Glück im Unglück und zog mit Egils Silins einen namhaften Ersatzkapitän aus dem Hut. Silins war am Abend zuvor noch in Bukarest als Wanderer unterwegs und gab nun nicht nur den fliegenden, sondern gar den einfliegenden Holländer; ein Stunt der Sorte “Nur die Harten kommen in den Garten”. Unter diesen Umständen hätte man für manches Mißverständnis und Knarren im Gebälk Verständnis gehabt, aber Silins brauchte die Nachsicht ebenso wenig wie den Klavierauszug, den er als Notfallvorsorge mit sich führte. Mit seinem voluminösen, kernigen Bassbariton sang er einen eindrucksvollen Holländer und schöpfte stimmlich aus dem Vollen, sicher und unbeirrt. Unglaublich, aber da gab es keinerlei Wackler, Unstimmigkeiten oder Tempodifferenzen, Silins kam, sang und siegte auf der ganzen Linie.
Das künstlerische Ereignis des Abends war allerdings nicht vokaler, sondern orchestraler Natur. Mit dieser Aufführung feierte Yannick Nézet-Séguin den Beginn einer dreijährigen Residenzkünstlerschaft mit dem Konzerthaus unter dem trendig-flotten Titel “The Yannick Experience”. Und wenn es so weitergeht, dann stehen dem ortsansässigen Publikum drei spannende Spielzeiten ins Haus, der Auftakt geriet spektakulär und machte in jedem Takt deutlich, warum der 38jährige Kanadier zu den am höchsten gehandelten Maestri (nicht nur) seiner Generation gehört. Mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra – bei den Bläsern nicht immer vollkommen patzerfrei, aber mit wunderbar opulentem, erdigen Klang – erzählt Nézet-Séguin einen veritablen Opernthriller. Ich bin normal nicht der größte Fan konzertanter Opernaufführungen, aber hier habe ich kaum einmal die Szene vermisst, emotional und gestalterisch war alles da. Auch im vergleichsweise breitem Tempo erreicht er eine knisternde Spannung und phasenweise atemberaubende Intensität, die kurzen Orchesterphrasen in der Einleitung des Holländer-Monologs oder das große Duett im zweiten Akt waren absolute magic moments, ich kann mich eigentlich nicht erinnern, diese Oper live schon jemals so aufregend, so suggestiv und sprachmächtig dirigiert gehört zu haben. Analog zur dramatischen Handlung zog Nézet-Séguin im dritten Akt das Tempo gewaltig an und ließ die Chorszenen und die letzte große Konfrontation der Bürgerschaft mit dem Geistwesen mit der entfesselten Leidenschaft eines sinfonischen Tropensturms ausspielen. Großen Anteil an den Klangfluten hatte auch der phänomenale Chor der Nederlandse Opera; hier war nicht nur ein singender Holländer im Einsatz, sondern ganz viele davon…!
Gefeiert: Egils Silins und Yannick Nézet-Séguin (Foto: Petra Coddington)
Leider hatte der Profoss vom Casting-Büro beim Anheuern der Solisten-Crew kein sonderlich glückliches Händchen gehabt und den einen oder anderen stimmlichen Leichtmatrosen an Bord geholt… Das galt nicht für Franz-Josef Selig, der einen sehr soliden Daland sang und auch Agnieszka Zwirko als Mary und Torsten Hoffmann als Steuermann agierten rollendeckend, auch wenn ich mir von letzterem noch ein Quentchen mehr an lyrischem Schmelz gewünscht hätte. Emma Vetter als Senta rief schon im Auftreten und Kostümierung gewisse Assoziationen an ihre schwedische Landsfrau, die Ufa-Schauspielerin Kristina Söderbaum auf, jene trug ja bekanntlich den wunderbar gscherten Spitznamen „Reichswasserleiche“… Aber Spaß beiseite und Ernst her: in über dreißig Jahren Opernbesuche erinnere ich mich nicht, jemals eine so desinteressierte und teilnahmslose Darbietung einer Sängerin erlebt zu haben. Ohne jegliche Kommunikation mit Partnern oder Publikum stand sie da wie festgemauert, den Blick starr auf die Podiumskante gerichtet und lieferte mit stählernem, harten und unflexibel geführten Sopran ihre Töne ab, die Höhen kamen zudem auch noch größtenteils zu tief. Die Lust auf weitere Begegnungen hält sich eher in Grenzen. Rein stimmlich war die Leistung von Frank van Aken als Erik noch problematischer, die Stimme klang brüchig und belegt, lediglich die obere Lage verströmte noch hin und wieder etwas tenoralen Glanz. Allerdings sei ausdrücklich honoriert, dass er im Gegensatz zu seiner Partnerin wusste was er sang und sich um einen differenzierten Vortrag bemühte.
Ein durchaus amüsantes Bild gab das Ensemble übrigens auch in modischer Hinsicht ab, die Skala reichte von Abendkleid (Mary) und Frack (Holländer) über Theaterfundus (Senta), schwarzen Anzug (Daland), Konfirmanden-Sakko (Steuermann) bis hin zum legeren Bequem-Outfit (Erik). Kleiderordnung? Wird sowieso völlig überschätzt. Sängerisch also ein Abend mit vielen Facetten und Überraschungen und orchestral ein Fest. Auf die nächsten „Yannick Experiences“ kann man sich nur freuen!