Konzerthaus Dortmund: “Der fliegende Holländer” – 20.9.2013

Wenn zu Beginn eines Opernabends vor dem Dirigenten der Intendant auftritt, bedeutet das meist nichts Gutes. Und tatsächlich hatte Hausherr Benedikt Stampa schlechte Nachrichten: der Kapitän war von Bord gegangen, Yevgenij Nikitin hatte am Vormittag die Segel gestrichen und sich unpässlicherweise abgemeldet. High Noon also… was tun? Die entsprechenden Fachkräfte sind bekanntlich limitiert und nicht nach Belieben verfügbar. Hier hatte man allerdings Glück im Unglück und zog mit Egils Silins einen namhaften Ersatzkapitän aus dem Hut. Silins war am Abend zuvor noch in Bukarest als Wanderer unterwegs und gab nun nicht nur den fliegenden, sondern gar den einfliegenden Holländer; ein Stunt der Sorte “Nur die Harten kommen in den Garten”. Unter diesen Umständen hätte man für manches Mißverständnis und Knarren im Gebälk Verständnis gehabt, aber Silins brauchte die Nachsicht ebenso wenig wie den Klavierauszug, den er als Notfallvorsorge mit sich führte. Mit seinem voluminösen, kernigen Bassbariton sang er einen eindrucksvollen Holländer und schöpfte stimmlich aus dem Vollen, sicher und unbeirrt. Unglaublich, aber da gab es keinerlei Wackler, Unstimmigkeiten oder Tempodifferenzen, Silins kam, sang und siegte auf der ganzen Linie.

Das künstlerische Ereignis des Abends war allerdings nicht vokaler, sondern orchestraler Natur. Mit dieser Aufführung feierte Yannick Nézet-Séguin den Beginn einer dreijährigen Residenzkünstlerschaft mit dem Konzerthaus unter dem trendig-flotten Titel “The Yannick Experience”.  Und wenn es so weitergeht, dann stehen dem ortsansässigen Publikum drei spannende Spielzeiten ins Haus, der Auftakt geriet spektakulär und machte in jedem Takt deutlich, warum der 38jährige Kanadier zu den am höchsten gehandelten Maestri (nicht nur) seiner Generation gehört. Mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra – bei den Bläsern nicht immer vollkommen patzerfrei, aber mit wunderbar opulentem, erdigen Klang – erzählt Nézet-Séguin einen veritablen Opernthriller. Ich bin normal nicht der größte Fan konzertanter Opernaufführungen, aber hier habe ich kaum einmal die Szene vermisst, emotional und gestalterisch war alles da. Auch im vergleichsweise breitem Tempo erreicht er eine knisternde Spannung und phasenweise atemberaubende Intensität, die kurzen Orchesterphrasen in der Einleitung des Holländer-Monologs oder das große Duett im zweiten Akt waren absolute magic moments, ich kann mich eigentlich nicht erinnern, diese Oper live schon jemals so aufregend, so suggestiv und sprachmächtig dirigiert gehört zu haben. Analog zur dramatischen Handlung zog Nézet-Séguin im dritten Akt das Tempo gewaltig an und ließ die Chorszenen und die letzte große Konfrontation der Bürgerschaft mit dem Geistwesen mit der entfesselten Leidenschaft eines sinfonischen Tropensturms ausspielen. Großen Anteil an den Klangfluten hatte auch der phänomenale Chor der Nederlandse Opera; hier war nicht nur ein singender Holländer im Einsatz, sondern ganz viele davon…!

Petra Coddington FotografenmeisterinGefeiert: Egils Silins und Yannick Nézet-Séguin (Foto: Petra Coddington)

Leider hatte der Profoss vom Casting-Büro beim Anheuern der Solisten-Crew kein sonderlich glückliches Händchen gehabt und den einen oder anderen stimmlichen Leichtmatrosen an Bord geholt… Das galt nicht für Franz-Josef Selig, der einen sehr soliden Daland sang und auch Agnieszka Zwirko als Mary und Torsten Hoffmann als Steuermann agierten rollendeckend, auch wenn ich mir von letzterem noch ein Quentchen mehr an lyrischem Schmelz gewünscht hätte. Emma Vetter als Senta rief schon im Auftreten und Kostümierung gewisse Assoziationen an ihre schwedische Landsfrau, die Ufa-Schauspielerin Kristina Söderbaum auf, jene trug ja bekanntlich den wunderbar gscherten Spitznamen „Reichswasserleiche“… Aber Spaß beiseite und Ernst her: in über dreißig Jahren Opernbesuche erinnere ich mich nicht, jemals eine so desinteressierte und teilnahmslose Darbietung einer Sängerin erlebt zu haben. Ohne jegliche Kommunikation mit Partnern oder Publikum stand sie da wie festgemauert, den Blick starr auf die Podiumskante gerichtet und lieferte mit stählernem, harten und unflexibel geführten Sopran ihre Töne ab, die Höhen kamen zudem auch noch größtenteils zu tief. Die Lust auf weitere Begegnungen hält sich eher in Grenzen. Rein stimmlich war die Leistung von Frank van Aken als Erik noch problematischer, die Stimme klang brüchig und belegt, lediglich die obere Lage verströmte noch hin und wieder etwas tenoralen Glanz. Allerdings sei ausdrücklich honoriert, dass er im Gegensatz zu seiner Partnerin wusste was er sang und sich um einen differenzierten Vortrag bemühte.

Ein durchaus amüsantes Bild gab das Ensemble übrigens auch in modischer Hinsicht ab, die Skala reichte von Abendkleid (Mary) und Frack (Holländer) über Theaterfundus (Senta), schwarzen Anzug (Daland), Konfirmanden-Sakko (Steuermann) bis hin zum legeren Bequem-Outfit (Erik). Kleiderordnung? Wird sowieso völlig überschätzt. Sängerisch also ein Abend mit vielen Facetten und Überraschungen und orchestral ein Fest. Auf die nächsten „Yannick Experiences“ kann man sich nur freuen! 

 

Cecilia Bartoli mit noch mehr Steffani auf CD

Spätestens seit letztem Jahr kann eigentlich kein Musikfreund mehr behaupten, Agostino Steffani nicht zu kennen. In 2012 nämlich startete Cecilia Bartoli ihre „Mission“ mit der gleichnamigen CD und präsentierte einer staunenden Öffentlichkeit Opern- und Konzertarien aus der Feder ebenjenes längst vergessenen Maestro; das vermutlich knalligste Comeback seit Lazarus. Steffani war nicht nur ausgebildeter und geweihter Priester, Komponist und Sänger, womöglich sogar Kastrat, sondern auch Diplomat, Geheimagent und Apostolischer Vikar, pflegte freundschaftlichen Umgang mit Künstlern, Politikern und Fürsten; einer der ersten professionellen Networker Europas. Wow. Wo bleibt denn die Verfilmung seines Lebens? Vielleicht könnte man schon mal John Malkovich für die Hauptrolle anfragen? Vor allem aber war Steffani ein mit einer sensationellen musikalischen Erfindungsgabe gesegneter Künstler, dessen Musik derjenigen seines Kollegen und Zeitgenossen Händel durchaus auf Augenhöhe begegnet.

Steffani

Kein Wunder also, dass Cecilia Bartoli und die Firma Decca jetzt nochmal nachgelegt haben. Nach dem weltlichen haben sie nun auch das geistliche Oeuvre Steffanis eingespielt: das Stabat Mater sowie einige kürzere Kantaten, Motetten und Chorsätze. Der größte Teil davon sind Weltersteinspielungen, der Repertoirewert der CD folglich ebenso herausragend wie die Interpretation. Ob man als – sagen wir mal: durchschnittlicher – Barock-Konsument und nicht Hardcore-Fan alle diese Werke wirklich im Plattenschrank braucht, sei mal dahingestellt. Denn erstaunlicherweise klingt die Kirchenmusik des Priester-Komponisten weit weniger originell und inspiriert als seine Opernarien und duetti da camera… Das ist alles ausgesprochen hübsche, schön zu hörende und handwerklich prima gemachte Musik, im Vergleich aber doch über weite Strecken eher barocker Mainstream. Außerdem steht zwar groß Bartoli drauf, de facto ist aber arg wenig Bartoli drin; nur in drei von sieben Werken auf dieser Scheibe ist sie zu hören. Nichts gegen die Darbietungen der Kollegen – aber das ist schlicht eine Mogelpackung, zumal sich auch in zwei dieser drei Stücke ihre Mitwirkung quantitativ sehr in Grenzen hält.

Das Hauptwerk der Einspielung, das 1728 entstandene Stabat Mater, ist vor allem durch den Vergleich mit den viel bekannteren Vertonungen von Pergolesi und Rossini interessant. Mit nur 25 Minuten Spieldauer ist es nicht nur deutlich komprimierter, auch musikalisch unterscheidet es sich deutlich von Pergolesis lyrischem Leidensexzess und von Rossinis virtuoser Sakral-Oper. Reizvoll sind hier vor allem die kanonartig gestaffelten Choreinsätze, während die Solo-Partien in Melodik und Linienführung sehr schlicht und fast karg rüberkommen, Textwiederholungen gibt es kaum und der vokale Zierrat beschränkt sich auf ein Minimum, wenig Sängerfutter also. Ungewohnt ist auch die Stimmenverteilung: das „Cuius animam“ etwa, bei Rossini eine halsbrecherisch schwere Tenorarie, ist hier ein unspektakulärer Chorsatz und das „Inflammatus“ ein ruhiges Duett der beiden Tenöre anstelle des furiosen Sopran-Solos bei Rossini. Natürlich spricht es sehr für Cecilia Bartoli und ihr künstlerisches Selbstverständnis, wie undivenhaft und diszipliniert sie sich hier ins Ensemble einfügt und ihren wenig spektakulären Part dennoch mit erlesener Stimmschönheit und Klangkultur veredelt. Sie kann eben nicht nur die Bravournummern und „Abräumer“, sondern auch die Kontemplation und lyrisch-beseelte Innenschau. Einen besonderen Reiz haben ihre Duettpassagen mit Franco Fagioli, in denen sich die Stimmen ganz wunderbar mischen und doch kontrastieren. Da Fagioli hier in einer für Countertenöre eher ungewohnten, sehr tiefen Lage singt und sein Organ zudem reizvoll androgyn timbriert ist, ist der Klangeindruck ein ganz anderer als man sonst mit dieser Stimmlage verbindet. Gut, wenn auch in Stimmfarbe und Gestus sehr ähnlich, sind die beiden Tenöre Daniel Behle und Julian Prégardien, eine echte Entdeckung der Bassist Salvo Vitale (nomen est omen?): eine kultivierte, herrlich dunkel und doch geradezu cremig klingende Stimme, die man hoffentlich in Zukunft öfter hören wird. Diesen Künstlern begegnet der Hörer auch im „Zugabenteil“ dann wieder, außerdem wirken hier noch die wunderbar hell und klar singende Nuria Rial sowie Yetzabel Arias Ferndandez und Elena Carzaniga mit; ein bei allem Wohlklang aufkommendes Gefühl gewisser Monotonie können sie leider auch nicht gänzlich verbannen…

Höhepunkt der Zugaben, wenn nicht der ganzen Einspielung, ist die Solo-Motette Non plus me ligate. Denn hier ist endlich La Bartoli pur zu erleben. Und sie darf hier auch richtig den Zauberkasten aufmachen, Koloraturenketten wie ein Lasso durch die Lüfte wirbeln, glutvoll schmachten und flöten und ihre enorme Spannbreite von pastoser Tiefe bis jubelnder Sopranhöhe demonstrieren. Da kommt Freude auf!

Die musikalische Leitung und der instrumentale Unterbau liegen, wie schon bei „Mission“, wieder in den bewährten Händen von Diego Fasolis und seinem Ensemble I Barrochisti. Ein farbenreiches, kultiviertes Musizieren, grundsolider Barock-Klang ohne irgendwelche Exzesse in Sachen Tempo und Tongebung. Auch der, ebenfalls von Fasolis einstudierte, Coro della Radiotelevisione svizzera zeigt sich auf der Höhe. Übrigens hat die Decca bereits in dritten Streich geführt und eine weitere CD mit Ouvertüren und Tänzen aus Steffanis Opern herausgebracht; für alle, die gerne noch mehr Agostino haben möchten.

Fazit: Für echte Barockmusik-Freaks, die ihre einschlägige Sammlung vervollständigen möchten, ist die CD ein Muss. Wir eingefleischte Bartoli-Fans kaufen sie sowieso, obwohl: siehe oben. Alle anderen können sich auch eine schöne Händel-CD auflegen und zufrieden sein.

CD: Christian Gerhaher und Kent Nagano mit Orchesterliedern von Mahler

Der Welt abhanden gekommen…

Huch! – Welch ein Frontcover… Düsterer und schwermütiger geht es ja kaum noch, ein trockenes, verwelktes Ahornblatt (die CD wurde in Kanada aufgenommen…) vor dunkelbraunschwarzem Hintergrund. Ein perfektes Traueranzeigen-Design, sogar die Silberscheibe drinnen ist auf einer Seite schwarz… Sobald man sie auflegt, kommt allerdings Licht in die Sache. Mit dieser Einspielung der drei großen Orchesterlieder-Zyklen von Gustav Mahler hat die bisherige Referenzaufnahme von Thomas Hampson mit Leonard Bernstein am Pult der Wiener Philharmoniker eine ernsthafte Konkurrenz bekommen; zumal der Interpretationsansatz, der musical approach hier ein ganz anderer ist.

Nun führen alle drei Zyklen, die Lieder eines fahrenden Gesellen, die Kindertotenlieder und die fünf Rückert-Lieder, thematisch ganz tief hinein in menschliche Abgründe und Leiden; Tod, Verlust, Weltschmerz, Ohnmacht und unerfüllte Liebe. Das muss man aushalten, als Interpret wie als Zuhörer, hier werden emotional die ganz großen Geschütze aufgefahren und die ganz dicken Bretter gebohrt, hier geht es um Alles oder Nichts. Mahler, das ist Bekenntnismusik, nichts für Spießer, nur für Genießer! Mal eben so einen Mahler zu spielen, das geht gar nicht, wer nicht bereit oder in der Lage ist, sich dem Kosmos des Komponisten auszuliefern, der soll es bitte bleiben lassen!

CD Mahler Gerhaher

Dementsprechend war die Zahl der überragenden Mahler-Sänger schon immer eher überschaubar. Und dass Christian Gerhaher einer der profiliertesten und besten davon ist, stellt er auch mit dieser Einspielung wieder eindrucksvoll unter Beweis. Schon die pure Schönheit des Tons, die klare Diktion und die genuine Musikalität des Vortrags würden ausreichen, Gerhaher zu einem Ausnahmesänger zu machen, doch ist dies erst die Grundlage seiner famosen Gesangs- und Gestaltungskunst. Es gibt momentan nur ganz wenige Sänger, die eine präzise und nuancierte Textgestaltung mit einer solchen Fülle an musikalisch-klanglichen Farben und Vergegenwärtigungen verbinden; bei ihm bilden Text und Musik stets eine Einheit. Die Stimme klingt in allen Lagen äußerst präsent und wird schlank geführt, auch in den fast tenoral anmutenden Höhen bleibt die charakteristische Stimmfarbe erhalten und wird nicht grell, das piano ist technisch herausragend gebildet und gestützt. Vor allem aber kennt Gerhaher den Unterschied zwischen Melancholie und Larmoyanz, auch in den Kindertotenliedern läuft er nie Gefahr, die Stücke zu vertrauern oder gar zu verkitschen, der Vortrag bleibt stets klar fokussiert und männlich, frei von Sentimentalität und Übertreibung, aber dennoch bewegend und intensiv. Höhepunkt der CD sind die Rückert-Lieder, schon deswegen weil dies der inhaltlich und musikalisch vielschichtigste der drei Zyklen ist und eine ganze Reihe von Stimmungen und Affekten durchläuft, gipfelnd in der inneren Gelassenheit und lustvollen Abgehobenheit des letzten Liedes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“.

Für diese differenzierte und unsentimentale, ganz auf ein breites Farb- und Ausdrucksspektrum setzende Lesart ist Kent Nagano natürlich genau der richtige Partner. Am Pult des Orchestre symphonique de Montréal breitet er dem Solisten einen feingewobenen und schimmernden Klangteppich aus, sanft oszillierend und beinahe introvertiert. Besonders die sich hinaufschraubenden Kantilenen der Geigen sorgen, im Verbund mit Gerhahers atemberaubenden Crescendi, immer wieder für Gänsehautmomente. Dennoch, und das haben einige Auftritte in seiner Münchner Zeit bestätigt, ist Nagano für mich kein genuiner Mahler-Dirigent. Bei aller Transparenz und Klangkultur wirkt seine Interpretation oftmals die entscheidende Nuance zu glatt und kontrolliert, die Wildheit und Zerrissenheit von Mahlers Musik übersetzen sich nur ansatzweise.

Dennoch eine wunderbare Aufnahme, bei deren Anhören man tatsächlich der Welt abhanden kommen kann…

“Arabesque” – die neue CD von Olga Peretyatko

Vögel gibt es bekanntlich so einige in der Opernwelt, man denke nur an Lohengrins Schwan, Walvaters Raben oder Siegfrieds Waldvogel. Doch der mit Abstand am häufigsten genannte ist… Jawohl, danke fürs Mitdenken, die Nachtigall. Nicht, dass diese womöglich irgendwo großartig zu Protagonistenehren gekommen wäre; aber es hat sich irgendwie eingebürgert, dass nahezu jede hohe und koloraturensichere Sopranistin das Etikett „Nachtigall“ aufgeklebt bekommt, angefangen mit der „schwedischen Nachtigall“ Jenny Lind bis heute… Viva la fantasia! kann man da nur sagen. Olga Peretyatko bildet da keine Ausnahme. Eine Assoziation, die angesichts der tatsächlich jubilierenden Höhe und ansteckenden Sangesfreude der Künstlerin sogar berechtigt erscheint, die deren Persönlichkeit alleine aber nicht gerecht wird.

Unter dem schön luftig klingenden und eher mehrdeutigen Titel „Arabesque“ hat Olga Peretyatko nun ihr zweites Solo-Album vorgelegt und es ist wiederum die reine Freude geworden. Die Programmfolge, 13 Titel von 10 verschiedenen Komponisten, mutet auf den ersten Blick etwas zusammengewürfelt an, enthüllt beim Anhören aber doch eine gewisse innere Logik und Gliederung in zwei Blöcke: der erste bestehend aus Mozart und Belcanto, der zweite aus betont leichter Kost von schwungvoller Melodik und Verspieltheit, dazwischen findet sich mit der Boléro-Arie „Mercè dilette amiche“ aus Verdis I Vespri Siciliani (hier in der italienischen Version) der einzige repertoiretechnische „Ausreißer“. Ein Stück, das gleichwohl nur sehr bedingt in dieses Programm passt, die Brillanz der Koloraturen verbindet sich hier nämlich mit deutlich gesteigerter Dramatik, darin dem Trinklied der Lady Macbeth durchaus vergleichbar. Eine Arie, die ich eigentlich nur von Maria Callas im Florentiner Mitschnitt von 1951 wirklich überzeugend gehört habe…

Peretyatko CD

 

Wunderbar eingeleitet wird das Ganze von Mozarts Konzertarie „Ah se in ciel, benite stelle“ und man ist augenblicklich drin, hier wird gleich gut durchgelüftet. Und Olga Peretyatko gibt schon in diesen ersten Spielminuten eine sängerische Visitenkarte erster Ordnung ab: die glockenhelle, extrem agile Stimme läßt Mozarts Kantilenen und Koloraturkaskaden in hellstem Licht erstrahlen, mit lockerer und hochmusikalischer Stimmführung als sei das hier das Simpelste auf der Welt. Und nicht nur das, die Musik strahlt auch ebenjene jugendliche Frische, Verspieltheit und Unbekümmertheit aus, mit der sie auch erdacht wurde. Überhaupt ist Koloraturgesang das Kernthema dieser Programmfolge und was Peretyatko hier bietet, ist in zweierlei Hinsicht mustergültig: zum einen in der brillanten Technik, Koloraturen, Triller, vokaler Zierrat jeglicher Art kommt völlig mühelos und klar, die einzelnen Töne klingen perlend und wie an der Schnur gezogen, kein Luftloch und keine Kante stört die Linienführung. Vor allem aber hat man in keinem Moment das Gefühl, einem Dressurakt oder einer reinen stimmlichen Schauturnerei zu lauschen; vielmehr folgt die musikalische Faktur immer dem Rollencharakter, die Koloratur ist immer Gestaltungsmittel und nie Selbstzweck. Besonders deutlich wird dies etwa in Annas Arie „Crudele? Non mi dir bel idol mio“ aus Don Giovanni und in den beiden Arien der Elvira aus Bellinis I puritani. Ob seelischer Zwiespalt, verspielter Übermut oder selig süße Entrückung, Olga Peretyatko gestaltet alle Affekte nuanciert, individuell und glaubwürdig. Ein Kunststück, das beileibe nicht jeder Sängerin im Rahmen eines solchen Potpourris gelingt! Zauberhaft und mit großer lyrisch-sinnlicher Intensität gesungen ist auch Susannas „Deh vieni, non tardar“ aus dem Figaro, die berühmte „Rosenarie“: ohne die Stimme künstlich abzudunkeln mischt sie ihrem strahlend hellen Timbre hier gewissermaßen einen „nächtlichen“, einen wunderbar introvertierten und poetischen Tonfall und eine gute Prise hintersinniger Erotik bei und trifft damit Mozarts wohl liebenswerteste Frauengestalt traumwandlerisch sicher. Solchen musikalischen Tiefgang haben die Werke des letzten Drittels nicht zu bieten, hier dominiert ein spielerischer, heiterer und zuweilen auch leicht frivoler Grundton. Neben Arditis bekannter Konzertarie Il bacio oder Adeles „Spiel ich die Unschuld vom Lande“ aus der Fledermaus gibt es hier auch die eine oder andere Rarität zu entdecken, etwa Villanelle von Eva Dell’Aqua und Arien aus Gounods Mireille und Bizets Vasco da Gama, einfach hinreißend gesungen und geradezu veredelt durch Peretyatkos farbenreichen und nuancierten Vortrag. Zu erwähnen ist auch, dass sie in allen drei Sprachen gleichermaßen auf der Höhe ist – bis auf die letzte Nummer des Programms. In Alexander Alabieffs Die Nachtigall – womit wir wieder beim Thema wären – gibt es keinen Text mehr, das knapp siebenminütige Stück besteht komplett aus Vokalisen. Gelegenheit für die Künstlerin, noch einmal geballt ihre Virtuosität, Stimmschönheit und Ausdrucksvielfalt zu demonstrieren.

Das Klangbild der Aufnahme ist räumlich und präsent, die Singstimme sehr natürlich eingefangen, das Orchester ein klein wenig in die zweite Reihe abgemischt. Technisch gibt es auch am Spiel des NDR-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Enrique Mazzola nichts zu mäkeln, das ist ehrliche Arbeit und eine solide, verlässliche Sängerbegleitung. Gerade im ersten Drittel hätte ich mir hin und wieder eine stärkere Gewichtung und einen echten musikalischen Gegenpol gewünscht, das ist halt bei solchen Sammelprogrammen und den heutigen Produktionsbedingungen immer so eine Sache… Auch Artwork und Aufmachung der CD überzeugen durch geschmackvolle Eleganz; ohne Zweifel ein Premium-Produkt.

Und Olga Peretyatko? Ist gewiss nicht nur eine Nachtigall. Sondern eine singende Poetin der hohen und höchsten Töne.

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Salzburger Festspiele: “Nabucco” konzertant – 31.8.2013

Eigentlich muss man sich das mal ganz gepflegt auf der Zunge zergehen lassen: ausgerechnet mit drei konzertanten Aufführungen von Verdis Nabucco gingen die Salzburger Festspiele zu Ende… mit dem Werk eines glühenden italienischen Patrioten, der sein ganzes Leben in Kampf und Widerstand gegen die österreichische Besatzungsmacht und für einen unabhängigen italienischen Nationalstaat verbracht hat. Und dessen wohl lautstärkstes und knalligstes gesellschaftspolitisches Fanal ebenjener Nabucco war… Ist das noch Ironie der Geschichte? Oder die versuchte Entpolitisierung der Kunst, bei der Viva V.e.r.d.i ohne Pünktchen und Hintergedanken geschrieben steht?

Fakt ist, dass es ein künstlerisch überragendes Festspielfinale war. Um es gleich vorweg zu sagen: für mich Ostern, Weihnachten und Kanzlerrücktritt an einem Tag. Schließlich war es ein langgehegter Traum, einmal im Leben Riccardo Muti diese Oper live dirigieren zu hören. Ja, natürlich ist Nabucco bei halbwegs genauer Lektüre ein ideologisch hochproblematisches, eigentlich schwer erträgliches Machwerk; die Geschichte zweier gnadenlos nationalistischer Hassprediger namens Nabucco und Zaccaria, die heute natürlich anders heißen, sich in ihrer Borniertheit und Brutalität aber nicht von ihren Vorgängern unterscheiden. Das sind auch schon im Libretto gleiche Brüder unter diversen Kappen, der eine mag „in Strömen von Blut“ waten, der andere gleich das andere Volk „von der Erde getilgt“ wissen… alles im Namen Gottes, versteht sich. Richtig perfide ist das Ende, wenn der eine schließlich unter feierlichen Chorhymnen ideologisch umgedreht und akklamiert wird; gemordet und verfolgt wird weiter, aber jetzt pappt ja das „richtige“ Etikett drauf… Ja pfui Deifi. Und DAS soll man sich reinziehen?! Bei einer szenischen Deutung wäre dies natürlich der spielentscheidende Punkt, solches erklärend sinnfällig zu machen. Aber dazu kam es hier ja nicht, im Konzert frägt sichs tatsächlich nach der Kunst allein. Genuss ohne Reue also? In dieser Interpretation schon.

Salzburg Nabucco 2                                                                       Maestro in Aktion (Foto: Silvia Lelli)

Denn das erhoffte Ur-Erlebnis fand tatsächlich statt, was Riccardo Muti  mit dem Orchester und Chor des Teatro dell’Opera di Roma hier veranstaltet hat, war mit „Ehrenrettung“ nur unzureichend beschrieben. Gefühlt habe ich diese Musik hier zum ersten Mal im Leben gehört. Hier war alles anders als sonst, die jugendlich-musikantische Energie, die Wildheit des jungen Maestro übersetzten sich in jedem Takt, man spürte am eigenen Leib, welche bahnbrechende revolutionäre Sprengkraft diese Musik und diese Handlung für die Zeitgenossen gehabt haben müssen. Alles kommt wunderbar leicht, jugendlich und beschwingt rüber, zugleich nimmt Muti die Partitur vom ersten bis zum letzten Takt ernst. Natürlich greift auch er ganz tief in die Kiste, lässt die Tutti-Schläge knallen, reizt die Steigerungen in den Cabalette radikal aus und organisiert die Chorsätze mit fast paramilitärischer Präzision. Aber sehr im Gegensatz zu allen Nabucco-Dirigenten, die ich bisher gehört habe, sei es live oder von Konserve, klingt hier nichts trivial oder vordergründig lärmend, jede Melodie, jede Rückung, jeder Takt- oder Rhythmuswechsel hat seinen dramaturgischen Stellenwert und fügt sich harmonisch und sinnstiftend in das Gesamtgefüge ein, auch die klanglichen Wechselwirkungen zwischen Orchester und Banda. So entsteht ein unglaublich differenzierter, dynamischer, energiegeladener und „zündender“ Orchesterklang von mitreißender Frische und pulsierender Intensität; selbstverständlich auch in den leisen Passagen. Die Tempi sind straff ohne jemals gehetzt oder übertrieben zu sein und geben den Sängern alle Möglichkeiten zur Entfaltung. Bestes Beispiel ist der notorische Gefangenenchor, ein Stück, das so abgenudelt, so inflationiert, so ge- und missbraucht ist, das man es eigentlich gar nimmer hören mag. Hier dagegen wird die Szene geradezu zu einer Offenbarung und klingt völlig unpretenziös, wie gerade im Moment erfunden. Zart, fast schwebend der erste Einsatz, wie ein flüchtiger Gedanke, der im Laufe des Stückes immer mehr an Festigkeit und Überzeugung gewinnt; das großartige Crescendo, mit dem Muti den gesamten Satz überzieht, ist nicht nur ein technisches Detail, sondern ein Fanal, eine ungeheure Steigerung, eine Setzung. Für Beiläufigkeit, Schlamperei oder aufgesetzte Schmissigkeit ist hier kein Platz und auch wenn die römischen Kollektive vielleicht nicht zu den Besten ihres Faches zählen, so folgen sie dem Maestro mit fühlbarer Hingabe und spielen einen Verdi, wie man ihn sich authentischer, stilsicherer und leidenschaftlicher schwer vorstellen kann. Italianità vom Feinsten, Gänsehaut pur!

Salzburg Nabucco 1Full House im Großen Festspielhaus (Foto: Silvia Lelli)

Da wollten die Sänger nicht hinten anstehen und legten sich ebenfalls voll ins Zeug. So waren etwa Francesco Meli als Ismaele und Sonia Ganassi als Fenena in ihren eher undankbaren Partien regelrechte Luxusbesetzungen; vor allem dem kultivierten, metallisch-kernigen Tenor Melis würde man gerne in größeren Aufgaben wiederbegegnen. Ein in jeder Hinsicht prachtvoller Nabucco war Željko Lučić, der momentan in diesem Fach tonangebend ist. Er verfügt nicht nur über außergewöhnliche Musikalität und Stimmvolumen, sondern auch über die kernig aufblühende Höhe, die für die großen Verdi-Rollen unumgänglich ist. Den herrischen Eroberer gestaltet er ebenso überzeugend und glaubwürdig wie die geistige Verwirrung des gestürzten Potentaten. Seinen unerbittlichen religiösen und machtpolitischen Gegenspieler Zaccaria sang Dimitrij Belosselsky mit ausladendem, nachtschwarz timbrierten Bass, der aber auch die nötige Flexibilität und Geläufigkeit für die Cabaletta im ersten Akt besitzt.  Auch die beiden ariosen Abschnitte im zweiten und dritten Akt kamen wie in Stein gemeißelt. Ein größeres Besetzungsproblem stellt da schon die Abigaille dar und die kurzfristige Absage von Tatjana Serjan brachte die künstlerische Leitung heftig in die Bredouille, überragende Alternativen tun sich von jetzt auf gleich eher nicht auf… Daher sollte man mit der couragierten Einspringerin Anna Pirozzi auch nicht zu hart ins Gericht gehen; diese Partie ist eine Killer-Nummer und sie dreimal in nur vier Tagen singen zu müssen der blanke Wahnsinn. Ob sich die junge Neapolitanerin damit wirklich einen Gefallen getan hat, sei dahingestellt. In den lyrischen Momenten wie dem Cantabile „Anch’io dischiuso un giorno“ oder der Sterbeszene überzeugte sie durchaus, stieß in den zahlreichen dramatischen Ausbrüchen und Intervallsprüngen aber an ihre Grenzen.