Wer hat hier Regie geführt? Calixto Bieto? Der Zufall, dieser Hund? Oder ein prophetisch begabter Chefdisponent? Einen passenderen Termin für die Wiederaufnahme des Boris Godunov hätte man sich kaum ausdenken können; auf einem Höhepunkt der internationalen Krise um eine ominöse Schwarzmeer-Halbinsel mit vier Buchstaben, just am selben Tag, als Zar Vladimir die Krim heim ins Reich holte und – so darf man annehmen – darauf mit einem flüssigen lokalen Exportschlager auf seinen coup d’etat anstiess. In ebenjenen Stunden ging Mussorgskijs musikalisches Volksdrama um Macht, Despotismus und Demagogie im Reich der Reussen erneut über die Bühne des Nationaltheaters. Im Vorfeld der Premiere vor gut einem Jahr (siehe auch Archiv April 2013) hatte Regisseur Calixto Bieto seine illusionslose Sicht auf politische Macht und die Mächtigen nicht nur verbal geäußert, sondern sie auch in jene gnadenlos suggestiven, gewalttätigen Bilder übersetzt, die seine Boris-Inszenierung zu einer der faszinierendsten und ergreifendsten Regiearbeiten in der jüngeren Geschichte der BSO gemacht haben. Dabei hat Bietos Arbeit Verweise auf außermusikalische Umstände eigentlich nicht nötig, sie wirkt auch nach einem Jahr Absenz ebenso gewaltig, bildmächtig und suggestiv wie in der Premierenserie, die bühnenbeherrschende Trutzburg von Rebecca Ringst ist immer noch ein Theatercoup vom Feinsten und auch Bietos markante und präzise Personenregie hat trotz der einen oder anderen Neubesetzung nichts von ihrer Geschlossenheit und theatralen Kraft eingebüßt. Das ist mehr als die Oper zur Krise, das ist immer wieder ein unglaublicher Theaterabend mit Anspruch auf politische und historische Wahrhaftigkeit.
Die Mächtigen und die Ohnmächtigen (Foto: Wilfried Hösl)
Und? Hat man das Werk an diesem Nachmittag nun anders gehört als zuvor? Natürlich hat man das. Dies wiederum lag aber nicht nur an den aktuellen realpolitischen Umständen, sondern in erster Linie an Kirill Petrenko, der das Stück nun von seinem Vorgänger Kent Nagano übernommen hat. Eigentlich rieb man sich die gesamte Vorstellung hindurch die Augen, und noch mehr die Ohren, wie unterschiedlich, wie diametral konträr man diese Partitur auffassen und dirigieren kann. Dabei wäre es weder sinnvoll noch statthaft, beide Maestri gegeneinander auszuspielen; beide Interpretationen sind grandios, überwältigend und absolut gültig. Im Gegensatz zur kristallinen Härte und kühlen, glasklaren Durchhörbarkeit bei Nagano, klingt die Musik bei Petrenko wärmer, erdiger, handfester. Er nimmt sich deutlich mehr Zeit als sein Amtsvorgänger und kommt fast zehn Minuten später ins Ziel. Der Großteil dieser Breite entfällt auf die Chöre und Volksszenen, die hier stärker hervortreten, Petrenko bezieht hier Stellung, spielt die Leiden, aber auch die Wandelbarkeit, der Masse suggestiv aus. Grandios gelingt bereits der Einstieg; wie sich hier der Chor als Stimme des Volkes allmählich formiert, sich steigert und wieder in sich zurückfällt ist atemberaubend, die bedrückende Atmosphäre dieser Eröffnungsszene wird geradezu körperlich spürbar. Es ist eine andere Art von Emotionalität, die Petrenko hier aufruft; er bezieht hörbar Stellung und gibt der Ohnmacht, der Angst und Bedrängnis eine Stimme, ohne in Sentimentalität oder musikalische Betroffenheitsgestik abzugleiten. Denn das – einmal mehr unter Petrenkos Leitung grandios spielende – Orchester macht keine Standesunterschiede und begleitet alle Handelnden mit Empathie und gibt ihnen Profil und Würde; der marodierenden Menge ebenso wie dem Gottesnarren und selbst dem Herrscher. Der Schluss der Oper wird in Petrenkos Interpretation zum Requiem für einen gekrönten Mörder, ohne waberndes Pathos und opernhaften Pomp, dafür mit Größe und Haltung bis zuletzt. Das hat man so tatsächlich noch nicht gehört.
Im innersten Zirkel der Macht: Anatolij Kotcherga (Boris) und Gerhard Siegel (Shuiskij) – Foto: Wilfried Hösl
Dass dieser Boris ein ganz anderer werden würde als in der letzten Saison war von vornherein klar und in der Neubesetzung des Zarenthrons, ergo der Titelpartie, begründet. Leider stand der sensationelle Boris-Gestalter Alexander Tsymbalyuk diesmal nicht zur Verfügung (Planung?), an seiner Stelle tauschte der letztjährige Pimen Anatolij Kotcherga noch einmal die Mönchskutte gegen den Zarenpurpur ein; bzw. hätte dies getan, wenn es sich um eine konventionelle Inszenierung gehandelt hätte. Nun war Kotcherga lange Jahre einer der namhaftesten und gefragtesten Boris-Bässe überhaupt und seine auratische Präsenz ist ungebrochen. Erfreulicherweise präsentierte sich der Künstler auch in ausgezeichneter stimmlicher Verfassung. Über einige Stimmtrübungen im Auftrittsmonolog hatte er sich bald hinweggesungen, sein nachtschwarzes Timbre und der stilsichere, differenzierte Vortrag sind einfach beste russische Schule und ein packendes, durch und durch authentisches Gesangserlebnis. Den Pimen hatte diesmal Ain Anger übernommen, hörbar derselben stilistischen Tradition entstammend und für seine nicht minder eindrucksvolle Leistung ebenfalls gefeiert. Dass der greise Chronist hier sicht- und hörbar so viel jünger und vitaler besetzt war als der Herrscher, war indes schon etwas irritierend; man hätte sich beide auch in der jeweils anderen Partie vorstellen können. Dritter im Bunde der Bass-Giganten war, wie schon letzte Saison, der stimmgewaltige und unwiderstehlich proletig agierende Vladimir Matorin als Warlaam. Gesanglich untadelig agierte der neue Grigorij Dmyrto Popov, darstellerisch nahm man ihm den fanatischen Ehrgeizling und Abenteurer allerdings nicht so ganz ab. Ansonsten war zum größten Teil die gewohnte Besetzung am Werk. Nach wie vor zu den Aktivposten des Abends gehören Gerhard Siegel als gleißnerischer hinterhältiger Fürst Shuiskij, der balsamisch schön und markant singende Markus Eiche als Regierungssprecher Schtschelkalow, die pastose Okka von der Damerau als Schankwirtin und auch Kevin Conners als Gottesnarr, der hier die vermutlich beste Partie seiner langen Zugehörigkeit zur BSO gefunden hat. Aber auch alle anderen Solisten des Ensembles trugen ihren Teil zu einem auf höchstem Niveau homogenen Gesamteindruck bei.
Und natürlich ist der Boris Godunov auch eine der großen Chor-Opern. Eine Gelegenheit für den Staatsopernchor (Einstudierung: Sören Eckhoff) und den Kinderchor (Einstudierung: Stellario Fagone), ihre ganze beeindruckende farbliche und dynamische Bandbreite abzurufen; ganz offensichtlich liebt und verehrt nicht nur das Staatsorchester den neuen Chef, sondern auch der Chor, der seit Saisonbeginn mit grandioser Klangkultur und Präzision aufwartet.