Bayerische Staatsoper: “Boris Godunov” – 16.3.2014

Wer hat hier Regie geführt? Calixto Bieto? Der Zufall, dieser Hund? Oder ein prophetisch begabter Chefdisponent? Einen passenderen Termin für die Wiederaufnahme des Boris Godunov hätte man sich kaum ausdenken können; auf einem Höhepunkt der internationalen Krise um eine ominöse Schwarzmeer-Halbinsel mit vier Buchstaben, just am selben Tag, als Zar Vladimir die Krim heim ins Reich holte und – so darf man annehmen – darauf mit einem flüssigen lokalen Exportschlager auf seinen coup d’etat anstiess. In ebenjenen Stunden ging Mussorgskijs musikalisches Volksdrama um Macht, Despotismus und Demagogie im Reich der Reussen erneut über die Bühne des Nationaltheaters. Im Vorfeld der Premiere vor gut einem Jahr (siehe auch Archiv April 2013) hatte Regisseur Calixto Bieto seine illusionslose Sicht auf politische Macht und die Mächtigen nicht nur verbal geäußert, sondern sie auch in jene gnadenlos suggestiven, gewalttätigen Bilder übersetzt, die seine Boris-Inszenierung zu einer der faszinierendsten und ergreifendsten Regiearbeiten in der jüngeren Geschichte der BSO gemacht haben. Dabei hat Bietos Arbeit Verweise auf außermusikalische Umstände eigentlich nicht nötig, sie wirkt auch nach einem Jahr Absenz ebenso gewaltig, bildmächtig und suggestiv wie in der Premierenserie, die bühnenbeherrschende Trutzburg von Rebecca Ringst ist immer noch ein Theatercoup vom Feinsten und auch Bietos markante und präzise Personenregie hat trotz der einen oder anderen Neubesetzung nichts von ihrer Geschlossenheit und theatralen Kraft eingebüßt. Das ist mehr als die Oper zur Krise, das ist immer wieder ein unglaublicher Theaterabend mit Anspruch auf politische und historische Wahrhaftigkeit.

BSO Boris1Die Mächtigen und die Ohnmächtigen (Foto: Wilfried Hösl)

Und? Hat man das Werk an diesem Nachmittag nun anders gehört als zuvor? Natürlich hat man das. Dies wiederum lag aber nicht nur an den aktuellen realpolitischen Umständen, sondern in erster Linie an Kirill Petrenko, der das Stück nun von seinem Vorgänger Kent Nagano übernommen hat. Eigentlich rieb man sich die gesamte Vorstellung hindurch die Augen, und noch mehr die Ohren, wie unterschiedlich, wie diametral konträr man diese Partitur auffassen und dirigieren kann. Dabei wäre es weder sinnvoll noch statthaft, beide Maestri gegeneinander auszuspielen; beide Interpretationen sind grandios, überwältigend und absolut gültig. Im Gegensatz zur kristallinen Härte und kühlen, glasklaren Durchhörbarkeit bei Nagano, klingt die Musik bei Petrenko wärmer, erdiger, handfester. Er nimmt sich deutlich mehr Zeit als sein Amtsvorgänger und kommt fast zehn Minuten später ins Ziel. Der Großteil dieser Breite entfällt auf die Chöre und Volksszenen, die hier stärker hervortreten, Petrenko bezieht hier Stellung, spielt die Leiden, aber auch die Wandelbarkeit, der Masse suggestiv aus. Grandios gelingt bereits der Einstieg; wie sich hier der Chor als Stimme des Volkes allmählich formiert, sich steigert und wieder in sich zurückfällt ist atemberaubend, die bedrückende Atmosphäre dieser Eröffnungsszene wird geradezu körperlich spürbar. Es ist eine andere Art von Emotionalität, die Petrenko hier aufruft; er bezieht hörbar Stellung und gibt der Ohnmacht, der Angst und Bedrängnis eine Stimme, ohne in Sentimentalität oder musikalische Betroffenheitsgestik abzugleiten. Denn das – einmal mehr unter Petrenkos Leitung grandios spielende – Orchester macht keine Standesunterschiede und begleitet alle Handelnden mit Empathie und gibt ihnen Profil und Würde; der marodierenden Menge ebenso wie dem Gottesnarren und selbst dem Herrscher. Der Schluss der Oper wird in Petrenkos Interpretation zum Requiem für einen gekrönten Mörder, ohne waberndes Pathos und opernhaften Pomp, dafür mit Größe und Haltung bis zuletzt. Das hat man so tatsächlich noch nicht gehört.

BSO Boris2Im innersten Zirkel der Macht: Anatolij Kotcherga (Boris) und Gerhard Siegel (Shuiskij) – Foto: Wilfried Hösl

Dass dieser Boris ein ganz anderer werden würde als in der letzten Saison war von vornherein klar und in der Neubesetzung des Zarenthrons, ergo der Titelpartie, begründet. Leider stand der sensationelle Boris-Gestalter Alexander Tsymbalyuk diesmal nicht zur Verfügung (Planung?), an seiner Stelle tauschte der letztjährige Pimen Anatolij Kotcherga noch einmal die Mönchskutte gegen den Zarenpurpur ein; bzw. hätte dies getan, wenn es sich um eine konventionelle Inszenierung gehandelt hätte. Nun war Kotcherga lange Jahre einer der namhaftesten und gefragtesten Boris-Bässe überhaupt und seine auratische Präsenz ist ungebrochen. Erfreulicherweise präsentierte sich der Künstler auch in ausgezeichneter stimmlicher Verfassung. Über einige Stimmtrübungen im Auftrittsmonolog hatte er sich bald hinweggesungen, sein nachtschwarzes Timbre und der stilsichere, differenzierte Vortrag sind einfach beste russische Schule und ein packendes, durch und durch authentisches Gesangserlebnis. Den Pimen hatte diesmal Ain Anger übernommen, hörbar derselben stilistischen Tradition entstammend und für seine nicht minder eindrucksvolle Leistung ebenfalls gefeiert. Dass der greise Chronist hier sicht- und hörbar so viel jünger und vitaler besetzt war als der Herrscher, war indes schon etwas irritierend; man hätte sich beide auch in der jeweils anderen Partie vorstellen können. Dritter im Bunde der Bass-Giganten war, wie schon letzte Saison, der stimmgewaltige und unwiderstehlich proletig agierende Vladimir Matorin als Warlaam. Gesanglich untadelig agierte der neue Grigorij Dmyrto Popov, darstellerisch nahm man ihm den fanatischen Ehrgeizling und Abenteurer allerdings nicht so ganz ab. Ansonsten war zum größten Teil die gewohnte Besetzung am Werk. Nach wie vor zu den Aktivposten des Abends gehören Gerhard Siegel als gleißnerischer hinterhältiger Fürst Shuiskij, der balsamisch schön und markant singende Markus Eiche als Regierungssprecher Schtschelkalow, die pastose Okka von der Damerau als Schankwirtin und auch Kevin Conners als Gottesnarr, der hier die vermutlich beste Partie seiner langen Zugehörigkeit zur BSO gefunden hat. Aber auch alle anderen Solisten des Ensembles trugen ihren Teil zu einem auf höchstem Niveau homogenen Gesamteindruck bei.

Und natürlich ist der Boris Godunov auch eine der großen Chor-Opern. Eine Gelegenheit für den Staatsopernchor (Einstudierung: Sören Eckhoff) und den Kinderchor (Einstudierung: Stellario Fagone), ihre ganze beeindruckende farbliche und dynamische Bandbreite abzurufen; ganz offensichtlich liebt und verehrt nicht nur das Staatsorchester den neuen Chef, sondern auch der Chor, der seit Saisonbeginn mit grandioser Klangkultur und Präzision aufwartet.

DVD: “Eugen Onegin” aus der Metropolitan Opera

Es gibt sie immer noch, sie sind unter uns: diejenigen Opernzuschauer, die alles immer so haben möchten wie es immer war und die jeglichen Versuch einer ästhetischen oder inhaltlichen Neuentdeckung oder –deutung geradezu als Sakrileg empfinden; mit einem Wort: die Plüsch & Plunder-Fraktion. Für diejenigen, die etwa im Falle des armen Eugen o(h)ne Gin zuletzt von den szenischen „Missetaten“ eines Warlikowski oder Herheim aus wohligem Schlafe aufgeschreckt wurden, ist nun Rettung erhältlich. Denn dieser von der Deutschen Gramophon auf zwei Silberscheiben vorgelegte Mitschnitt aus der New Yorker Metropolitan Opera vom Herbst 2013 ist ein Fest für Regiephobiker und Staubfetischisten, eine fulminante Rolle rückwärts mit Felgenabschwung. Angesichts des hier abgefilmten szenischen Provinzmiefs traut man seinen Augen kaum; wenn es nicht in Farbe wäre und man nicht aktuelle Sängerprominenz ausmachen würde, so könnte man meinen, die DG habe uns eine Aufnahme aus dem Stadttheater Nowosibirsk von 1960 angedreht. Man kann und mag die Klischees gar nicht alle aufzählen, die man hier buchstäblich aufs Auge gedrückt bekommt; wenn das Opernregie sein soll, dann ist Doktor Schiwago, Schnief-Schnief-Schniefschneuf, geradezu ein tollkühner Experimentalfilm. In diesem tristen farblosen Dekor hat sich die „Regie“, so man diese Vokabel hier anwenden möchte, darauf beschränkt, die namhaften Solisten irgendwie so zu platzieren, dass sie nicht weiter gestört werden oder womöglich darstellerische Aktivitäten entwickeln müssten. Dabei zeichnen für dieses Nichts an Inszenierung gleich zwei Regisseurinnen verantwortlich: Deborah Warner und Fiona Shaw; von ersterer stammt das Konzept, letztere hat nach einer Erkrankung Warners dann die Probenarbeit übernommen und den Mitwirkenden die Ein- und Ausgänge gezeigt, weitere Arbeitsnachweise sind nicht erkennbar. Das Bühnenbild stammt übrigens von Tom Pye, die Kostüme von Chloe Obolensky; nur fürs Protokoll.

Onegin DVD

 

Am Pult des MET-Orchesters liefert der großrussische Staatskünstler Valéry Gergiev den passenden Soundtrack zu diesem szenischen Heimatmuseum und dirigiert das Werk so, wie es seit anno Dazumal üblich ist: mit breitem Pinselstrich und dick aufgetragenem Schmalz, flächig, auftrumpfend und pompös. Das klingt teilweise sogar ausgesprochen eindrucksvoll, klangsatt und von imposanter, dunkelglühender Farbigkeit, erinnert aber eher an Boris Godunov als an die „Lyrischen Szenen“, die der Onegin laut Betitelung des Komponisten eigentlich sein soll… Da haben in jüngerer Vergangenheit ein Mariss Jansons, ein Andris Nelsons oder ein Kirill Petrenko andere Dimensionen an charakterlicher Feinzeichnung, emotionaler Wahrhaftigkeit und orchestralen Farbenreichtums aufgerufen. Von solchen Vergegenwärtigungen ist Gergiev weiter entfernt als die MET von einem zaristischen Ballsaal.

Glücklicherweise wird in diesem Mitschnitt aber natürlich auch gesungen, und zwar beinahe durchgehend auf dem Niveau, das man von einem der führenden Opernhäuser erwarten darf. Darstellerisch ist bei Mariusz Kwiecien in der Titelrolle noch etwas Luft nach oben; zumindest in diesem Mitschnitt mit seinen wiederholten Close-ups wäre hin und wieder ein zweiter Gesichtsausdruck eine willkommene Abwechslung. Stimmlich dagegen entfaltet sein ausgesprochen viril timbrierter Bariton verführerischen Glanz und verbreitet dennoch die seelische Kälte dieses eigenbrötlerischen Landjunkers. Auch den emotionalen Zusammenbruch im Schlussduett gestaltet er suggestiv, trotz der schmerzlich klischeehaften Bebilderung; auch hier lässt Doktor Chicago von Pastor Schabernack grüßen…  Im Mittelpunkt des Publikumsinteresses dürfte dennoch Anna Netrebko gestanden haben, die hier, nach dem Wiener Rollendebüt vom letzten Sommer, ihre zweite Tatjana singt. Nun gehört Netrebko sicher zu den am besten dokumentierten Sängerinnen der Jetztzeit; und doch vermag sie einen immer wieder zu überraschen. Sie führt ihre zuletzt deutlich schwerer und dramatischer gewordene Stimme bewundernswert schlank und verbindet so einen jugendlich- lyrischen Klang mit vokalem Gewicht und entsprechenden Reserven. So werden die emotionalen Brennpunkte der Handlung wie die Briefschreibeszene und der Schluss tatsächlich als dramatische Kulmination erlebbar; organisch entwickelt, farbenreich und unangestrengt gesungen. Das ist großes Opernkino! Die Krone des Abends in gesanglicher wie in darstellerischer Hinsicht möchte ich trotzdem Piotr Beczala überreichen. Sein Lenskij ist ein romantischer Schwärmer und glutvoller Feingeist aus dem Opern-Bilderbuch, emphatisch, mitreißend und sympathisch. Das edle, schlackenlos glänzende Timbre besitzt genau jene Balance von Strahlkraft und melancholischer Süße, welche die Partie erfordert, sein Vortrag ist in allen Lagen kultiviert, elegant und natürlich. Die große Weltabschiedsarie „Kuda, kuda“ habe ich lange nicht mehr so bewegend gesungen gehört. Das entschädigt für manche mediokren Momente dieser Einspielung. Guten internationalen Standard repräsentiert Oksana Volkova als Olga, etwas weniger neckisches Gehabe hätte es auch getan. Die ältere Generation ist durch die Larina von Elena Zaremba und die Filipjevna von Larissa Diadkova glänzend vertreten, von Monsieur Triquet in Gestalt von John Graham-Hall hätte ich mir einen Schuss mehr Skurrilität gewünscht. Wie dagegen Alexej Tanovitski an einen Vertrag als Gremin an der MET gekommen sein mag, darüber ließe sich spekulieren… Musikalische Gründe können es kaum gewesen sein; sein dünner und brüchiger, fast schon krächzender Vortrag ist, neben solchen Vokalgrößen zumal, schlicht peinlich.

Auf CD: “Heimliche Aufforderung” – Christiane Karg singt Strauss-Lieder

Ein „Mittelpunkt für Frohsinn, Rat und erste Tat“ sollte das Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz laut der Gründungsurkunde aus dem Jahr 1893 den Münchner Künstlern sein, sieben Jahre später wurde das Neo-Renaissance-Prachtgemäuer von Prinzregent Luitpold persönlich eingeweiht. Ganz so prominent besetzt war die jüngste CD-Präsentation der Firma Berlin Classics in den traditionsreichen Räumlichkeiten zwar nicht, doch die Dichte der anwesenden Journalisten, Kulturfunktionäre und –manager und kulturellen Adabeis konnte sich immer noch sehen lassen. Mit diesem Empfang stellte die Sopranistin Christiane Karg ihr neues Strauss-Album vor; eine CD mit starken München- und Bayernbezügen, wie die Künstlerin schon zur Begrüßung feststellte. Drangvolle Enge herrschte im Millerzimmer, als Christiane Karg und Pianist Malcolm Martineau ihre gemeinsame Arbeit vorstellten, sehr charmant und in anschaulichen und persönlichen Worten, fernab üblicher PR-Phraseologie. Trotz einer unüberhörbaren Indisposition der Sängerin durften einige Live-Kostproben nicht fehlen, die den Saal immer noch an die akustische Grenze brachten und zudem auf sehr eigenwillige Art mit den heißen Jazzrhythmen aus dem großen Festsaal wetteiferten… Das muss der oide Richard schon aushalten, im Jahr seines 150. Geburtstags.

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Der trotz einiger belegter Töne sehr positive Eindruck vom Abend wird beim Anhören der CD mehr als bestätigt. Hier zeigt sich die Sängerin bestens bei Stimme und überzeugt mit einer klugen und persönlichen Auswahl der Stücke ebenso wie durch ihre Interpretation. Christiane Karg gehört zu einer neuen, modernen Generation von Liedsängern und –gestaltern, bei denen opernhafter Stimmprunk, dick aufgetragenes Pathos und (pseudo)romantische Dauererregung nicht mehr angesagt sind. Stattdessen wird der narrative Aspekt betont, mit liedhafter Schlichtheit in Tongebung und Stimmführung agiert und vom Wort her gestaltet, Textwort und Stimmfarbe bilden idealerweise eine Einheit. Diese Qualitäten und dieser Interpretationsansatz prägen auch Kargs Strauss-Album. Hat man noch die hochdramatischen Geschütze im Ohr, die gerade in diesem Repertoire jahrzehntelang abgefeuert wurden, wirkt das zunächst vielleicht gewöhnungsbedürftig, aber Kargs Stimme besitzt genau die richtige Balance von Herbheit und Süße, ist technisch phänomenal und sehr ausdrucksstark. Gerade die Höhe entfaltet immer wieder betörenden Glanz, jedes einzelne Lied wird zu einem geschlossenen Kosmos mit eigener Struktur und eigenem Affektinhalt, im ganzen Programm kommt keinen Moment Monotonie auf. Klassiker wie Zueignung, Allerseelen, Freundliche Vision oder Morgen dürfen in der Kompilation nicht fehlen, daneben stehen aber auch weniger bekannte, zum Teil auch durchaus humorvolle Titel; Ziel der Künstler war es, einen Bogen über das Liedschaffen des Komponisten zu spannen und so dessen Entwicklung nachzuzeichnen. Mein ganz persönlicher Favorit sind die Drei Lieder der Ophelia op. 67 Nummer 1-3. Karg singt hier fast feenhaft schimmernd, macht aber auch den Odem des sanften Wahnsinns spürbar. Und das irrlichternde Perlen, das Malcolm Martineau am Flügel hier unterlegt, ist geradezu magisch. Auch in den anderen Stücken ist er ein sensibler und differenziert aufspielender Partner, dankenswerterweise ist der Klavierpart auf der CD nicht, wie sonst so oft, diskret in den Hintergrund weggemischt, sondern so plastisch und klar aufgenommen wie die Singstimme. In Das Alphorn hat der junge Hornist Felix Klieser einen Gastauftritt, der durchaus aufhorchen lässt.

Unter den Gästen der Präsentation befand sich auch der Bürgermeister von Christiane Kargs Heimatstadt Feuchtwangen, wo die Künstlerin in diesem Jahr ein neues Musikfestival auf die Beine stellt. Der verteilte Programmflyer liest sich jedenfalls interessant genug, um mal den Atlas raus zu kramen…

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www.edelclassics.de

www.christianekarg.com

Bürgerhaus Unterföhring: Faschingskonzert mit dem Kammerorchester der Münchner Philharmoniker – 2.3.2014

Vom Münchner Fasching sagen die Kollegen aus dem Rheinland bekanntlich gerne, das was im Süden der Republik Fasching genannt werde, sei in Kölle eine Beerdigung… Aber was ist mit dem Unterföhringer Fasching? Jetzt seids amoi staad, gell? Naja, passt scho, von Umzügen und närrischem Treiben auf den Straßen und Plätzen war an diesem Sonntag vor Rosenmontag im nördlichen Umland der Landeshauptstadt tatsächlich nichts zu sehen. Der Frohsinn fand vielmehr im Saale statt, im Bürgerhaus nämlich, dort wo der Bürger so haust, einem mattrot lackierten Kubus aus Blech und Glas mit einem Vorplatz… Geradezu die Mutter aller Mehrzweckhallenvorplätze, derart abartig überdimensioniert, dass eine Überquerung ohne Reiseproviant schon sportlich ist; da würden die Vorplätze der Mailänder Scala, der Wiener Staatsoper und der Royal Opera London gemeinsam reingehen und für einen Fußballplatz wäre auch noch Raum. Ja, geschenkt: die genannten Musentempel liegen direkt an der Straße und haben gar keinen Vorplatz; außerdem ist der Baugrund dort noch teurer als im Münchner Speckgürtel. Aber ein wenig Spaß muss schon sein, schließlich ist Fasching und die Unterföhringer waren ganz, halb oder gar nicht kostümiert erschienen, um a Gaudi zu haben, aber ganz a sakrische. Der eher nüchterne große Saal war in Parteitagsbestuhlung, also mit Längstischen, eingerichtet und ausverkauft, dank gastronomischer Vollversorgung bis zum ersten Ton und in der Pause stiegen Alkoholpegel und Stimmung direkt proportional im Laufe des Abends in nahezu bacchantische Dimensionen, Jubel, Klatschmärsche und am Nebentisch wurde laut und ungeniert mitgesungen; hier hat man seine Operette eben noch drauf!

1403-02MuePhilh-UnterfoehringenFasching (46)Das letzte Helau: Cornelia Lanz, Lorenz Nasturica-Herschcowici und Christoph Well (neben der Harfe) 

Bierernst, hier jetzt im doppelten Wortsinne, sollte das ja nicht ablaufen, denn schwer ist bekanntlich leicht was und die heitere Muse immer die schwerste… Aber bevor wir jetzt noch ein Blech Gemeinplätzchen in den Ofen schieben, gehen wir mal in medias res. Zur musikalischen Ausgestaltung der Gaudi hatte man mit dem Kammerorchester der Münchner Philharmoniker entsprechendes Fachpersonal aus der LHS importiert. Und die gaben ihrem Affen nicht bloß würfelweise Zucker, sondern schütteten die ganze Büchse aus, das fetzte, schwang und groovte vom Allerfeinsten, Polka-Hetz und Walzerseligkeit, mal anzüglich-frech, dann tänzerisch beschwingt ging es durch den Abend und Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici – aktueller Faschingsstatus: Du-hast-die Haare-schön! – gab als Dirigent und Primarius in Personalunion alles und ließ die Puppen tanzen. Die Fledermaus flatterte, die Lippen sie küssten so heiß, man lud gern sich Gäste ein, die schöne Donau war blau und Herr Radetzky marschierte; das volle Programm, eine humoristische Breitseite in Dur und moll. Was hier stattfand, war schon ein Gipfeltreffen der virtuosen Rampensäue: Für den folkloristischen Teil war Christoph Well zuständig, bekannt von den Biermösl Blosn und nach wie vor ein Garant für handfeste wie geistreiche Komik. Natürlich gab er seine Moderation des Abends in Form bayerischer Gstanzeln mit der Quetschkomode und brachte im zweiten Teil mit seiner höchstselbst komponierten Alphornsinfonie erst die Gläser in der ersten Reihe zu Bruch und dann die Halle zum Kochen; ein Medley u.a. aus „Yellow Submarine“ bis hin zum Triumphmarsch, da bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Bad Kalau grüßte Unterföhring, mokante Witze über Münchner Konzertsaalplanungen, Brauchtumspflege, Politaffären und die CSU natürlich eingeschlossen; da kreischten dann auch diejenigen der inzwischen etwas derangierten Herr- und Damschaften vor Vergnügen, die ebenjene Staatspartei in zwei Wochen doch wieder wählen werden. Närrische Zeiten fürwahr. In dero karnevalistischem Überschwang kann es dann auch passieren, dass im Programm der gute Leo Fall in Richard umgetauft und die allseits beliebte Lehár-Schmonzette „Dein ist mein ganzes Herz“ vom Land des Lächelns in die lustige Witwe transferiert wird… Aber wie sagte schon Hollywood-Trash-Ikone Ed Wood: Kleinliche Details sind unwichtig! Vervollständigt wurde das Trio infernale der guten Laune durch Cornelia Lanz, deren Auftritte die musikalischen Glanzlichter des Abends markierten. Vor der stilistischen Vielseitigkeit dieser außergewöhnlichen Künstlerin kann man nur den Hut ziehen, das war nicht nur Kitschveredelung à la bonheur, sondern eine Extraportion vokaler Schmeicheleinheiten, eine Demonstration an sinnlichem Mezzoglanz, eleganter Linienführung und genuiner Stimmschönheit. Als geborenes Bühnentier beherrschte Lanz auch unter diesen verschärften Bedingungen Saal und Publikum, charmierte, bezauberte und riss zu Begeisterungsstürmen hin. Ausgerechnet zu Falls „Was machst Du mit dem Knie, lieber Hans?“ zog sie keinen Geringeren als Hans Magnus Enzensberger persönlich aus dem Publikum zu einer spontanen Tanzeinlage aufs Parkett. Ein klarer Fall von Wer ko, der ko!

Beschwingten Gemütes und mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen macht sich der Gast auf den Rückweg, natürlich einmal quer über den… ja, schon gut, den hatten wir schon. Unterföhring Helau!

BR-Symphonieorchester/ Mariss Jansons – 27.2.2014

Richard Strauss hat schöne Musik geschrieben. Doch, wirklich! Das ist, ein entsprechend qualifiziertes Orchester vorausgesetzt, eine Musik zum ungenierten Schwelgen und Genießen, man kann sich hineinfallen und von den Klangfluten davontragen lassen, dazu die morbide dolcezza des Fien de Siècle genießen. Klangrausch pur. Aber man muss Strauss auch nicht mögen, kann das alles für orchestrale Schauturnerei und für Wirkung ohne Ursache halten, für pompöses, abgestandenes Brimborium und ein letztes Hurra einer bereits anachronistisch gewordenen Epoche.

Jansons StraussFoto: Bayerischer Rundfunk

Oder liegt die Wahrheit womöglich in der Mitte? An diesem Abend im Herkulessaal der Münchner Residenz tat sie das in jedem Fall, das Konzert brachte sämtliche Widersprüche und ästhetisch-klanglichen Ambivalenzen glasklar und unsentimental zur Wirkung. Im Februar 1995 – vor sage und schreibe 19 Jahren!- fand meine erste Begegnung mit Mariss Jansons statt; seinerzeit als Gast im Gasteig und am Pult des Oslo Philharmonic Orchestra. Im Gepäck hatte er damals unter anderem den Zarathustra und irritierte das Münchner Publikum mit einer eher puristisch zurückgenommenen, erdig-herben Interpretation dieses klassischen Schmachtfetzens. In den mittlerweile gut zehn Jahren an der Spitze des BR-Symphonieorchesters hat sich Jansons ebenso regelmäßig wie konsequent mit Strauss‘ Tondichtungen auseinander gesetzt und einen ganz eigenen Zugang entwickelt. Geblieben ist ein nach wie vor schlanker und dynamischer Orchesterklang von überragender Transparenz und Tiefenschärfe. Da wabert nichts und knallt nichts, die dynamischen Spitzen werden ebenso wie die großen, beinahe schon cineastischen Klangballungen stets harmonisch aus dem musikalischen Fluss entwickelt und sinnstiftend eingebunden. Der per se romantisch dunkle und volle Klang des Orchesters verbindet sich mit Jansons‘ glutvoller Musizierlust zu einer wunderbaren Synthese. Auch wenn sich die Akustik des Herkulessaals, nicht zum ersten Mal, für derartig große Orchesterbesetzungen als grenzwertig erweist, so geht es Jansons doch nie um den puren Effekt oder die Überrumpelung des Zuhörers, sondern um eine möglichst aufgefächerte Versinnlichung des unmittelbar musikalisch Gegebenen. Allerdings stößt eine solche Lesart bei einer so plakativen Partitur wie Tod und Verklärung, in Musikerkreisen bekanntlich auch Tod durch Verkühlung genannt, an gewisse Grenzen. Selbst Jansons kann diesem schon fast schmerzhaft trivialen Stück nicht in die Strümpfe helfen, wo so wenig musikalische Substanz ist, lässt sich auch keine vortäuschen. Wesentlich besser funktioniert das nach der Pause in Don Juan; hier nimmt der titelgebende Charakter fast sichtbare Gestalt an, so emphatisch vorwärtsstürmend, so sinnlich durchglüht und hybrid auftrumpfend wie Jansons mit seinem fantastischen Orchester hier agiert. Schon der Auftakt reißt einen förmlich hinein in die Welt des spanischen Siglo de oro, gespiegelt von echt romantischer Melancholie und frühmoderner Doppelbödigkeit. Ein Kabinettstück, das alleine schon das Kommen gelohnt hätte!  Die abschließende Walzerfolge aus dem Rosenkavalier nahm man als temperamentvoll und farbenreich musizierten Rausschmeißer gerne noch mit, hat stattgefunden und war schön.

Begonnen hatte der Abend, und das sei keinesfalls vergessen, nicht mit Strauss sondern mit John Adams, genauer gesagt mit dessen Tonpoem Slominsky’s Earbox. Ja genau, hatten wir auch schon, vor vier Jahren an selbiger Stelle und dirigiert von Andris Nelsons. Der Titel bezieht sich auf die von Nicolas Slominsky 1947 herausgegebene Harmonielehre Thesaurus of Scales and Melodic Patterns, das knapp viertelstündige Werk verbindet eine Demonstration von Skalen und Harmonien jeglicher Couleur mit der orchestralen Brillanz eines echten Showpiece. Dass die Musiker des BR-Symphonieorchesters hier ihre gesamte Virtuosität und Musizierlaune ausspielen konnten und Jansons mit Schwung, Präzision und Witz dirigierte, muss kaum eigens betont werden. Für einen weiteren Adams hätte ich Tod und Verklärung gerne getauscht, aber es war ja ein Abonnement- und kein Wunschkonzert… Der lauteste Jubel erklang nach dem Rosenkavalier; München bleibt eben doch München.