Bayerische Staatsoper: Filmpremiere “Orphea in Love” von Axel Ranisch – 17.9.2022

Der Hades beginnt in Bogenhausen

Es gab sogar einen roten Teppich zu Beginn dieser ungewöhnlichen Spielzeitpremiere und drei oder vier echte Paparazzi, darunter der BSO-Haus- und Hof-Fotograph Wilfried Hösl, umschwärmten die eintreffenden Stars. Staatsoper goes to the movies hieß die Devise und Intendant Serge Dorny hatte das Haus geöffnet für die Premiere eines Films, den er selbst mit-initiiert hat. Ein Novum in der langen Geschichte des Hauses.

Oper und Film, die beiden ungleichen Zwillinge des story tellings, können sich inspirieren und von einander lernen, sich aber auch fürchterlich mißverstehen. Regisseure, die beide Klaviaturen virtuos und sinnstiftend zu bespielen verstehen, waren immer selten und nach dem Tod von Patrice Chéreau ist es nur noch ein einziger: der 39jährige Berliner Axel Ranisch. Mehrere große Kinofilme hat er gedreht, dazu zwei „Tatort“-Episoden, mittlerweile eine Reihe von Operninszenierungen und verschiedene Mischformen… dazu ist er auch als Schauspieler und Romanautor hervorgetreten.

Mit Orphea in Love geht er nun all in und inszeniert ein sinnlich überbordendes Meisterwerk, das tatsächlich beide Genres zusammenführt und mit spielerischer Leichtigkeit stilistische Grenzen überwindet. Was ist real, was ist Traum und was undefiniert? So entsteht ein zugleich in sich ruhendes wie ständig fließendes Kontinuum von Raum, Zeit und Handlung. Letztere folgt im Großen und Ganzen dem antiken Orpheus-Mythos, allerdings in die Gegenwart geholt und mit vertauschten Geschlechterrollen: hier ist es die Frau, die es mit den Mächten der Unterwelt aufnimmt, um ihren tödlich verunglückten Geliebten aus dem Schattenreich zu befreien. Dass der Herrscher der Unterwelt – hier ein großkotziger Künstleragent namens Höllberg – den Geliebten nicht einfach aufgrund gesanglicher Rührung frei gibt, sondern als Ergebnis eines Tauschhandels „Sein Leben gegen Deine Singstimme“, webt dem Drehbuch, welches Ranisch gemeinsam mit Sönke Andresen verfasst hat, noch einen ironischen Faust-Moment ein. Entsprechend gerät der Gang in den Hades, hier in Höllbergs Büro am Prinzregentenplatz verortet und mit Flammen, Rauch und dem Geisterchor aus dem Freischütz illustriert, zum traumatischen Trip in die eigene Vergangenheit. Wie das im Einzelnen aussieht und wie es ausgeht, sei hier nicht gespoilert; auf jeden Fall anders als gewohnt.

Vor allem ist Orphea in Love die Liebesgeschichte zweier Außenseiter, die sich singend, tanzend und irgendwie schwebend durch eine ihnen fremde Welt bewegen und ihre eigene Realität erschaffen: die junge Nele, gesegnet mit einer fantastischen Opernstimme, aber verfolgt von Dämonen der Vergangenheit und gefangen in einem miesen Callcenter-Job und der charmante Kleinganove und Taschendieb Kolya, der im ganzen Film nur ein einziges Wort sagt und seine Emotionen ausschließlich in Bewegung und Tanz ausdrückt. Mit welcher Natürlichkeit, Emotionalität und Ausdrucksstärke die Opernsängerin Mirjam Mesak, Ensemblemitglied der BSO, und der Tänzer Guido Badalamenti vom Gärtnerplatztheater die Protagonisten verkörpern, ist schlicht sensationell. Mesaks faszinierende Mimik und Körpersprache, ihr Wechselspiel von Verletzlichkeit, Verzagtheit, Sehnsucht und Stärke bewegt ebenso wie ihr gesanglicher Vortrag, der Arien, z.B. aus Madama Butterfly oder La Wally, zu emotionalen Brennpunkten macht. In seiner schillernden, chamälionartigen Präsenz steht Badalamenti ihr nicht nach, ein irrlichternder Geist, geheimnisvoll und wie nicht von dieser Welt, dessen lausbubenhafter Charme, je nach Licht und Kameraeinstellung auch durchaus dämonische Züge annehmen kann.

Gemeinsam mit seinem Kameramann Dennis Pauls gelingt Ranisch ein knapp zweistündiger veritabler Bilderrausch voller Poesie und melancholischem Zauber, durchbrochen von surrealen und absurd komischen Momenten am Rande der Trashigkeit. Ansichten des Münchner Nobelviertels Bogenhausen wechseln mit geheimnisvollen graffitistrotzenden Unterführungen und lost places wie einem stilgelegten Eisenbahndepot, wo Kolya und seine geheimnisvolle Komplizin hausen; die Schauplätze gewinnen ein Eigenleben. Grandios auch die Musik von Martina Eisenreich, der es gelingt, intensive atmosphärische Dichte zu schaffen und die Opernarien sinnstiftend zu ergänzen.

Neben Mesak und Badalamenti sind wieder zahlreiche Darstellerinnen und Darsteller aus dem Ranisch-Kosmos aufgeboten: Heiko Pinkowski gibt den Höllenfürsten und Agenten mit wunderbar widerwärtiger Schnoddrigkeit und virtuosem Zynismus, Ursina Landi seine skurril überdrehte Partnerin und Operndiva mit Stimmproblemen, Christina Große Neles despotische Chefin und Ursula Werner eine Mutter Couragehafte Diebin. Der gefeierte Rossini-Tenor Levy Sekgapane feuert als namenloser Straßensänger furiose Koloraturketten ab und auch die Gäste aus dem BSO-Ensemble, Tenor Galeano Salas und Bariton Konstantin Krimmel, begeistern mit ihren Einlagearien. Außerdem sind als special guests u.a. Serge Dorny in einem selbstironischen Cameo-Auftritt als Opernintendant, Schlagerbarde Christian Steiffen – doch, den gibt es wirklich und er heißt auch so! – und die Berliner Elektro Punk-Ikone Rummelsnuff zu erleben.

Orphea in Love ist ein cineastischer Cocktail, wie ihn wohl wirklich nur Axel Ranisch zu mixen versteht, ein hochpoetischer, berührender und zugleich saukomischer Film, eine einzige Liebeserklärung an die Oper, die Liebe und alle, die ihre Träume leben. Das muss man gesehen haben!

Wie hatte Ranisch in seiner Einführung so schön gesagt: „Lachen Sie! Weinen Sie! Benehmen Sie sich daneben! Wonach Ihnen auch immer sein mag“. Man soll es ja nicht verschreien… aber möglicherweise haben wir das Regie-Highlight der BSO-Saison ja bereits gesehen?

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Im Kino: “Ich fühl mich Disco” von Axel Ranisch

Wie geht es Einem, wenn man „sich Disco fühlt“? Gute Frage. Da helfen weder Arzt, Apotheker noch Packungsbeilage, sondern nur noch Axel Ranisch. Der Berliner Filmemacher mit Opernfaible, zuletzt mit dem Crossover-Projekt The bear/ La Voix humaine bei den Münchner Opernfestspielen aktiv (siehe Archiv Juni 2013), hat nämlich seinem zweiten Kinofilm diesen Titel verpasst. 

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Nun macht ein origineller Titel alleine noch keinen guten Film, die Gegenbeispiele lassen sich bekanntlich stapeln. In diesem Fall ist allerdings der gesamte Film so abgefahren wie der Titel ahnen lässt, unverhohlen autobiographisch, ja geradezu exhibitionistisch, und mit überbordender Fabulierlust erzählt der Regisseur die Geschichte seiner Kindheit und Jugend nach, in weiten Teilen zumindest: vom dicklich-tapsigen, liebenswert unbeholfenem, musisch veranlagten und schon mehr als nur latent schwulen Florian und seinem Vater Hanno, einem schnauzbärtigen und schmerbäuchigen Koloss, der absurderweise als Turmspringtrainer arbeitet und aus seinem verträumten Filius auf Biegen und Brechen ein „richtiges Mannsbild“ machen will. Der dagegen hängt lieber seinen romantisch-homoerotischen Phantasien nach, verliebt sich natürlich zielsicher in den Falschen und tobt mit seiner seelenverwandt gepolten Mutter in grotesker Maskerade durch die Wohnung, wobei die beiden mit Inbrunst die zotigen Mitgröhl-Songs ihres Lieblings-Schlagerbarden Christian Steiffen schmettern… Christian wie? Das ist kein Witz, den gibt es tatsächlich, er nennt sich auch im wirklichen Leben so und die Lieder aus dem Film sind auf CD erhältlich; wer es nicht glaubt: http://www.christiansteiffen.de! Hier gibt es solche Perlen deutscher Lyrik zu bestaunen wie „Das Leben ist nicht immer nur Pommes und Disco/ Das sage ich Dir/ Manchmal ist das Leben auch nur eine Flasche Bier“ oder „Und die ladies in the house/ Sehen prima aus/ Ich fühl mich Disco/ Ich fass mir in den Schritt/ Und alle machen mit/ Ich fühl mich Disco…“. Als Florians Mutter nach einem Schlaganfall ins Koma fällt (nach einer Überdosis Christian Steiffen?), müssen die beiden irgendwie miteinander auskommen und der Wahnsinn schaltet noch einen Gang rauf.

Nun gibt es ähnliche Plots, die ganzen Coming out- und Vater-Sohn-Konflikte im Kino ja wie Sand am Meer. Aber so virtuos, so abgedreht und hochtourig wie Axel Ranisch hat wohl noch keiner eine solche Geschichte erzählt. Ranisch fährt hier gewissermaßen ein emotionales Formel Eins-Rennen, wechselt manchmal innerhalb einer Szene vom Gaspedal auf die (Spaß)bremse, legt sich furios in die Kurve und läßt die Kupplung kommen, bis der ganze Saal vor Vergnügen schreit. Die Komik bewegt sich immer haarscharf am Abgrund, der Film stürzt aber nie ab, sondern bleibt immer noch gerade so auf Kurs. Die Christian Steiffen-Songs werden knallhart kontrastiert mit Klavierwerken von Rachmaninov, vom Skurrilen zum Anrührenden, von der schrillen Persiflage bis zur puren Poesie ist es immer nur ein winziger Schritt, Ich fühl mich Disco verrührt Kunst mit Kitsch, Trash mit Tränen und puren Klamauk mit tiefem Gefühl. Da wechseln geschliffene und eher ungelenke Dialoge munter einander ab, Wortwitz und Situationskomik bilden die abenteuerlichsten Allianzen, da wird humoristisch scharf geschossen, hart gegen sich und andere. Da spielt Florians Mutter noch als Komapatientin in bewegenden Traumsequenzen mit, da begegnet der sturzbesoffene Vater in der Kneipe dem leibhaftigen Christian Steiffen, haut ihm erst aufs Maul und läßt sich dann Tipps geben für den Umgang mit schwulen Sprößlingen und schließlich brilliert Ranischs Lehrmeister und Vorbild Rosa von Praunheim höchstpersönlich in einem Gastauftritt, der an augenzwinkernder Absurdität kaum noch zu überbieten ist; in seinen besten Momenten erinnert der Film an die österreichische 80er-Jahre- Kultserie Kottan ermittelt und andere Trash-Ikonen.

Was Ich fühl mich Disco so besonders macht? Ganz einfach: dass noch über dem größten Klischee und dem tranigsten Kalauer das Wort LIEBE steht. Denn Ranisch verrät seine Figuren nicht und wahrt ihnen eine unzerstörbare Würde. Für so einen Balanceakt braucht man Schauspieler, die das verstehen und umsetzen können. Und da ist die Besetzung handverlesen, allen voran der offenbar unentstellbare Heiko Pinkowski als Vater Hanno, der fast bis zum Schluß fast alles falsch macht, was falsch zu machen geht, und den ungleichen Sohn am Ende doch für sich gewinnt; ein physisch und charakterlich schwerer Mensch, der kaum Vordergründe zu besitzen scheint. Eine große Talentprobe bietet auch der 16jährige Frithjof Gawenda als Florian und Christina Grosse spielt die Mutter mit großer komödiantischer Geste und ebensolcher Herzenswärme. Prägnant auch die kleineren Rollen, allen voran Robert Alexander Baehr als Radu, das Objekt von Florians Begierde, der mit spürbarer Freude sämtliche Berliner Ghetto- und Proletenklischees aufmarschieren lässt.

Ich fühl mich Disco? Na klar! Und irgendwie würde es einen auch nicht wundern, wenn das demnächst auch im Duden stünde… 

http://www.disco-film.de

Bayerische Staatsoper meets Filmkunst: “The Bear/ La voix humaine” im Theatiner – 23.6. 2013

Die Theatiner Filmkunst mag für manche ein Kino sein, für andere ist es schlichtweg eine Kultstätte; Münchens letzte Bastion der cineastischen Hochkultur gegen die Vulgarität der Multiplexe. Praktischerweise liegt es, gut versteckt unter einer Passage, kaum hundert Meter Luftlinie vom Nationaltheater entfernt. Rein räumlich gesehen, ansonsten lagen bislang Lichtjahre dazwischen. Was Wunder, ist doch das Verhältnis zwischen Oper und Kino, diesen beiden Traumfabriken und Sehnsuchtsorten, diesen stämmigen Ästen der Unterhaltungsindustrie, alles andere als unproblematisch. Denn natürlich begegnen sie sich, beeinflussen und inspirieren sich; ob sie das wollen und es sich bewußt machen oder auch nicht. Da gibt es Filmregisseure, die plötzlich Opern inszenieren, oder zumindest so tun, da wird auf der Opernbühne mit Videokunst, Projektionen und Filmeinspielungen gearbeitet und gezielte Bildzitate aus der Welt des Kinos eingesetzt, etwa wenn der Minister in Bietos Münchner Fidelio-Inszenierung in der Maske des Jokers aus Christopher Nolans The Dark Knight erscheint (was die meisten Opernkritiker nicht zu dechiffrieren vermochten)… Und auf der anderen Seite wird auch die Musik als cineastischer Ausdrucksträger immer wichtiger und opernhafte Momente prägen viele moderne Filme. Und dann gibt es auch noch das, mittlerweile etwas aus der Mode gekommene, Genre des Opernfilms, technisch aufwändige Verfilmungen beliebter Opern. In ca. 98 Prozent der Fälle ist letzteres schiefgegangen und hat uns so gruselige Produkte wie Francesco Rosis Carmen oder zuletzt Jens Neuberts Freischütz beschert. Und doch funktionieren sie so unterschiedlich, sind die technischen Produktionsprozesse wie auch die Rezeptionsbedingungen grundlegend andere. Einen Film kann man sich immer wieder und wieder anschauen – zum 500. Mal Casablanca oder zum 364. Mal Lord oft he Rings, kein Problem. Der Film bleibt immer derselbe, jeder Akzent, jede Geste, jede Lichtstimmung. Dagegen gleicht keine Bühnenaufführung der anderen, der 500. Don Giovanni ist ebenso ein Unikat wie der allererste und selbst wenn an fünf Abenden einer Serie dieselbe Besetzung auf der Bühne steht, ist keine Aufführung mit den anderen identisch. Über diese Kluft zwischen beiden Kunstformen kommt man nicht drüber, no chance.

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Das “Trio infernale”: Heiko Pinkowski, Stefanie C. Braun und Peter Trabner in “The Bear” (Foto: Wilfried Hösl)

Es sei denn, es sei denn… man wagt eine Quadratur des Kreises. Nicht weniger haben nun die Bayerische Staatsoper und die Produktionsfirma „Sehr gute Filme“(!) versucht. Was man dafür braucht: profunde Genrekenntnisse auf beiden Seiten, eine zündende Idee und eine gewisse Portion positiver Beklopptheit und Hybris. Na, wenn es weiter nichts ist?! Der junge Berliner Filmemacher und bekennende Opernenthusiast Axel Ranisch scheint über all das in reichem Maße zu verfügen und hat tatsächlich eine gewisse Synthese hinbekommen. Wie soll man das Ergebnis nun nennen? Kino-Oper, Opernfilm, Happening oder Performance? Auf jeden Fall hat es sakrisch viel Spaß gemacht! Ranisch verknüpft in seinem Projekt zwei Kurzopern aus dem 20. Jahrhundert, nämlich William Waltons „Extravaganz in einem Akt“ The Bear und Francis Poulencs Monodram La voix humaine. Abgesehen von einer gewissen dramaturgischen Eigenwilligkeit und der Tatsache, dass in beiden Stücken eine unglückliche und verlassene Frau im Mittelpunkt steht, haben beide absolut nichts mit einander zu tun. Großartige Voraussetzung also, um hier etwas wirklich Eigenes und Originelles zu schaffen. Den Walton hat Ranisch zunächst schlicht und ergreifend verfilmt, in einer monströs plüschig- überladenen Szenerie, als ironisch immer wieder durchbrochene Kitschorgie in gelblichem Dämmerlicht. Die Geschichte geht, mal wieder, auf Anton Tschechow zurück: eine junge Gutsbesitzerwitwe wird von einem Gläubiger ihres Verblichenen aufgesucht und findet in diesem am Ende des Tages einen neuen Liebhaber; freilich erst nach einem aufreibenden und gnadenlos komischen Psychokrieg, der beinahe in einem Duell mündet. „Extravaganz in einem Akt“ fürwahr. Das wäre alleine schon ein wunderbar hintersinniges und absurdes Spektakel, aber Poulencs szenischer Monolog fügt dem noch eine Dimension hinzu. Denn dieser findet live im Kino statt und unterbricht zweimal den Film um an dessen Ende dann selbst den Abend abzuschließen. Der gesamte Kinosaal wird als Spielfläche genutzt, Personen treten aus dem Film hinaus in den Raum und wieder zurück (Woody Allens Broadway Danny Rose läßt grüßen…), erzählte Zeit und Erzählzeit entsprechen sich: während der Live-Performance steht die Handlung auf der Leinwand nämlich still, und zwar nicht als Standbild, sondern bei weiterlaufender Kamera. Hab ich so auch noch nicht gesehen. So sieht man etwa die Witwe Popova lesend auf dem Sofa, während sich Poulencs Protagonistin hektisch telefonierend (das Werk besteht aus einem großen Monolog, einem letzten Telefonat der Frau mit ihrem vormaligen Geliebten) durch die Sitzreihen zwängt und sich schließlich selbst ins Gesicht blickt – denn natürlich werden beide Frauenrollen von derselben Darstellerin verkörpert, der großartigen Sopranistin Stefanie C. Braun. Mit ihrer farbenreichen Stimme, ihrer umwerfenden Präsenz und vis comica und ihrer unglaublich wandlungsfähigen Schauspielkunst auf Leinwand und Bühne (wie viele Opernsängerinnen fallen einem ein, von denen man ein brauchbares Close-up drehen kann? Eben!) trägt sie das gesamte Konzept. Wie das bei großen Bühnenkünstlern so ist, gehen auch hier Singen und Spielen ineinander über, verschmelzen zu einer Einheit. Sie ist das Kraftfeld des Abends und gibt über 90 Minuten ein virtuoses Duett mit sich selbst, ein Zwiegespräch zwischen Trauer, Abstoßung, Anziehung, Ironie und schieferer Bedeutung. Das gilt gleichermaßen für die überspannte und völlig irrationale Tschechow-Figur wie für diejenige von Poulenc; wie Stefanie C. Braun hier deutlich macht, wie inmitten des zunächst banalen Geplauders die ersten Risse aufbrechen, wie infam manipulativ das Ganze eigentlich ist und wie existenziell verzweifelt es endet, das ist, jawohl, ganz großes Kino! Im wahrsten Sinne des Wortes. Und Poulencs Musik ist alles andere als einfach zu singen, zumal die extrem trockene Akustik des Kinosaales nicht wirklich hilfreich ist und die stark modernisierte deutsche Textfassung nicht immer unsperrig aus der Kehle fließt… Sophie Reynaud am Klavier erwies sich da als souveräne und sichere Wegbegleiterin durch den aberwitzigen Psycho-Dschungel, ebenso wie bei Walton das Kammerorchester unter der Leitung von Richard Whilds.

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Stefanie C. Braun im Gespräch mit sich selbst (Foto: Wilfried Hösl)

Als zweite direkte Verbindung zwischen den Ebenen fungiert die Figur des Dieners Luka, der hier auch in der Live-Aufführung als stumme Rolle mitspielt und dabei häufiger direkt die Seiten wechselt. Der Schauspieler Heiko Pinkowski gibt dieses stumme Faktotum, das direkt aus einem Marthaler-Stück entlaufen sein könnte, mit stoischer Präsenz und viel Mut zur skurrilen Aufmachung in kurzen Hosen und einer riesigen Nerd-Brille. Manchmal muß man gar nichts sagen um zu wirken… Stimmlich gedoubled wird Pinkowski von Tareq Nazmi aus dem Ensemble der Staatsoper. Dieser, wie auch der Bariton Wiard Witholt und die Sopranistin erscheinen in ihrer Eigenschaft als Sänger auch immer wieder in Form gerahmter Vignetten in den Film eingeblendet; nicht ganz neu, aber immer noch gern genommen.  Den titelgebenden Bären im Film gibt Peter Trabner angemessen vollbärtig und mit urwüchsiger Landjunker-Attitüde. Hier hat wirklich type-casting in Reinkultur stattgefunden.

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Ist das hier ein Film, oder was? (Foto: Wilfried Hösl)

Schade nur, dass so wenige aus der Oper bekannte Gesichter den kurzen Weg hinüber gefunden hatten; so war es für das cineastische Stammpublikum ein echtes Heimspiel. Lag es daran, dass dieses von Haus aus etwas experimentierfreudiger veranlagt ist oder an der nahenden Trovatore-Premiere? Schließlich muss für Anja & Jonas das Styling aufgefrischt, die Kleidchen flottgemacht und der gute Anzug aufgebügelt werden…! Vielleicht erleben wir ja auch am Max-Joseph-Platz mal wieder ein wenig vom frechen Witz und der Spielfreude dieses köstlichen Experimentes? Wär doch schön.

Im Kino: “Hänsel und Gretel: Hexenjäger” von Tommy Wirkola

“Don’t eat the fucking candy…!”

Kann es sein, dass die Brüder Grimm uns nur die halbe Geschichte erzählt und das Beste verschwiegen haben? Jetzt jedenfalls ist im Kino eine etwas andere Version zu erleben, eine ganz ganz andere sogar… natürlich beginnt auch diese mit dem armen, im Wald verirrten Geschwisterpaar, dem Knusperhäuschen und der Hexe im Ofen, doch ist dies nur Vorgeplänkel und nach zehn Minuten abgehandelt. Es folgt ein Zeitsprung von ca. 15 Jahren, inzwischen sind Hänsel (der sich in der englischen Originalfassung natürlich „Hansel“ schreibt…) und Gretel zu feschen und selbstbewussten Twens herangewachsen. Vor allem aber drehen sie gewaltig den Spieß um und sind als professionelle Hexenjäger und –killer bestens im Geschäft. Ab jetzt wird aufgeräumt und scharf geschossen im deutschen Wald und die Zauberschwestern haben nichts mehr zu lachen, gleich reihenweise werden sie massakriert von zwei coolen, erbarmungslosen Youngstern im engen schwarzen Lederoutfit, mal mit Feuer, oder auch mit Schwert oder gleich mit den seltsamen, zugleich antik und futuristisch aussehenden Schusswaffen. Inszeniert hat diesen extrem blutigen und latent unappetitlichen Spaß der norwegische Regisseur Tommy Wirkola. Hier wird ganz tief in die Special Effects-Kiste gegriffen: Hexen werden im Flug mittels aufgespannter Drähte in Scheiben geschnitten oder verändern permanent ihre Gesichtszüge, aus geheimnisvollen Schönheiten werden verzerrte Digital-Monster-Fratzen und vice versa, halbe Wälder fliegen in die Luft und zum Hexensabbat treten die Schwarzmagierinnen in Kompaniestärke an… irgendwas ist immer los, irgendwie scheinen die Lebkuchen vom Knusperhaus mit synthetischen Drogen getränkt gewesen zu sein. Spielen tut das Ganze im mittelalterlichen Augsburg (Hänsel: „Gibt’s in dem Kaff irgendwo was zu trinken?“) und es gibt sogar so etwas Ähnliches wie eine Handlung, nämlich dass die fiese Oberhexe Mina (Pihla Vitala) zwölf Kinder und Gretel als Nachkomme einer weißen (also guten) Hexe entführen lässt, um aus dero Blut und Herzen in einer Blutmondnacht ein Elixir zu brauen, welches die Hexen unempfindlich gegen Feuer machen soll… Außerdem treten natürlich dezente erotische Versuchungen an die Geschwister heran, für Hänsel in Gestalt der guten Zauberin Muriel (ganz zauberhaft: Famke Janssen), bei Gretel ist es der fesche Bürgerssohn Ben (Thomas Mann; doch, der heißt wirklich so!) und außerdem ist da noch Edward. Edward ist ein Troll, dient ursprünglich der Oberhexe, verliebt sich, King Kong lässt grüßen, in Gretel und wird von dieser umgedreht… Überhaupt wird hier die Filmgeschichte mal wieder gut gefleddert, Wirkola nimmt nicht nur Anleihen beim Meister des Schmunzel-Horrors, Tim Burton, sondern auch beim „Herrn der Ringe“ sowie diversen Klassikern des SciFi- und Splatterkinos. Wirklich Sinn macht das Ganze nicht, aber wo steht geschrieben, dass eine Filmhandlung welchen machen muß?! Und wenn die Dramaturgie lahmt und die Geschichte Löcher bekommt, wird eben noch wem der Kopf abgeschlagen, the show must go on. Bei einem solchen visuell-technischen Overkill haben es die Darsteller von Haus aus schwer, zumal diese eher in der zweiten Hollywood-Liga unterwegs sind. Während Jeremy Renner als Hänsel kaum mehr als eine leicht blasierte Instant-Coolness zu bieten hat, gewinnt Gemma Arterton ihrer Rolle zumindest ein paar Nuancen ab oder wie Hänsel so schön sagt: „Meine Schwester fragt immer nach Beweisen, bevor jemand gegrillt wird!“. Aber das kann auch ein Versehen sein, denn fünf Minuten ohne Blutvergießen, Totschlag, Folter, Feuersbrunst oder technischen Hokuspokus scheinen für den Regisseur verlorene fünf Minuten zu sein und die wilde Jagd geht schon in die nächste Runde. Großes Kino? Sicher nicht, aber für einen kalten, verregneten Mittwochabend im März taugt es allemal…