Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf: “La Sonnambula” – 12.3.2023

Bergtour ohne Absturz

Die Rheinoper zeigt Bellinis La Sonnambula als sinnliche Phantasmagorie in Schwarz und Lila

Das Prekäre an Bergtouren und Gipfel(er)stürmungen, sportlichen wie künstlerischen, ist, dass sie neben beeindruckenden und überwältigenden Panoramen auch etliche Gefahren beinhalten. Nicht nur Strauss’ Alpensymphonie oder Catalanis Alpen-Walküre Wally weisen musikalische wie szenische Gletscherspalten auf, in denen schon manch eine Aufführung auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Selbiges gilt auch für Bellinis in einem namenlosen Bergdorf im Schweizer Oberland angesiedeltes melodramma La Sonnambula, ein Werk, das mit seinem fast schon provokativ idyllischen Setting und seiner kaum noch verargumentierbaren Handlung nördlich des Alpenhauptkammes nie die Popularität der Norma und der Puritani erreicht hat. Oder um es anders auszudrücken: eine Oper, mit der die Zunft der modernen Regisseure und Stückdeuter traditionell wenig anzufangen weiß; wenn überhaupt wandelt die Sonnambula eher in konzertanter Form durch die Spielpläne, szenische Umsetzungen, über reine Bebilderung hinaus reichende zumal, blieben selten, die Stuttgarter Produktion von Jossi Wieler und Sergio Morabito von 2012 bildete da eine geradezu monolithische Ausnahme.

Dem happy end ganz nahe: Edgardo Rocha (Elvino) und Stacey Alleaume (Amina) – Foto: Monika Rittershaus

Eine durchaus ambitionierte Auseinandersetzung hat nun auch die Rheinoper gewagt – und auf der ganzen Linie gewonnen, ohne musikalischen oder szenischen Absturz. Regisseur Johannes Erath ist das Kunststück gelungen, die Handlung und die Charaktere von jeglicher Tümelei und Heimatmuseumhaftigkeit zu befreien, ohne den poetisch-sinnlichen Zauber der Oper zu beschädigen.Mit viel Liebe zum Detail trägt die Regie die Schichten einer eigentlich trivialen, ja abstrusen, Geschichte ab und schafft eine ganz eigene phantasiereiche Ästhetik, in deren Bildersprache der eigentliche Schauplatz nur noch in Form gelegentlicher ironischer Anspielungen vorkommt. Ein zentrales Element, wie so oft bei Erath, ist der Einsatz von Doubles, der allerdings nicht immer so gut funktioniert wie hier: alle Protagonisten treten auch als gespiegelte Versionen ihrer selbst auf, treten damit aus den Rollen oder verkörpern ihre eigenen Alter Egos. Das ist szenisch sehr gut gelöst und geht ineinander über, da kommt es auch vor, dass einer plötzlich nur noch den Mantel seines Gegenübers in der Hand hält, weil die Person wie von Geisterhand verschwunden ist. Bernhard Hammer hat für dieses traumwandlerische Vexierspiel eine horizontal zweigeteilte Bühne entworfen, in der unteren Hälfte findet die eigentliche Opernhandlung statt – die bei Erath obligatorische weißgedeckte Festtafel wird hier von violetten Sitzkissen eingerahmt – während die obere einen ebenfalls abstrakten verschneiten Raum zeigt, in dem reelle Spielszenen, aber auch Videoeinspielungen von Winterlandschaften und den verzerrten Porträts der Protagonisten (Video: Bibi Abel) zu sehen sind; lediglich die Reihen schwarzer, durchnumerierter Pfeiler geben Rätsel auf. Auch die Kostüme von Jorge Jara sind, abgesehen von den immer wieder symbolisch auftauchenden knallweißen Brautkleidern, überwiegend in Schwarz und viel Lila gehalten und weisen in die Gegenwart. In Kombination mit dem stimmungsvoll changierenden Lichtdesign von Nicol Hungsberg entsteht ein träumerisch-entrückter, sinnlich-opulenter und attraktiv anzuschauender Bilderbogen, eine Phantasmagorie in Schwarz und Lila, die keine Wirklichkeit abbildet, sondern sich eine eigene schafft.

Alles auf Lila (Foto: Monika Rittershaus)

Eine echte stimmliche Gratwanderung ist auch die Titelrolle des schlafwandelnden Waisenmädchens Amina, deren atemberaubend virtuose Finalarie Ah, non credea mirarti… Non giunge uman pensiero dem Ganzen die Krone aufsetzt und jene erregende Mixtur aus vokalem Nervenkitzel und Exzentrik beschwört, für die der Kulturschock die Opern des Belcanto und romanticismo so liebt. Natürlich war diese Sonnambula für die verehrte hauseigene Primadonna Adela Zaharia angesetzt worden und die Enttäuschung über deren krankheitsbedingte Absage der gesamten Produktion zunächst groß. Doch dann geschah ein mittleres Opernwunder und die hierzulande bisher praktisch unbekannte neuseeländisch-mauretanische Sopranistin Stacey Alleaume eroberte die Bühne wie die Herzen straight ahead. Alleaume verströmt puren Liebreiz, Anmut und jugendliche Frische, die Koloraturen perlen wie an der Schnur gezogen, die Spitzentöne kommen sicher und ohne Druck; und doch versteht die Künstlerin es, nicht nur virtuos ihre Noten abzufeiern, sondern erfüllt jede Phrase mit Wärme, Ausdruck und Tiefe. Schon jetzt eine der Entdeckungen der Saison!

Nicht in jedem weißen Kleid steckt eine Braut… (Foto: Monika Rittershaus)

Ihren amante, den reichen und charakterlich wankelmütigen Großbauern Elvino, gibt Edgardo Rocha mit viel tenoralem Schmelz und stilsicherem Vortrag, allerdings hätte der Kulturschock sich eine etwas differenziertere Gestaltung der ständig wechselnden Affekte gewünscht; ob Verliebtheit, Eifersucht oder Selbstmitleid, das kam bei Rocha alles recht gleichförmig rüber. Ein weiterer Trumpf der Besetzung ist Bogdan Talos als Conte Rodolfo, dessen profunder, weich abgerundeter und wunderbar auf Linie geführter Schwarzbaß wie immer die pure Freude war. Auch darstellerisch überzeugt seine Charakterstudie dieser merkwürdig ambivalenten Figur zwischen Altklugheit und Hallodritum. Heidi Elisabeth Meier als intrigante Rivalin und Hotelwirtin Lisa spielt mit vollem Einsatz, ihr Sopran ist im Vergleich zu Alleaume kühler und herber im Timbre, was die Figurenkonstellation sehr gut abbildet. Katarcyna Kuncio als Aminas Ziehmutter Teresa überzeugt ebenso wie Valentin Ruckebier als pfiffiger Alessio, beide runden eine Ensembleleistung ohne Schwachstellen ab.

Ungewohnt differenziert und mit den Sängern atmend zeigte sich diesmal Antonino Fogliani am Pult der Düsseldorfer Symphoniker, vielleicht hatte auch er sich von Alleaumes Aura und emotionaler Unmittelbarkeit inspirieren lassen? Auch das Orchester und der von Patrick Francis Chestnut einstudierte Rheinopernchor zeigten sich, der sonst eher weniger geliebten Nachmittagsstunde zum Trotz, äußerst inspiriert und in bester Musizierlaune. Eine Aufführung aus einem Guss, mit der dem Haus ein echter Volltreffer gelungen ist.

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Eine Aufzeichnung dieser Vorstellung ist ab dem 21. April 2023 bei Operavision online abrufbar unter https://operavision.eu/performance/la-sonnambula-0

Aaltotheater Essen: “Lucrezia Borgia” – 10.3.2023

Laster, Leidenschaft, Dekadenz, Nepotismus, schwüle Sinnlichkeit, blutige Verbrechen und Ausschweifungen aller Art – der Name Borgia steht für so ziemlich alles, was wir an der Renaissance so lieben, bzw. gerne in sie hineinphantasieren. Dabei hat vor allem Lucrezia B., die Tochter Papst Alexanders VI., die Exzesse ihrer Sippe stets verkörpert wie wenige historische Figuren und erlangte schaurige Berühmtheit als Giftmischerin und mehrfache Mörderin; eine Opernfigur wie geschaffen für das düster-erotische Panoptikum Gaëtano Donizettis.

Hoch die Tassen und Juchu – Orsini im Kreise seiner Kumpane (Foto: Bettina Stoess)

Hier darf, ja muß, auf der Bühne das ganz große Rad gedreht werden, müssen Blut und Belcanto über die Rampe strömen und sich zu einem veritablen Sinnenrausch vereinen. Davon war in der Essener Neuinszenierung leider wenig, um nicht zu sagen praktisch nichts, zu spüren, die großen Emotionen vermißte man ebenso wie eine zündende szenische Idee. Dabei hatte der Regisseur Ben Baur im Programmheft-Interview gar von sich behauptet, ein „Belcanto-Freak“ zu sein. Was genau er darunter versteht, wurde in keinem Moment deutlich, weder übersetzte sich ein Interesse für die Charaktere noch überhaupt eine Idee, wie man die Handlung für ein heutiges Publikum sinnstiftend erzählen könnte. Als sein eigener Bühnenbildner entwarf er einen nichtssagenden Einheitsraum mit Natursteinwänden und brennendem Kamin und einem roten Vorhang. Die Kostüme von Uta Meenen sind größtenteils relativ neutral, mit einem krassen ästhetischen Fehlgriff für Duca Alfonso. Die Personenführung ist stereotyp bis unvorhanden, die wenigen Einfälle gehen ins Leere; etwa wenn Orsini zum großen, durchaus homoerotisch aufgeladenen, Duett mit Gennaro im senffarbenen Kleid als Lucrezia-Double erscheint. Auch die Idee – oder sollte man besser sagen: Masche? – den szenischen Leerlauf durch Zusatzpersonal wie Bischöfe, Tänzer oder die Geister der verstorbenen Kinder Lucrezias aufzumöbeln, versandet. Das ist einfach schlecht kaschierte Regieverweigerung.

Nun steht und fällt eine Oper aus der Epoche des Belcanto, bzw. des romanticismo, natürlich mit der aufgebotenen Sängerbesetzung und da galt die letzten Jahrzehnte für uns alte Lateiner, in Abwandlung Julius Caesars, die Devise Aut Grubi, aut nihil oder auch Es kann nur eine geben… Sich vom vokalen Glanz und Gloria zahlreicher Lucrezia-Abende mit der Königin in der Titelrolle innerlich freizumachen, ist ebenso notwendig wie es unglaublich schwer ist. Das Erbe ihrer Majestät wiegt eben entsprechend. Dabei mag durchaus helfen, dass Jessica Muirhead keine genuine Donizetti-Interpretin, sondern eine gute und bewährte Sopran-Allrounderin ist, bei der ein Vergleich mit der Gruberova von vornherein in weiter Ferne liegt. Die Stimme verfügt über eine breite, warm schimmernde Mittellage mit erstaunlicher Leichtigkeit in den Übergängen und einiger vokalen Stamina, lediglich vor den rasenden Koloraturketten und der exaltierten Virtuosität der – hier wohlweislich stark gekürzten – Finalarie muß sie kapitulieren, was dem Abend hinten raus dann doch die Spitze abbricht und einen etwas schalen Eindruck hinterläßt. Zudem tut sich Muirhead auch darstellerisch und in ihrer in sich ruhenden Ausstrahlung schwer, die psychotische Mörderin glaubhaft zu machen. Auch bei Almas Svilpa als Alfonso d’Este, seines Zeichens Lucrezias vierter Ehemann, sollte man nicht jeden Ton auf die stilistische Goldwaage legen. Als Herzog von Ferrara und cholerischer Provinzdespot weiß der Sänger, am Aalto seit etlichen Jahren im baß-baritonalen Universaleinsatz zwischen Leporello und Holländer unterwegs, durchaus zu überzeugen, die teilweise sehr hohe, dann wieder tiefe Tessitura dieser undankbaren Partie meistert er souverän.

Diva am Kamin: Jessica Muirheas als Lucrezia (Foto: Bettina Stoess)

Demgegenüber hat Oreste Cosimo in der romantischen Desperado-Partie des Gennaro ein sprachlich-stilistisches Heimspiel und konnte regelrecht „abräumen“. Das tat er mit Begeisterung, seine Italianità, das attraktive Timbre, die jederzeit sichere und strahlende Höhe und der romantische Sehnsuchtston seines Vortrags waren in jeder Hinsicht mustergültig; so gehört Donizetti gesungen und man darf getrost davon ausgehen, Cosimo bald auch an weiteren guten und besten Adressen der Opernwelt zu begegnen.

In der Travestierolle von Gennaros Freund Maffio Orsini punktet Na’ama Goldman mit androgyner Ausstrahlung und herbfrischem Spiel, weniger mit ihrem eher kleindimensionierten Mezzo, der sich in der tiefen Lage kaum gegen das Orchester durchsetzen konnte und in der Höhe nicht immer fokussiert klang. In den kleineren Partien agierten Edward Leach (Liverotto), Baurzhan Anderzhanov (Gazella), Karel Martin Ludvík (Petrucci), Joshua Owen Mills (Vitellozzo), Rocco Cavaluzzi (Gubetta) und Mathias Frey (Rustighello) solide.

Anstelle des designierten neuen Chefs Andrea Sanguineti stand in dieser Dernière mit Pietro Rizzo ein Routinier am Pult der Essner Philharmoniker, die am Vorabend einer großen Premiere und Uraufführung hörbar wenig motiviert waren, hier noch einen Repertoireabend runterzuschrubben; entsprechend flau und mit ungewohnt hoher Patzerquote wurde diesmal musiziert.

Gehabt Euch also wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: “Dido and Aeneas…Erwartung” – 29.1.2023

Zwei Welten, weit auseinander

Die BSO verschraubt Purcell mit Schönberg

Die Kombination zweier unterschiedlicher Werke zu einer double bill, einem gemischten Opern-Doppel, bedeutet nicht nur für den Zuschauer two for the price of one, es kann im Idealfall auch ungeahnte theatrale Reibungsenergien freisetzen und spannende Korrelationen zwischen auf den ersten Blick konträren Kompositionen und Handlungsentwürfen aufzeigen. Wie gesagt: kann. Muss aber nicht. In der jüngsten Neuinszenierung der BSO, die Henry Purcells gediegen barockes Sagenstündchen Dido and Aeneas mit Schönbergs expressionistischem Monodram Erwartung verschraubt bis es im Dramaturgengebälk knirscht, sollte wohl mit Gewalt zusammenwachsen, was nicht zusammen gehört. Das Ergebnis vermag wenig zu überzeugen; nicht nur, das beide Werke eigentlich nicht für die große Opernbühne gedacht und geeignet sind, auch der inhaltliche Konnex – in beiden Stücken geht es bekanntlich um eine verlassene Frau – ist eher dünn. Wenn dazu noch eine über weite Strecken problematische Besetzung kommt, wird es schwierig.

Partytruppe im Wald (Foto: Winfried Hösl)

Was Regisseur Krysztof Warlikowski an dieser Konstellation interessiert hat und wo er Anknüpfungspunkte zwischen beiden Geschichten – so man das als solche bezeichnen kann – sieht, wird ebenfalls nicht deutlich. Mit dem Erzählen logisch verknüpfter und nachvollziehbarer Geschichten hat Warlikowski es bekanntlich eh nicht so, die stärkste Wirkung entfalten seine Arbeiten zumeist dann, wenn eine Oper mehr uneigentlich-symbolistischen Überbau denn Handlung enthält. So gesehen hätte Schönbergs Monodram Erwartung, ein 35minütiger Monolog einer namenlosen, emotional überreizten Frau, die im nächtlichen Wald ihren Geliebten sucht und ihn schließlich tot auffindet, eigentlich genau sein Ding sein müssen. De facto gerät allerdings auch dieser Schlußabschnitt des, pausenlos durchgespielten, Abends eher mau, nicht einmal auf die Frage, ob es sich hier um eine in der Zeit gereiste Dido oder um einen völlig anderen, autonomen Charakter handelt, gibt Warlikowski wirklich eine Antwort, die Leichen der von Dido ermordeten Figuren aus dem ersten Stück geben ebenso wenig Aufschluß wie eine etwas kryptische Pantomime. Noch wesentlich schwächer und belangloser war der Purcell-Teil geraten, in welchem die Königin mißmutig durch Malgorzata Szcześniaks Einheitsbühnenbild stapft; eine vergrieselte Winterlandschaft (Video: Kamil Polak) mit einer Art Ferienhaus – das als Symbol der Trennung in zwei Teile auseinanderfährt – und einem Oldtimer, bevölkert von bunt gestylten Freaks. Auch hier berühren sich offenbar Welten, die nichts miteinander zu tun haben, die Bebilderung ist ebenso beliebig wie die Personenführung, was eigentlich Didos Problem ist und woran ihre Beziehung (?) zu Aeneas zerbricht, bleibt komplett im Dunkeln. Der mit Abstand originellste Abschnitt des Abends ist ausgerechnet ein vermutlich eher als Notlösung geplantes Intermezzo, in der die Besatzung des Zauberwaldes zu fetzig verfremdeten Elektroklängen von Pawel Mykietyn eine von Claude Bardouil virtuos choreographierte Streetdance-Einlage auf die Bretter legt. Eine Etage tiefer wird derweil das Orchester auf Schönberg-Format verstärkt…

The Sorceress ist im Anmarsch (Foto: Winfried Hösl)

Um dieses Gebilde zusammenzuhalten oder ihm gar einen Sinn zu geben, hätte es einer charismatischen und in beiden Stilen kompetenten Singdarstellerin von außergewöhnlichem Format bedurft… In zwei Worten: Barbara Hannigan. Leider musste man mit Ausrine Stundyte vorlieb nehmen, einer Sängerin, deren Karriere der Kulturschock zu den größerem Mysterien des heutigen Opernbusiness zählt. Für eine filigran-schlichte und ausschließlich auf Klangfarben, Nuancen und Reinheit des Tons basierende Musik wie die von Purcell ist Stundytes scharfkantiger, diffus artikulierender Sopran eine geradezu groteske Fehlbesetzung, da fehlt es eigentlich an allem: Wärme und Rundung des Tons, Textverständlichkeit, Technik, messa di voce. Bei Schönberg agierte sie zwar stimmlich idiomatischer, blieb aber ebenfalls gestalterisch blass und in der tiefen Lage nicht wirklich präsent.

Staatsoper München DIDO & AENEAS_ERWARTUNG Regie: Krzysztof Warlikowski Ausstattung: Matgorzata Szczesniak Licht: Felice Ross Vidéo: Kamil Polak Collaboration artistique: Claude Bardouil

Auch der sonst sehr schätzenswerte Günter Papendell tat sich mit der relativ hoch notierten Partie des Aeneas schwer und mußte seinen prachtvollen Bariton immer wieder mit mehr als nur sanftem Druck auf Barockformat herunterdimmen. Die Kostümierung als verlebter alter Zausel und Antiheld von Kopf bis Fuß half dem Eindruck auch nicht wirklich auf die Sprünge. Für echte Lichtblicke in diesem öden Einerlei sorgten zwei BSO-Debütanten: Victoria Randem als in Stimme, Spiel und Erscheinung pralle Sinnlichkeit und pure Erotik verströmende Belinda und der Countertenor Key’mon Murrah, der aus der Sorceress ein zwischen Wurstigkeit und Dämonie changierendes Kabinettstückchen macht. Rinat Shaham (Venus) und Elmira Karakhanova (First Witch) runden das Dido-Ensemble ab.

Nicht wirklich abgeholt hat den Kulturschock diesmal auch das Staatsorchester unter der Leitung des Hausdebütanten Andrew Manze, dessen Dirigat ähnlich konzeptlos wirkte wie der gesamte Abend. In der Erwartung waren die Damen und Herren im Graben zumindest routiniert expressionistisch unterwegs und konnten, trotz einer etwas pauschalen Interpretation, somit noch etwas Boden gutmachen. Denn zuvor schien alles vergessen, was Ivor Bolton seinerzeit hier in den 1990er Jahren schonmal an barocker Spielkultur und -lust aufgebaut hatte; so schwerfällig, steif, kompakt und einheitslaut mochte man Barockmusik eigentlich schon vor zwanzig Jahren nicht mehr hören.

Fazit: ein weiterer BSO-Abend, der viele Fragen offen läßt, insbesondere die, warum er stattgefunden hat.

Gehabt Euch also wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: “I masnadieri” – 24.1.2023

Wenn zwischen der Premiere einer Neuinszenierung und deren zweiter Vorstellung fast drei Jahre vergehen, kann etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. So war es hier und um welche Dinge es sich handelte, dürfte klar sein; tatsächlich war jene Premiere am 8. März 2020 die vorletzte Aufführung vor der langen Zwangspause und auch der Versuch einer Wiederaufnahme wurde gelockdownt, so dass Verdis schauerromantische Räuberbande erst jetzt wieder ihr Unwesen auf der Staatsopernbühne treiben konnte; und das vor erfreulich voller Hütte.

Die Oper stammt aus Verdis Frühphase, den sog. „Galeerenjahren“ und weist zwar einiges an etwas aufgesetzter Schmissigkeit auf und scheint zuweilen mit der heißen Nadel zusammengenäht – was der Librettist Andrea Maffei aus Schillers Drama zusammengekocht hat, spottet eh jeder Beschreibung – , doch ist das schon ein echter Verdi mit Schmelz und Schmackes und einer individuellen, vor Leidenschaft schier berstenden Klangsprache. Bemerkenswert ist jene bereits hier durchaus ausgeprägte Tendenz zum Nihilismus, die der Maestro später in Werken wie Simon Boccanegra, La forza del destino oder auch Otello so eindrucksvoll abgefeiert hat.

Familienaufstellung im Düsterschloß (Foto: Wilfried Hösl)

Auf jene Düsternis und Gedankenschwere setzt auch Regisseur Johannes Erath in seiner, nach Un ballo in maschera von 2016 (siehe Archiv März 2016), zweiten Münchner Verdi-Exegese. Da findet sich (zu ) viel aus dem Ballo auch in den Masnadieri wieder: die Verwendung von Doubles, das Rückwärtsgehen, der Mosaikboden, die Gardinen, durch die gelegentlich ein Windstoß gepustet wird; weils dramatisch ausschaut, nicht weil es was erzählen täte… Dennoch wirken die Masnadieri insgesamt stringenter, da Erath hier durchaus ein Konzept hatte und dieses auch konsequent durchzieht. Das in mattem Schwarz gehaltene Einheitsbühnenbild von Kaspar Glarner, der auch die ebenfalls größtenteils schwarzen Kostüme entworfen hat, zeigt ein protziges, von seltsamen Lemuren und vampyresken Gestalten bevölkertes Düsterschloß, den unheimlichen und lichtlosen Sitz der schrecklichen Familie Moor. Die Regie konzentriert sich voll und ganz auf die Familienaufstellung und das Aufzeigen unheilvoller Verstrickungen des Clans, während die Räuberbande selbst nur sehr im Hintergrund vorkommt. Der Raum wird durchaus praktikabel variiert durch rein- und raus, bzw. Im Kreis fahrende lange Tische, an denen die Mitglieder des Moor-Clans, bzw. Ihre Doubles und alter Egos in wechselnder Konstellation Platz nehmen, im dritten Akt deuten einige Tannenbäume den Wald an und ganz zum Schluß gibt es mit einer Gruppe weißer Hirsche noch einen etwas aufgesetzten Ausflug in den Symbolismus. Das ist alles soweit solide und routiniert szenisch erzählt, die durchaus vorhandenen Längen des Werkes werden allerdings nicht kürzer, zumal das dauernde Schwarz irgendwann die Augen ermüdet.

Romantischer Grübler mit Tenorstrahl: Charles Castronovo (Carlo) – Foto: Wilfried Hösl

Musikalisch wurde die Aufführung zu Recht gefeiert. Anstelle der Premierenbesetzung Diana Damrau übernahm nun Lisette Oropesa die Amalia und begeisterte mit Virtuosität, Innigkeit und sinnlich schimmerndem Vortrag. Im Gegensatz zu Damraus hellem Timbre ist Oropesas Stimme ungleich dunkler und sinnlicher gefärbt und offenbart eine große Bandbreite an Farben und Nuancen; eine in sich sehr stimmige und ausdrucksvolle Interpretation, die diese eigentlich eher undankbare Partie erheblich aufwertet und für einen absoluten Hörgenuß sorgt! Auf demselben überragenden Niveau agiert auch Charles Castronovo als Carlo, der in der Mittellage über die melancholische Schwere des romantischen Grüblers und Desperados verfügt, aber auch, wo gefragt, mit metallisch strahlenden Spitzentönen aufzutrumpfen versteht. Einen leichten Anflug von Heiserkeit im zweiten Teil überspielte der Künstler sehr gekonnt und souverän; wieder ein ausgezeichneter Auftritt des Sängers, der mittlerweile durchaus das Attribut Publikumsliebling verdient hat. Igor Golovatenko, wie Castronovo bereits 2020 mit von der Partie, gibt den Oberfiesling Francesco – così si chiama la canaglia – darstellerisch wie stimmlich sehr hemdsärmelig. Sein ausladender Bariton macht durchaus Eindruck, zumindest für die Wahnsinnsszene zu Beginn des vierten Aktes hätte man sich allerdings doch eine zweite Farbe gewünscht.

Lisette Oropesa (Amalia) in Wildbegleitung – Foto: Wilfried Hösl

Der alte Graf und Clanchef Moor, Massimiliano, ist keine sehr große Rolle, erfordert allerdings einen erstrangigen Bassisten mit entsprechender Authorität. Die war durch das frühere Ensemblemitglied Christian van Horn absolut gegeben, mit markanten Baßtönen und einer gewissen Knorrigkeit des Timbres setzte er mit jedem Auftritt Akzente. Kevin Conners gibt den zwielichtigen und undurchschaubaren Butler Arminio mit hellem Charaktertenor und schleichender Präsenz und auch Jonas Hacker als Räuber Rolla sowie der stimmgewaltige Alexander Köpeczi als Beichtvater Moser runden das Ensemble ab. Der Staatsopernchor in der Einstudierung von Stellario Fagone zeigte zumindest vokal Präsenz, auch wenn der Regie zum Kollektiv wenig bis nichts eingefallen war.

Das Staatsorchester unter der Leitung von Antonino Fogliani brauchte an diesem zweiten Abend der Serie eine gewisse Anlaufzeit, um sich nach etwas behäbigem Beginn auf den Stil und das Temperament des jungen Verdi einzugrooven, entwickelte aber im Lauf des Abends dann den wünschenswerten Drive.

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: “Lohengrin” – 3.12.2022

Jetzt gilts! – Dachte sich mancher Premierenbesucher im Vorfeld der diesjährigen Vor-Weihnachtspremiere der BSO, denn nach einer insgesamt eher durchwachsenen und mit Raritäten und Randwerken bestückten ersten Saison der neuen Intendanz stand nun endlich die erste Neuproduktion eines „Brot & Butter-Stückes“ an; eines jener großen Repertoireklassiker, mit denen jedes Opernhaus sich präsentieren kann und die entsprechend „sitzen“ müssen. Und wenn es auch noch Wagner ist, also praktisch direkt aus der DNA des Hauses, dann kennt die Spannung kaum Grenzen. Befreiungsschlag oder Euphoriebremse? Triumph oder Reinfall? Am Ende des Tages war es nichts davon, sondern einfach ein brav vor sich hin mäandernder Premierenabend, der vom Publikum eher freundlich indifferent aufgenommen wurde, selbst die obligatorischen Regie-Buhs klangen eher nach müder Pflichterfüllung denn nach echter Empörung.

Dem Helden laut zu höchstem Preise? (Foto: Wilfried Hösl)

Daher beginnt der Kulturschock diesmal mit der, durchaus akklamierten, musikalischen Seite des Abends. Kritik auf sich gezogen hat dabei einer, der gar nicht da war: GMD Vladimir Jurowski nämlich. Dass der Chef eines der Champions League-Opernhäuser bei einer der wichtigsten Premieren dem Pult fernbleibt, ist schlicht unverständlich. Angst vor dem Erbe der Väter, bzw. dem Vergleich? Die zuweilen geäußerten Mutmaßungen, das die Position vielleicht eine Nummer zu groß für Jurowski sein könnte, lassen sich so jedenfalls schwerlich entkräften…

An seiner Stelle war mit dem aktuellen Kölner Musikchef François-Xavier Roth ein Gast eingeladen worden, dem ein großer Ruf als Klanginterpret und Werkhinterfrager voraus ging. Mit seinem Originalklangensemble Les Siècles hat Roth für Furore gesorgt und eine entschlackte, lebendige Sicht auf die Musik der deutschen und französischen Romantik entwickelt. Ähnliches schwebte ihm wohl auch für Lohengrin vor, allerdings blieb die Deutung eher in Ansätzen stecken. Den irrisierend schimmernden Beginn des Vorspiels hat man schon zarter und entrückter gehört, danach spann Roth mit dem, seiner Linie nicht immer so ganz folgenden, Staatsorchester agogisch feinsinnige Klangfäden, eine insgesamt sehr hellstimmige, transparente und komplett pathosfreie Lesart, der es allerdings in den entscheidenden Momenten einfach an emotionaler Intensität, Dramatik und den unverzichtbaren Gänsehaut-Momenten – für die Wagner nunmal steht – fehlte. So blieb bei aller orchestralen Klarheit gestalterisch leider vieles im Ungefähren, den zur Zeit um den Dirigenten betriebenen Medien-Hype kann der Fabius nach diesem Abend nicht wirklich nachvollziehen.

Auch die Sängerbesetzung bot, abgesehen vom fulminanten Rollendebüt von Publikumsliebling Anja Kampe als Ortrud, wenig Aufregendes. Mit ihrer bekannt explosiven Bühnenpräsenz ist Kampe jederzeit Mittelpunkt des Geschehens und verfügt auch stimmlich über das gesamte Panorama von schmeichelnd verlogener Verführung über offenen Hohn bis hin zum markerschütternden Furor in den „Entweihten Göttern“ und „Fahr heim“, wo sämtliche Synapsen Stehplatz hatten. Gerade vor wenigen Wochen war die Künstlerin in Berlin für ihre Brünnhilden gefeiert worden, deren Dominanz und vokale Frauenpower hatte sie von der Spree mitgebracht an die Isar.

Morgens ein Joint… Ortrud (Anja Kampe) und Elsa (Johanni van Oostrum) mit Tiefenentspannung – Foto: Wilfried Hösl

Die Elsa hatte Johanni van Oostrum mittelfristig von der ursprünglich vorgesehenen Marlis Petersen übernommen und erwies sich, einer bemühten schauspielerischen Leistung zum Trotz, stimmlich als etwas unterdimensioniert, ohne das atmosphärelose, aber akustisch durchschlagende Bühnenbild wäre ihr relativ flach und stets etwas spitz klingender Sopran vermutlich untergegangen. Da fehlte es vielfach an Volumen und Rundung, aber auch an technischer Sicherheit, vor allem bei langbogigen Phrasen rutscht die Stimme gegen Ende des öfteren in den Hals. Mika Kares sang einen stimmgewaltigen, allerdings auch eher monochromen Heinrich und Johan Reuter einen blassen und irritierend hell timbrierten Telramund; vor allem im ersten Akt klang die Stimme regelrecht verbraucht, von Danish Dynamite konnte keine Rede mehr sein. Ein Lichtblick war der kultiviert auf Linie gesungene und sehr schönstimmige Heerufer von André Schuen; warum man allerdings in Zeiten knapper Kassen hierfür einen Gast holen mußte, wo man mit Konstantin Krimmel einen mindestens gleichwertigen Sänger im Ensemble hat, muß man nicht verstehen. Der vom aktuellen Frankfurter Maestro del Coro Tilman Michaelgastweise einstudierte Staatsopernchor zeigte sich bestens disponiert und als Fels in der Premierenbrandung.

Die Titelpartie? Wer da auf eine spannende oder gar unkonventionelle Besetzung gehofft hatte, wurde einmal mehr enttäuscht. „Keine Experimente!“ lautete die Devise und so durfte Klaus Florian Vogt einmal mehr den Schwanenritter geben, mit allen hinlänglich bekannten Charakteristika seines Timbres und Vortrags.

“Nehmen wir doch den da…!” Klaus Florian Vogt (Lohengrin) – Foto: Wilfried Hösl

Nach drei szenisch komplett gefloppten Wagner-Premieren in Folgewaren die Erwartungen an den hierzulande noch relativ unbekannten Kornél Mundruczó eher überschaubar und in der Tat offenbarte der bisher wenig opernaffine ungarische Filmregisseur nicht nur ein eher fragwürdiges Konzept, sondern auch etliche handwerkliche Schwächen in dessen Umsetzung. Insbesondere mit einer halbwegs sinnstiftenden Chorführung war die Regie vollends überfordert, aber auch die Solisten wirkten weitgehend auf sich gestellt. Dass sich Elsa nach unverhofftem Aufstieg zur First Lady von Brabant genüßlich eine Tüte baut und wenig später mit Ortrud gemeinsam einen durchzieht, war da schon der mit Abstand originellste Einfall. Und, wenn man ehrlich ist, auch so ziemlich der einzige.

Bald ist Weihnachten… (Foto: Wilfried Hösl)

Mundruczó siedelt das Stück in einer Art Untergangs-Sekte an, in der lediglich Elsa eine nicht näher definierte Außenseiterrolle spielt. Dementsprechend ist Lohengrin keine numinose Erscheinung oder Utopieträger, sondern ein X-beliebiges Gemeindemitglied, das aus der Menge gezerrt wird und den Helden mimen muß. Das allein ist schon sehr dünn und trägt das Geschehen nicht. Um die entscheidenden Fragen des Werkes, nämlich, was es mit diesem seltsamen Mann-Gott-Held-Hybriden aus Montsalvat auf sich hat, was die Begegnung mit dem „ganz Anderen“ – wie Peter Konwitschny das nannte – mit einer Gesellschaft macht und welche Rolle politisch-militärische Macht spielt und wodurch sie legitimiert wird, mogelt sich der Regisseur dezent herum. Praktisch sieht das so aus, dass eine uniforme Gemeinschaft in schlabbrigem Einheitslook zwischen Weiß und Rentnerbeige (Kostüme, hart an der Grenze zur Arbeitsverweigerung: Anna Axer-Fijalkowska) in einem weißlackierten und irgendwie an das schwedische vier-Buchstaben-Möbelhaus erinnernden Holzkasten (Bühnenbild: Monika Pormale) zusammengepfercht wird. Im ersten und dritten Akt enthält der Kasten noch etwas domestiziertes Grün, im zweiten eine Pforte mit Balkon und adventskalenderähnliche Fensteröffnungen. Ganz am Schluß senkt sich ein zerklüftetes schwarzes Gebilde herab, offenbar ein Meteorit, der die Zivilisation auslöscht und lediglich Gottfried übrig läßt. Noch so ein aufgesetzter out-of-the-blue-Einfall, der nicht ins Zentrum führt.

Die gute Nachricht: die BSO hat wieder einen Lohengrin. Die schlechte: es ist dieser, musikalisch höchstens solide und szenisch dürftig. Ein Befreiungsschlag für den extern wie intern wenig geliebten Intendanten hätte anders ausgesehen.

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Aaltotheater Essen: “Tannhäuser” – 6.11.2022

Manchmal reicht eine einzige Silbe, um einen immerhin vierstündigen Opernabend relativ erschöpfend zusammenzufassen. „Tja“ lautete nämlich das eher so halb artikulierte Fazit meines stoisch-gemütlich in sich ruhenden Sitznachbarn und das erscheint dem Kulturschock als ein durchaus angemessener Kommentar. Denn das, was Regisseur Paul-Georg Dittrich zusammen mit seinen Ausstatterinnen Pia Dederichs und Lena Schmid da auf die Bühne des Aalto gebracht hatten, wäre mit „kryptisch“ oder „verkopft“ eher unzureichend beschrieben. Sicherlich hat der Regisseur sich eine Menge Gedanken gemacht und für ihn selbst macht das alles bestimmt einen Sinn, dem Publikum übersetzt sich dieser allerdings höchstens andeutungsweise, an Rätselhaftigkeit überbietet diese Version sogar die Vorgänger-Inszenierung von Hans Neuenfels. Und das will schließlich schon etwas heißen.

Venus, jetzt allein zu Haus… (Foto: Förster)

Die Grundidee besteht darin, neben den Gegenpolen der Venusberg- und der Wartburgwelt noch eine dritte Ebene einzuziehen, verkörpert – wie sonst – durch eine dritte Frauenfigur. Diese ist der sonst namenlose Hirtenknabe aus dem 1. Akt, der bei Dittrich zu einer Verkörperung der Frau Holda wird, jener ursprünglich germanischen Gottheit des Frühlings und der Jugend, die später vom Christentum dämonisiert wurde und die der Hirte so unbekümmert besingt. Das ist zwar eine relativ dünne Assoziationskette, hätte theoretisch dennoch spannend sein können; wenn solche Gedankenspiele erkennbar irgendwohin führen würden. So hüpft und tanzt Christina Clark – die den Hirten schon bei Neuenfels gesungen hatte – abendfüllend als weißgeflügeltes Engelchen durch die Szene, gefolgt von drei jungen Mädchen in Latzhosen und mit fliederfarbenen Haaren. Das sollen vermutlich dero Töchter sein und führen irgendwelche unverständlichen Rituale durch. Repräsentiert werden Venusberg und Wartburg durch zwei bekannte Kunstwerke: erstere durch ein fast bühnenfüllendes liegendes Modell der Venus von Milo, letztere durch Rafaels Fresko Die Schule von Athen. Warum allerdings, teilweise recht unappetitliche, Filmchen von Labor- und Sezierszenen auf den Torso projeziert werden (Video: Vincent Stefan) und am Ende des ersten Aktes die Minnesänger das echte Labor in Brand setzen, erschließt sich, wie so vieles andere, nicht. Überhaupt scheint Dittrich erfüllt von Panik, es könnte mal für einige Momente nichts passieren oder die Musik könnte einfach mal für sich wirken… Zumindest im 1. und 3. Akt ist entsprechend ständig irgendwas oder irgendwer in Bewegung. Dagegen ist der 2. Akt in seiner prärafaelitischen Kitsch-Ornamentik, von ein paar albernen Mätzchen abgesehen, Langeweile pur. Dass hier laut der Regie auch eine Zeitreise stattfinden soll, mußte man gelesen haben, zu sehen wars nicht. Der 3. Akt schließlich führt in die Neuzeit und in ein Museum. Auf einer langen Sitzbank unter dem Rafael-Gemälde nehmen Tannhäuser, Elisabeth, Venus, Wolfram, Holda und eine ihrer Töchter Platz, bzw. stehen mal auf, agieren und setzen sich wieder hin oder laufen aufgeschreckt durch den halberleuchteten Zuschauerraum. Währenddessen überstreicht eine weitere der Holda-Töchter – warum auch immer -das Gemälde mit weißer Farbe. Dies soll auf das Konzept des anatomischen Theaters von Jürgen Gosch aus den 1980er Jahren zurückgehen, in dem die Figuren sich durch Tausch ihrer Bühnenidentität sozusagen gegenseitig psychologisch sezieren und verschiedene Möglichkeiten eines Was-wäre-wenn ausspielen. Das wirkt hier nicht nur wenig sinnstiftend, sondern streift schon teilweise die unfreiwillige Komik und stört die Wirkung der Musik erheblich… Ob Dittrich mit Musik wirklich etwas anzufangen weiß, darf zumindest bezweifelt werden.

Sängerkrieg als prärafaelitische Kitschorgie: der 2. Akt (Foto: Förster)

Leider ließ sich auch die musikalische Seite des Abends größtenteils nur mit „Tja“ bewerten. Vor allem das Dirigat von Tomáš Netopil enttäuschte diesmal und blieb deutlich unter seinen bisherigen Einstudierungen am Haus. Wie gewohnt setzt Netopil auf einen romantisch-vollmundigen Mischklang, läßt aber Differenzierung und Akzente vermissen, die Partitur wird in einem flächigen Einheitssound abgespult, zuweilen hat man beinahe den Eindruck, der am Saisonende scheidende GMD sei innerlich bereits aus dem Ruhrpott abgereist. So lauwarm und neutral darf Wagner nicht klingen!

Mit vollem Einsatz warf sich hingegen der kurzfristig eingesprungene Zurab Zurabishvili in die Titelpartie. Sich eine derartig eigenwillige Regie in anderthalb Tagen draufzuschaffen, nötigt an sich schon Respekt ab und auch gesanglich war das, von einigen kleinen Unsicherheiten und Texthängern abgesehen, sehr solide. Zurabishvili beeindruckt vor allem mit sicheren und metallisch strahlenden Spitzentönen, in Sachen Legato und Pianokultur wäre hingegen im Idealfall noch Luft nach oben. Die beiden zentralen Frauenfiguren – Frau Holda mal außen vorgelassen – sieht Dittrich als Schwestern im Geiste, dementsprechend sind beide auch vom Stimmtypus her relativ ähnlich besetzt. Astrid Kessler errscheint zu Beginn mit ihrem eher kühl timbrierten, vibratoreichen Sopran über die Elisabeth schon ein wenig hinaus, im Verlauf des Abends fügt sie sich zunehmend in die Rolle und findet zu besser fokussiertem und differenzierterem Vortrag. Auch Deirdre Angenent als Venus verfügt über einen druckvollen dramatischen Sopran mit kraftvoll sehniger Höhe. So punktet sie insbesondere am Schluß des ersten Aktes und am Ende der Oper, wo für viele Mezzosoprane schonmal Ende Gelände ist; auf eine klangsatte Tiefe und charakteristische Mezzofarbe muss man allerdings leider verzichten. Einen wenig überzeugenden Einstand gab der neue Ensemble-Bass Sebastian Pilgrim als Landgraf. Da fehlt es vor allem in der Tiefe an Schwärze und Volumen, mit seinem eher baritonalen Timbre und multschigen Diktion übersetzt sich die landesfürstliche Autorität nicht wirklich.

Elisabeth (Astrid Kessler) und Venus (Deirdre Angenent) als Schwestern im Geiste (Foto: Förster)

Für den sängerischen Höhepunkt des Abends sorgt Aalto-Urgestein Heiko Trinsinger, Ensemblemitglied seit 1999, der bereits 2008 bei Neuenfels den Wolfram gesungen hatte und der Partie auch diesmal gestalterisch Profil verleiht. Auch wenn der Künstler inzwischen bereits in deutlich dramatischeren Gefilden unterwegs ist, hat er sich die lyrische Linie des Vortrags bewahrt und weiß im Abendstern-Lied mit berührender Schlichtheit zu überzeugen, aber im zweiten Akt auch vokal zuzupacken. Das Ensemble der Minnesänger, bzw. hier eher Anhänger einer obskuren Sekte, ist mit Mathias Frey (Walther), Andrei Nicoara (Biterolf), Raphael Wittmer (Heinrich) und Karel Martin Ludvik (Reinmar) grundsolide besetzt. Präzise und mit großer Klangfülle singt auch diesmal der Chor des Aaltotheaters, einstudiert von Klaas-Jan de Groot.

Tja. Das war sie also, die erste Neuproduktion der neuen Intendanz. Ganz am Schluß wird auf das weiß übermalte Fresko als ironische Anmerkung zu Wagners berühmtem Bonmot, er sei der Welt noch den Tannhäuser schuldig, eingeblendet: „Wir sind Euch noch was schuldig…“. Dem ließ sich am Ende des Tages schwerlich widersprechen.

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: “La fanciulla del West” – 16./23.10.2022

Dreieinhalb Jahre ist es her, dass die BSO Puccinis La Fanciulla del West in den Sattel gesetzt hat, eine Oper, die für den Kulturschock noch immer sträflich unterschätzt ist und die er zu den besten Werken des Komponisten zählt: faszinierend ambivalente und vielschichtige Charaktere, ein ungewöhnliches setting und eine ungemein farbenreiche und kompositorisch bemerkenswert moderne Partitur.

Die Gründe für diese verspätete Wiederaufnahme sind nun allseits bekannt und der Besetzungszettel der aktuellen Serie verzeichnet nur noch wenige „Relikte“ der Premiere, neben zahlreichen comprimarii waren auch das Protagonisten-Trio und der Dirigent erstmals in ihren Rollen zu erleben. Der Vergleich mit der ursprünglichen Besetzung? Drängt sich natürlich auf; und fällt fast durchgehend zu ungunsten der aktuellen aus.

Fotos: Wilfried Hösl

Dabei legten fast alle Beteiligten zwischen diesen beiden Vorstellungen, der ersten und der dritten der Serie, eine fulminante Steigerung auf die Bühne, bzw. In den Graben. Das galt ganz besonders für den Dirigenten Daniele Rustioni; hatte er mit dem, nicht gerade über-probiert klingenden, Staatsorchester am ersten Abend hauptsächlich auf dröhnende Lautstärke, breite tempi und wuchtige Akzente gesetzt, um den Laden überhaupt zusammenzuhalten, so entfaltete er eine Woche später ein prächtiges, differenziertes Orchesterspiel voller Farben, Zwischentöne und wohldosierter Dramatik. Das war durchaus großes Klang-Kino und definitiv etwas für gehobene Ansprüche.

Ähnlich war es mit der schwedischen Sopranistin Malin Byström als Minnie, der titelgebenden fanciulla. Auch sie tat sich zunächst schwer mit der Partie, kämpfte, nicht immer erfolgreich, gegen die gnadenlose Massivität des Orchesters an und mußte das Publikum überzeugen, dass man die Partie auch lyrischer singen und introvertierter spielen kann als Publikumsliebling Anja Kampe in der Premiere. Am zweiten Abend nahm sie die Vorlage vom Pult dankbar an, sang freier und sicherer und wirkte auch in Spiel und Körpersprache ungleich gelöster und lebhafter, so dass ihr am Ende ein spannendes, individuelles und auch ausgezeichnet gesungenes Rollenporträt gelungen ist.

Die beiden cavalieri boten gesanglich Grundsolides, konnten mit ihren Rollenvorgängern, einer Steigerung am zweiten Abend zum Trotz, allerdings nicht wirklich mithalten. Von der selbstbewußt-virilen Ausstrahlung und stimmlichen wie darstellerischen Intensität von Brandon Jovanovich als Johnson war bei Jonas Kaufmann wenig zu spüren. Eher routiniert als inspiriert entledigte er sich der Partie und gab einen eher grüblerisch-mürrischen Räuberhauptmann auf dem Weg in die kriminelle Altersteilzeit. Der großgewachsene Claudio Sgura als Jack Rance verfügt über einen klangvollen Bariton, beschränkt sich aber darstellerisch auf breitbeinige Macho-Posen; das ist selbst für einen Sheriff arg wenig. An John Lundgren in der Premiere mit seiner furchteinflößenden Präsenz durfte man gar nicht denken. Kevin Conners als Barkeeper Nick und Balint Szábó als Ashby waren bereits 2019 am Start und boten auch diesmal präzis gezeichnete Randfiguren. Aus dem, ebenfalls zum Teil neu besetzten, Ensemble der Goldgräber stachen vor allem Tim Kuypers (Sonora), Blake Denson (Larkens) und Sean Michael Plumb (Wallace) heraus.

Geblieben ist natürlich auch die minimalistisch-praktische Inszenierung von Andreas Dresen in den Bühnenbildern von Mathias Fischer-Dieskau. Diese erspart sich und uns platte Wildwest-Klischees und erweist sich zumindest als brauchbar und repertoirefähig, da sie den Sängern hinreichend Spielräume für eigene Akzente läßt und einen funktionalen Rahmen der Handlung bietet.

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

BR-Symphonieorchester/ Tugan Sokhiev – 29.9.2022

Es ist nicht nur Ozapft, sondern auch Ostimmt in diesen Tagen in der Landeshauptstadt; während das vielzitierte größte Volksfest der Welt schon auf der Zielgeraden ist, kommen traditionell die kulturellen Leuchttürme aus der Sommerpause. Nach der BSO, die mit einem gemischten Doppel von Britten und Verdi, genauer gesagt mit den beiden tenoralen Außenseitern Peter Grimes und Don Carlo, eröffnet hat, trat nun auch endlich das BR-Symphonieorchester wieder aufs Podium.

Und das nicht nur in numerisch ganz großer Besetzung, sondern auch in phänomenaler musikalischer Frühform; ein großartiger Konzertabend, den der Kulturschock so nicht unbedingt erwartet hatte. Schließlich war der Dirigent Tugan Sokhiev bei seinen bisherigen Auftritten in München eher als Bombastiker denn als Feinzeichner aufgefallen, als ein Maestro, der es gerne etwas direkter hat und entsprechend knallen läßt. Und dann? Dann überrascht Sokhiev mit einer fein ausgearbeiteten und farbenreich changierend gespielten ersten Halbzeit mit dem immer wieder gerne genommenen französischen Impressionisten-Doppel Debussy und Ravel, die ja bei nicht wenigen deutschen Kulturorchestern durchaus in der Kategorie „Angstgegner“ gelistet sind. Von ersterem gab es das beliebte Prélude à l’après-midi d’un faune als leichtfüßigen Einstieg in die neue Saison. Die Streicher spendierten gleich mal einen besonders warmen, schimmernden Klang, die Bläser setzten die irrlichternd fröhlichen Akzente on top, eine fast filmisch-theatralische Interpretation voller Lebensfreude, Schlitzohrigkeit und bräsig-lässiger Sinnlichkeit. Tief in die Phantastik und den Eros exotischer Traumwelten taucht hingegen Maurice Ravel in seinem Liederzyklus Shéhérazade ein und das Orchester schwelgte richtig schön im Bad der Klangfarben und raffinierten Harmonien. Sokhiev fand hier genau die Balance von Kontrolle und Loslassen und dirigiert mit viel Gespür für dynamische Entwicklungen und Übergänge. Das Glück wäre vollkommen gewesen, hätte man eine wirklich hochklassige Besetzung des Solo-Soprans gefunden; Siobhan Stagg war zwar um lebhafte Textgestaltung bemüht, die Stimme klang allerdings flach und für die Orchesterbesetzung unterdimensioniert, zudem ließ sie die nötige Luzidität und vokalen Farbenreichtum vermissen.

Modest Mussorgskijs Klassiker Bilder einer Ausstellung – in Musikerkreisen bekanntlich gerne als Schilder einer Baustelle verballhornt – gehört zu den show pieces, die eigentlich immer gehen und was hermachen, zumal wenn die orchestrale Luxusklasse am Start ist. Dass einem dabei schier die Luft wegbleibt und man meint, das Werk gerade zum ersten Mal gehört zu haben, kommt ziemlich selten vor. Hier schon, denn Sokhiev verbannt jegliche Tümeligkeit und illustrative Gemütlichkeit und malt die Klangbilder in düsteren, satten Farben voller Bizarrerie und Brutalität. In diesem albtraumhaft verzerrten Bilderbogen haben nicht einmal die tanzenden Küken etwas Niedliches und auch andere Sequenzen entfalten eine sarkastische Verfremdung als seien sie von Shostakovitch. Mit straffen tempi werden die einzelnen Bilder aneinander gereiht, gehen in einander über und bekommen regelrechte Sogwirkung bis hin zum großen Finale, wo Dirigent und Orchester das ganz große Besteck auspackten und – ausgerechnet! – „Das große Tor von Kiew“ als blechschmetternden Triumphmarsch in den Saal stellten. Genau so dürfte es gemeint gewesen sein. Einmal durchschnaufen, bitte! Und dann: Jubel.

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: Filmpremiere “Orphea in Love” von Axel Ranisch – 17.9.2022

Der Hades beginnt in Bogenhausen

Es gab sogar einen roten Teppich zu Beginn dieser ungewöhnlichen Spielzeitpremiere und drei oder vier echte Paparazzi, darunter der BSO-Haus- und Hof-Fotograph Wilfried Hösl, umschwärmten die eintreffenden Stars. Staatsoper goes to the movies hieß die Devise und Intendant Serge Dorny hatte das Haus geöffnet für die Premiere eines Films, den er selbst mit-initiiert hat. Ein Novum in der langen Geschichte des Hauses.

Oper und Film, die beiden ungleichen Zwillinge des story tellings, können sich inspirieren und von einander lernen, sich aber auch fürchterlich mißverstehen. Regisseure, die beide Klaviaturen virtuos und sinnstiftend zu bespielen verstehen, waren immer selten und nach dem Tod von Patrice Chéreau ist es nur noch ein einziger: der 39jährige Berliner Axel Ranisch. Mehrere große Kinofilme hat er gedreht, dazu zwei „Tatort“-Episoden, mittlerweile eine Reihe von Operninszenierungen und verschiedene Mischformen… dazu ist er auch als Schauspieler und Romanautor hervorgetreten.

Mit Orphea in Love geht er nun all in und inszeniert ein sinnlich überbordendes Meisterwerk, das tatsächlich beide Genres zusammenführt und mit spielerischer Leichtigkeit stilistische Grenzen überwindet. Was ist real, was ist Traum und was undefiniert? So entsteht ein zugleich in sich ruhendes wie ständig fließendes Kontinuum von Raum, Zeit und Handlung. Letztere folgt im Großen und Ganzen dem antiken Orpheus-Mythos, allerdings in die Gegenwart geholt und mit vertauschten Geschlechterrollen: hier ist es die Frau, die es mit den Mächten der Unterwelt aufnimmt, um ihren tödlich verunglückten Geliebten aus dem Schattenreich zu befreien. Dass der Herrscher der Unterwelt – hier ein großkotziger Künstleragent namens Höllberg – den Geliebten nicht einfach aufgrund gesanglicher Rührung frei gibt, sondern als Ergebnis eines Tauschhandels „Sein Leben gegen Deine Singstimme“, webt dem Drehbuch, welches Ranisch gemeinsam mit Sönke Andresen verfasst hat, noch einen ironischen Faust-Moment ein. Entsprechend gerät der Gang in den Hades, hier in Höllbergs Büro am Prinzregentenplatz verortet und mit Flammen, Rauch und dem Geisterchor aus dem Freischütz illustriert, zum traumatischen Trip in die eigene Vergangenheit. Wie das im Einzelnen aussieht und wie es ausgeht, sei hier nicht gespoilert; auf jeden Fall anders als gewohnt.

Vor allem ist Orphea in Love die Liebesgeschichte zweier Außenseiter, die sich singend, tanzend und irgendwie schwebend durch eine ihnen fremde Welt bewegen und ihre eigene Realität erschaffen: die junge Nele, gesegnet mit einer fantastischen Opernstimme, aber verfolgt von Dämonen der Vergangenheit und gefangen in einem miesen Callcenter-Job und der charmante Kleinganove und Taschendieb Kolya, der im ganzen Film nur ein einziges Wort sagt und seine Emotionen ausschließlich in Bewegung und Tanz ausdrückt. Mit welcher Natürlichkeit, Emotionalität und Ausdrucksstärke die Opernsängerin Mirjam Mesak, Ensemblemitglied der BSO, und der Tänzer Guido Badalamenti vom Gärtnerplatztheater die Protagonisten verkörpern, ist schlicht sensationell. Mesaks faszinierende Mimik und Körpersprache, ihr Wechselspiel von Verletzlichkeit, Verzagtheit, Sehnsucht und Stärke bewegt ebenso wie ihr gesanglicher Vortrag, der Arien, z.B. aus Madama Butterfly oder La Wally, zu emotionalen Brennpunkten macht. In seiner schillernden, chamälionartigen Präsenz steht Badalamenti ihr nicht nach, ein irrlichternder Geist, geheimnisvoll und wie nicht von dieser Welt, dessen lausbubenhafter Charme, je nach Licht und Kameraeinstellung auch durchaus dämonische Züge annehmen kann.

Gemeinsam mit seinem Kameramann Dennis Pauls gelingt Ranisch ein knapp zweistündiger veritabler Bilderrausch voller Poesie und melancholischem Zauber, durchbrochen von surrealen und absurd komischen Momenten am Rande der Trashigkeit. Ansichten des Münchner Nobelviertels Bogenhausen wechseln mit geheimnisvollen graffitistrotzenden Unterführungen und lost places wie einem stilgelegten Eisenbahndepot, wo Kolya und seine geheimnisvolle Komplizin hausen; die Schauplätze gewinnen ein Eigenleben. Grandios auch die Musik von Martina Eisenreich, der es gelingt, intensive atmosphärische Dichte zu schaffen und die Opernarien sinnstiftend zu ergänzen.

Neben Mesak und Badalamenti sind wieder zahlreiche Darstellerinnen und Darsteller aus dem Ranisch-Kosmos aufgeboten: Heiko Pinkowski gibt den Höllenfürsten und Agenten mit wunderbar widerwärtiger Schnoddrigkeit und virtuosem Zynismus, Ursina Landi seine skurril überdrehte Partnerin und Operndiva mit Stimmproblemen, Christina Große Neles despotische Chefin und Ursula Werner eine Mutter Couragehafte Diebin. Der gefeierte Rossini-Tenor Levy Sekgapane feuert als namenloser Straßensänger furiose Koloraturketten ab und auch die Gäste aus dem BSO-Ensemble, Tenor Galeano Salas und Bariton Konstantin Krimmel, begeistern mit ihren Einlagearien. Außerdem sind als special guests u.a. Serge Dorny in einem selbstironischen Cameo-Auftritt als Opernintendant, Schlagerbarde Christian Steiffen – doch, den gibt es wirklich und er heißt auch so! – und die Berliner Elektro Punk-Ikone Rummelsnuff zu erleben.

Orphea in Love ist ein cineastischer Cocktail, wie ihn wohl wirklich nur Axel Ranisch zu mixen versteht, ein hochpoetischer, berührender und zugleich saukomischer Film, eine einzige Liebeserklärung an die Oper, die Liebe und alle, die ihre Träume leben. Das muss man gesehen haben!

Wie hatte Ranisch in seiner Einführung so schön gesagt: „Lachen Sie! Weinen Sie! Benehmen Sie sich daneben! Wonach Ihnen auch immer sein mag“. Man soll es ja nicht verschreien… aber möglicherweise haben wir das Regie-Highlight der BSO-Saison ja bereits gesehen?

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: “Der Rosenkavalier” – 24.7.2022

Die von den Autoren Strauss und Hofmannsthal süffisant-augenzwinkernd „Komödie für Musik“ genannte Oper Der Rosenkavalier wurde 1911 in Dresden uraufgeführt. Das ist großen Teilen des Münchner Publikums freilich schon immer wurscht gewesen, das Opus wird an der Isar traditionell als lokales wie ideelles Eigentum betrachtet und entsprechend mit Monstranzcharakter abgefeiert. Vor allem in der Otto Schenk/ Jürgen Rose-Inszenierung, welche die gefühlt letzten 150 Jahre am Max-Joseph-Platz zu sehen war, getreu dem Motto Bis dass der TÜV uns scheidet. Da mit einer Neuinszenierung um die Ecke zu kommen und das oide Graffl – wie der Münchner sagt – einfach abzuräumen, ist schon ein echter Kulturschock.

Wofür Regisseur Barrie Kosky natürlich erste Wahl ist; seine runderneuerte Version des alten Schlachtrosses hatte inmitten der Pandemie via Stream und TV Premiere, feierte im März seine Erstaufführung vor echtem Publikum und wurde nun auch im Rahmen der Festspiele zweimal gezeigt. Seinem Ruf als kreativer Theatererzähler und Erfinder von poetischen und zugleich ironisch runtergebrochenen Bildern wird Kosky, im Zusammenspiel mit Rufus Didwiszus (Bühne) und Victoria Behr (Kostüme) auch hier gerecht, eine altmodische Standuhr als zentrale Metapher für die Thematik von Zeit und Vergänglichkeit begegnet uns in unterschiedlichen Kontexten, ein alter Mann mit Engelsflügeln, als “Alter Cupido” vorgestellt, schlurft sternenstaubschüttend durch die Szene, die Figuren huschen im ersten Akt durch einen seltsam verfremdeten Garten, der plötzlich das feldmarschallische Palais füllt, im zweiten Akt wird das ominöse, zunächst vorenthaltene Bett dann nachgeliefert; und zwar inmitten einer protzigen Gemäldesammlung durchaus handfest erotischen bukolischen Charakters; zur Rosenüberreichung fährt Octavian tatsächlich in silberner Staniol-Kutsche vor und Faune bevölkern den Raum. Das ist alles sehr schön anzuschauen, teilweise auch von feinem Witz und lustvollem Spiel mit der Aufführungstradition, füllt die Längen des Werkes aber nur ansatzweise… Ja, amici miei, der Kulturschock ist kein Fan des Werkes. Seltsamerweise funktioniert die Regie ausgerechnet im dritten Akt, dem normalerweise mit Abstand langweiligsten der drei, am besten. Als eine Art Theater-auf-dem-Theater-Szenerie mit plötzlich auftauchenden und verschwindenden Ochs-Doppelgängern, ausgefeilter Widersinnigkeitsdramaturgie und Travestie erinnert das schon an Marthaler zu seiner besten Zeit. Hier ist Kosky auch das Timing und die Balance von Burleske und lyrischer Innenschau nahezu perfekt gelungen.

In Faninals Museums-Palais (Foto: Wilfried Hösl)

Nun die Geschichte des Rosenkavalier in München immer und zuvorderst eine Geschichte großer Sängerpersönlichkeiten gewesen, die sich hier jahrzehntelang die Boudoirtür in die Hand gegeben haben. In dieser Hinsicht – und damit beginnt der Mecker-Teil dieses Textes – reißt die Neuproduktion leider nicht aus dem Rokoko-Sessel. Lediglich der eingesprungene Günther Groissböck als Baron Ochs reiht sich stimmgewaltig und raumgreifend in die große Phalanx seiner Vorgänger ein. Sein „Heimspiel“ als einziger österreichischer Muttersprachler der Besetzung gewinnt Groissböck souverän, wunderbar kostet er den Text dialektisch und klangfarblich aus und gibt dem dünkelhaften Landadeligen durchaus bedrohliche Züge.

Die Marschallin (Marlis Petersen) lauscht der italienischen Arie – Foto: Wilfried Hösl

Weit weniger Eindruck hinterlassen die drei zentralen Frauenstimmen, sonst notwendigerweise das Herzstück jeder Rosenkavalier-Aufführung. Auch die vom Fabius sehr geschätzte Marlis Petersen fremdelt spürbar mit der Rolle der Marschallin. Als selbstbewußte, vor Sinnlichkeit und Lebensfreude strotzende Lebefrau im ersten Akt überzeugt sie, doch die melancholische Reflektion über den Lauf der Dinge habe ich ihr nicht abgenommen, und auch stimmlich wäre mehr Fülle, mehr Volumen, einfach mehr Stimme, wünschenswert gewesen. Samantha Hankey als burschikoser Octavian harmoniert darstellerisch gut mit Petersen, bleibt aber insgesamt zu blass, da haben wir doch schon andere Kaliber gehört, selbst unterhalb der Fassbaender-Skala… Bemüht und farbarm bleibt auch Liv Redpath als Sophie, den „Gruß vom Himmel“ schafft sie, ohne allerdings jenen silberglänzenden sopranstratosphärischen Zauberglanz zu verbreiten, den… Ja, schon gut. Ich hör ja schon auf.

Johannes Martin Kränzle gestaltet die undankbare Partie des Faninal mit routinierter Aufgeregtheit und sicherer Höhe, Daniela Köhler (Leitmetzerin), Ursula Hesse von den Steinen (Annina), Kevin Conners (Haushofmeister und Wirt), Martin Snell (Kommissar) und Christian Rieger (Notar) agieren gewohnt zuverlässig. Galeano Salas setzte mit der Arie des namenlosen Sängers ein echtes Highlight, er dürfte länger mit Kostüm und Maske beschäftigt gewesen sein als er singen durfte…

Alter Cupido und junges Glück (Foto: Wilfried Hösel)

Den Rosenkavalier in München zu dirigieren, ist beinahe noch undankbarer, als ihn zu singen; so dominant liegt noch immer der Kernschatten des mystisch verehrten Carlos Kleiber über dem Nationaltheater und auch Kirill Petrenko hat mit diesem Stück triumphiert. Ganz schön dickes Brett zu bohren also für Vladimir Jurowski. Auch diesmal dirigiert er präzise, mit viel Gespür für die Wort-Klang-Balance und lebendige Phrasierung; und doch vermißt man den großen Bogen, die schwelgerische Transzendenz des Orchesterklanges, das musikalische „Abheben“, das klingt alles die entscheidende Nuance zu geerdet, zu kleinteilig, zu gestückelt. Natürlich ist das mal wieder auf hohem Niveau lamentiert, die Messlatte wurde allerdings doch unterquert.

Richtig emotional wurde es nach der Vorstellung, als mit einer kleinen Zeremonie der Valzacchi des Abends, KS Ulrich Reß nach fast vierzig Jahren als Ensemblemitglied in den Ruhestand verabschiedet wurde. Künstler wie Ulrich Reß, die selten im Mittelpunkt stehen und dennoch jeden noch so kurzen Auftritt zu etwas Besonderem machen, solche Könige der Comprimarii, sind nicht nur für jedes Opernhaus von unschätzbarem Wert, sondern auch für die Kunstform Oper an sich, sie geben einem Ensemble Gesicht, Stimme und Seele sowie eine unerschütterliche Präsenz. Als Abschiedsgeschenk bekam er das Valzacchi-Kostüm aus der alten Produktion, eine Brücke zwischen den Zeiten. Ulrich Reß hat sie mitgemacht und mitgestaltet, im heiteren, im tragischen und im skurrilen Fach. In sechzig Rollen und 238 Vorstellungen hat der Fabius ihn erlebt; also einem kleinen Ausschnitt seines Schaffens… Zu unserem und der BSO Glück wird er uns noch für einige Zeit als Gast erhalten bleiben.

Gehabt Euch also wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius