Bergtour ohne Absturz
Die Rheinoper zeigt Bellinis La Sonnambula als sinnliche Phantasmagorie in Schwarz und Lila
Das Prekäre an Bergtouren und Gipfel(er)stürmungen, sportlichen wie künstlerischen, ist, dass sie neben beeindruckenden und überwältigenden Panoramen auch etliche Gefahren beinhalten. Nicht nur Strauss’ Alpensymphonie oder Catalanis Alpen-Walküre Wally weisen musikalische wie szenische Gletscherspalten auf, in denen schon manch eine Aufführung auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Selbiges gilt auch für Bellinis in einem namenlosen Bergdorf im Schweizer Oberland angesiedeltes melodramma La Sonnambula, ein Werk, das mit seinem fast schon provokativ idyllischen Setting und seiner kaum noch verargumentierbaren Handlung nördlich des Alpenhauptkammes nie die Popularität der Norma und der Puritani erreicht hat. Oder um es anders auszudrücken: eine Oper, mit der die Zunft der modernen Regisseure und Stückdeuter traditionell wenig anzufangen weiß; wenn überhaupt wandelt die Sonnambula eher in konzertanter Form durch die Spielpläne, szenische Umsetzungen, über reine Bebilderung hinaus reichende zumal, blieben selten, die Stuttgarter Produktion von Jossi Wieler und Sergio Morabito von 2012 bildete da eine geradezu monolithische Ausnahme.

Dem happy end ganz nahe: Edgardo Rocha (Elvino) und Stacey Alleaume (Amina) – Foto: Monika Rittershaus
Eine durchaus ambitionierte Auseinandersetzung hat nun auch die Rheinoper gewagt – und auf der ganzen Linie gewonnen, ohne musikalischen oder szenischen Absturz. Regisseur Johannes Erath ist das Kunststück gelungen, die Handlung und die Charaktere von jeglicher Tümelei und Heimatmuseumhaftigkeit zu befreien, ohne den poetisch-sinnlichen Zauber der Oper zu beschädigen.Mit viel Liebe zum Detail trägt die Regie die Schichten einer eigentlich trivialen, ja abstrusen, Geschichte ab und schafft eine ganz eigene phantasiereiche Ästhetik, in deren Bildersprache der eigentliche Schauplatz nur noch in Form gelegentlicher ironischer Anspielungen vorkommt. Ein zentrales Element, wie so oft bei Erath, ist der Einsatz von Doubles, der allerdings nicht immer so gut funktioniert wie hier: alle Protagonisten treten auch als gespiegelte Versionen ihrer selbst auf, treten damit aus den Rollen oder verkörpern ihre eigenen Alter Egos. Das ist szenisch sehr gut gelöst und geht ineinander über, da kommt es auch vor, dass einer plötzlich nur noch den Mantel seines Gegenübers in der Hand hält, weil die Person wie von Geisterhand verschwunden ist. Bernhard Hammer hat für dieses traumwandlerische Vexierspiel eine horizontal zweigeteilte Bühne entworfen, in der unteren Hälfte findet die eigentliche Opernhandlung statt – die bei Erath obligatorische weißgedeckte Festtafel wird hier von violetten Sitzkissen eingerahmt – während die obere einen ebenfalls abstrakten verschneiten Raum zeigt, in dem reelle Spielszenen, aber auch Videoeinspielungen von Winterlandschaften und den verzerrten Porträts der Protagonisten (Video: Bibi Abel) zu sehen sind; lediglich die Reihen schwarzer, durchnumerierter Pfeiler geben Rätsel auf. Auch die Kostüme von Jorge Jara sind, abgesehen von den immer wieder symbolisch auftauchenden knallweißen Brautkleidern, überwiegend in Schwarz und viel Lila gehalten und weisen in die Gegenwart. In Kombination mit dem stimmungsvoll changierenden Lichtdesign von Nicol Hungsberg entsteht ein träumerisch-entrückter, sinnlich-opulenter und attraktiv anzuschauender Bilderbogen, eine Phantasmagorie in Schwarz und Lila, die keine Wirklichkeit abbildet, sondern sich eine eigene schafft.

Alles auf Lila (Foto: Monika Rittershaus)
Eine echte stimmliche Gratwanderung ist auch die Titelrolle des schlafwandelnden Waisenmädchens Amina, deren atemberaubend virtuose Finalarie Ah, non credea mirarti… Non giunge uman pensiero dem Ganzen die Krone aufsetzt und jene erregende Mixtur aus vokalem Nervenkitzel und Exzentrik beschwört, für die der Kulturschock die Opern des Belcanto und romanticismo so liebt. Natürlich war diese Sonnambula für die verehrte hauseigene Primadonna Adela Zaharia angesetzt worden und die Enttäuschung über deren krankheitsbedingte Absage der gesamten Produktion zunächst groß. Doch dann geschah ein mittleres Opernwunder und die hierzulande bisher praktisch unbekannte neuseeländisch-mauretanische Sopranistin Stacey Alleaume eroberte die Bühne wie die Herzen straight ahead. Alleaume verströmt puren Liebreiz, Anmut und jugendliche Frische, die Koloraturen perlen wie an der Schnur gezogen, die Spitzentöne kommen sicher und ohne Druck; und doch versteht die Künstlerin es, nicht nur virtuos ihre Noten abzufeiern, sondern erfüllt jede Phrase mit Wärme, Ausdruck und Tiefe. Schon jetzt eine der Entdeckungen der Saison!

Nicht in jedem weißen Kleid steckt eine Braut… (Foto: Monika Rittershaus)
Ihren amante, den reichen und charakterlich wankelmütigen Großbauern Elvino, gibt Edgardo Rocha mit viel tenoralem Schmelz und stilsicherem Vortrag, allerdings hätte der Kulturschock sich eine etwas differenziertere Gestaltung der ständig wechselnden Affekte gewünscht; ob Verliebtheit, Eifersucht oder Selbstmitleid, das kam bei Rocha alles recht gleichförmig rüber. Ein weiterer Trumpf der Besetzung ist Bogdan Talos als Conte Rodolfo, dessen profunder, weich abgerundeter und wunderbar auf Linie geführter Schwarzbaß wie immer die pure Freude war. Auch darstellerisch überzeugt seine Charakterstudie dieser merkwürdig ambivalenten Figur zwischen Altklugheit und Hallodritum. Heidi Elisabeth Meier als intrigante Rivalin und Hotelwirtin Lisa spielt mit vollem Einsatz, ihr Sopran ist im Vergleich zu Alleaume kühler und herber im Timbre, was die Figurenkonstellation sehr gut abbildet. Katarcyna Kuncio als Aminas Ziehmutter Teresa überzeugt ebenso wie Valentin Ruckebier als pfiffiger Alessio, beide runden eine Ensembleleistung ohne Schwachstellen ab.
Ungewohnt differenziert und mit den Sängern atmend zeigte sich diesmal Antonino Fogliani am Pult der Düsseldorfer Symphoniker, vielleicht hatte auch er sich von Alleaumes Aura und emotionaler Unmittelbarkeit inspirieren lassen? Auch das Orchester und der von Patrick Francis Chestnut einstudierte Rheinopernchor zeigten sich, der sonst eher weniger geliebten Nachmittagsstunde zum Trotz, äußerst inspiriert und in bester Musizierlaune. Eine Aufführung aus einem Guss, mit der dem Haus ein echter Volltreffer gelungen ist.
Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,
Euer Fabius
Eine Aufzeichnung dieser Vorstellung ist ab dem 21. April 2023 bei Operavision online abrufbar unter https://operavision.eu/performance/la-sonnambula-0