Bayerische Staatsoper: “Die Frau ohne Schatten” – 21.11.2013

Es war ein Bild für die Götter, als am Ende eines langen Premierenabends Regisseur Krysztof Warlikowski mit seinem Team die Bühne betrat… Staunend, fast ungläubig blickte er sich um im weiten Rund; und tatsächlich: nicht ein einziges Buh ertönte, nicht die kleinste Beschimpfung von Seiten eines Publikums, das ihn für seine Münchner Debüt-Inszenierung, den Yevgenij Onegin, vor fünf Jahren noch regelrecht geschlachtet und geradezu hasserfüllt ausgebuht hatte. Dafür freundlicher Applaus und etliche Bravo-Rufe von den Rängen. Das war umso erstaunlicher, da das obligatorische Buh-Contra in der Landeshauptstadt ja bei jeder Premiere schon beinahe zur Folklore gehört und zudem Warlikowski es dem Publikum auch diesmal nicht wirklich einfach gemacht hatte. Im Gegenteil; bei den Arbeiten des polnischen Werke-neu-Entdeckers sind Neugier, Mit- und Umdenken angesagt.

Denkwürdig geriet der Abend allerdings noch aus ganz anderen Gründen. Zum einen feierte man den Einstand von Kirill Petrenko als neuer musikalischer Chef des Hauses und zum anderen war ja – selbst für die traditionsbewusste Landeshauptstadt – ein ganz großes Jubiläum angesagt. Auf den Tag genau vor fünfzig Jahren öffnete das Nationaltheater, der Operntempel am Max-Joseph-Platz, nach Zerstörung und Wiederaufbau erneut seine Pforten. „Wie man wird was man ist“; unter diesem Nietzsche-Zitat (Wer die korrekte Stelle findet, darf sich ein Steckerleis abholen) als Motto steht die aktuelle Saison, komplett mit Festakt, Festschrift, Festprogramm und sonstigem Fest-Bohei. Und wie schon am 21. November 1963 stand auch am 21. November 2013 wieder Strauss‘ Kolossalschinken Die Frau ohne Schatten, branchenintern gerne zur „FroSch“ abgekürzt, auf dem Premierenplan. Die seinerzeitige Aufführung ist elektroakustisch überliefert und kann auf CD nachgehört werden, die aktuelle musste sich in keiner Hinsicht dahinter verstecken, ein kleiner Gruß an die Früher war alles besser-Fraktion… Ich bin noch nie ein erklärter, oder auch nur latenter, Fan dieses Komponisten, dieses Dichters und erst Recht nicht dieses Werkes gewesen und habe von jeher meine künstlerischen und weltanschaulichen Probleme mit dieser Oper; ein von dröhnendem Pathos und Bombast triefendes und inhaltlich bedenklich reaktionäres und frauenverachtendes Machwerk. Insbesondere die Finalszene war für mich immer so mit der peinlichste Kitsch der gesamten Opernliteratur.

Frosch IAdrianne Pieczonka und Johan Botha mit Falke im zweiten Akt (Foto: Wilfried Hösl)

Und jetzt kam Kirill Petrenko und hat gezeigt, dass es auch anders geht, wie viele Schönheiten, Nuancen und Schichtungen diese Partitur enthält. Das war nichts weniger als ein persönliches Ur-Erlebnis. Angesichts der euphorischen Pressestimmen über sein Ring-Dirigat in Bayreuth waren die Erwartungen schon hoch gewesen; aber Petrenko übertraf sie alle. Die Tempi sind relativ breit und er nimmt sich wonnevoll Zeit, jede Orchesterkantilene auszukosten, der Orchesterklang ist seidenweich und körperhaft zugleich, von verführerischer Schönheit und intensiver Spannung, ungeheuer differenziert und transparent, den riesig aufgeblasenen Orchestersatz bis in die letzte Nebenstimme ausleuchtend, ohne den Gesamtzusammenhang einen Moment lang aus den Augen zu verlieren. Die Bandbreite ist geradezu sensationell und auch in der großen Raserei im Finale des zweiten Aktes läuft Petrenko mit dem Staatsorchester nie Gefahr, in aufgesetztes Lärmen zu verfallen, bei aller Gewalt, Lautstärke und Härte bleibt der Klang noch abgerundet und musikalisch, da dröhnt nichts, da knallt nichts, das geht einem nur durch sämtliche Synapsen. Natürlich kann Petrenko auf die Grundlagen, die sein Amtsvorgänger Kent Nagano in den letzten sieben Jahren in Sachen Transparenz, Präzision und Deutlichkeit gelegt hat, aufbauen; und doch ist hörbar noch etwas dazugekommen. Eine ganz eigene musikalische Handschrift, eine sinnfällige klangfarbliche und gestalterische Vision. Vor allem fließt unter seinen Händen die Musik unangestrengt, mit großer innerer Leichtigkeit und Dynamik. So als entstehe sie gerade in diesem Moment. Einen vergleichbaren Level an Genauigkeit, gemeinsamem Gestaltungswillen und musikalischer Kongruenz erreicht auch ein gutes Orchester mit einem neuen Chefdirigenten normalerweise nach einem bis zwei Jahren; hier bereits zum Einstand. Da war man schon beinahe erleichtert, als die Blechbläser im dritten Akt doch zweimal patzten; man hätte es sonst nicht für möglich gehalten. Ich gebe zu, das Haus schon lange nicht mehr so enthusiasmiert verlassen zu haben wie nach dieser Premiere und beim Gedanken an das, was dieser fantastische Musiker mit diesem Orchester noch wird erreichen können. Wer weiß, vielleicht haben wir hier so etwas wie den Beginn einer neuen Zeitrechnung erlebt?

Frosch IIElena Pankratova als Färberin (Foto: Wilfried Hösl)

Wenn man die Frau ohne Schatten besetzen will, bzw. muss, orientiert man sich am besten am Libretto: „Angerufen werden gewaltige Namen“. Denn mit anderem braucht man hier nicht anzufangen, das stimmliche und physische Anforderungsprofil steht demjenigen einer durchschnittlichen Wagner-Oper kaum nach. Wenig Auswahl also auf dem Markt. So erfordert die Partie des Kaisers einen ausgewachsenen Heldentenor, auch wenn er gerademal eine halbe Stunde auf der Bühne steht. Johan Botha singt die Partie unerschütterlich und ohne jegliche hörbare Anstrengung, überstrahlt das Orchester selbst im opulentesten Crescendo mühelos und krönt seinen Vortrag mit strahlender Vollhöhe; eine Setzung! Dass Botha und Schauspielerei zwei einander inkompatible Begriffe sind, lässt sich in dieser ohnehin extrem statisch angelegten Rolle verschmerzen. Da ist die Kaiserin gestalterisch schon weitaus anspruchsvoller und Adrianne Pieczonka konnte einmal mehr einen persönlichen Triumph einfahren. Zurechtgemacht als pittoresk leidende Society-Lady mit roter Vamp-Frisur machte sie den Zwiespalt des Zwischenwesens intensiv fühlbar, ihre große Solo-Szene im dritten Akt gehörte zu den aufregendsten Momenten des langen Abends. Pieczonkas Sopran besitzt sinnliche Wärme und einen leuchtend metallischen Kern, klingt wunderbar opulent bei differenziertem Vortrag und verströmt in der Höhe jenen magischen Silberglanz, der allen großen Strauss-Interpretinnen eigen ist. Große Gesangs- und Gestaltungskunst war auch eine Ebene tiefer, beim Färberpaar, zu erleben: mit einer perfekten Mischung aus Markanz und Schmelz sowie einem sehr nuancierten Vortrag befreit Wolfgang Koch den Barak – soweit dies möglich ist- von seiner Passivität und Weichei-Image. Er mag vielleicht kein Balsamiker erster Ordnung sein wie der eine oder andere seiner Rollenvorgänger, aber mit Sicherheit der interessanteste und glaubwürdigste Barak, den mir bislang begegnet ist. Auch Elena Pankratova, derzeit Weltreisende in Sachen Färberin, hat sicher nicht das edelste Material, aber sie gab ein fulminantes BSO-Debüt. Ihr im Vergleich etwas härterer, dunklerer und metallischerer Sopran ergab zu Pieczonkas Kaiserin einen reizvollen klangfarblichen Kontrast, die Höhe kam sicher und ohne die schneidende Schärfe, die man in dieser Rolle oft erlebt und auch im mittleren und unteren Register besitzt die Stimme Volumen und Substanz. Zudem fiel sie, wie auch die anderen Protagonisten, durch ausgezeichnete Textdeutlichkeit auf – eigentlich hätte es die Übertitel nicht gebraucht und spätestens im Finale hätte man diese eh besser abgeschaltet. Sebastian Holecek, in München noch aus seiner Zeit am Gärtnerplatztheater bekannt, gab einen kraftvollen, markanten Geisterboten und auch das Ensemble der Staatsoper überzeugte in den zahlreichen Klein- und Kleinstpartien mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung, wobei vor allem Eri Nakamura als Stimme des Falken, Hanna-Elisabeth Müller als Hüter der Schwelle und die pastose Okka von der Damerau als Stimme von Oben herausstachen. Alle diese Comprimarii treten hier übrigens nicht persönlich auf, sondern singen aus dem Off, während sie auf der Szene von eigens gecasteten Edelstatisten gedoubelt werden. Einziger sängerischer Schwachpunkt blieb, leider nicht gänzlich unerwartet, die Amme von Deborah Polaski. Die Künstlerin ist stimmlich deutlich über ihren Zenit hinaus, die Stimme klang über weite Strecken matt und brüchig und auch darstellerisch blieb sie ungewohnt farblos. Da wären einem doch einige Besetzungsalternativen eingefallen.

Frosch IIIJohan Botha als Kaiser in gefiederter Runde (Foto: Wilfried Hösl)

Einiges eingefallen ist natürlich auch Krysztof Warlikowski. Um es gleich vorweg zu sagen: seine Inszenierung ist nicht der „große Wurf“ im Sinne einer in sich geschlossenen und bis ins Detail konzisen Neudeutung; auch Warlikowski kann und will uns das Stück nicht zur Gänze erklären, sondern greift sich einzelne dramatische Situationen, Handlungsmomente und Charaktere heraus, an denen er den Symbolgehalt und Assoziationsrahmen der Fabel abarbeitet. Eine Arbeitsweise, die in der Oper durchaus ungewöhnlich und, zumindest im ersten Akt, auch gewöhnungsbedürftig ist. Seine angestammte Ausstatterin Malgorzata Szcześniak hat dafür einen an die Arbeiten von Anna Viebrock erinnernden Raum geschaffen: eine schmucklose Halle mit rotbrauner Holzvertäfelung und sparsamer Möblage, deren Rückwand sich zu einer Art Psycho-Raum öffnen lässt, eine sterile, weißgekachelte Kammer mit Spiegelfolie am Boden, die Schauplatz der die Handlung begleitenden oder kommentierenden Visionen der Handelnden ist. In diesem, einem Nobel-Sanatorium des letzten Jahrhunderts nachempfundenen, Ambiente sind beide Sphären der Handlung, die Menschen- und die Geisterwelt, der Salon der vornehmen Gesellschaft wie auch die Waschküche und das Ehebett des Färberpaares, ständig präsent. Eine konsequente visuelle Trennung findet nicht statt, die Geister – auch deren König Keikobad tritt hier persönlich in Erscheinung – sind sozusagen unter uns und manifestieren sich durch ihre Boten, nämlich die genannten Erscheinungen, aber auch als bunte Vögel, uniformierte Kinder oder bühnenfüllende Mangas; was gerade die Kinderstatisterie hier an Genauigkeit und Disziplin bringt, ist schon außergewöhnlich. Dabei entfaltet die Regie ihre Qualitäten nach innen wie nach außen, die ungeheuer intensive und kleinteilige Personenführung begeistert ebenso wie die spektakulär inszenierten Traumsequenzen in Form von Videokunst und Filmzuspielungen von Denis Guéguin. Das beginnt bereits vor dem ersten Erklingen des Keikobad-Themas mit einem Ausschnitt aus Alain Resnais‘ Film Letztes Jahr in Marienbad, welcher atmosphärisch in das Setting der Aufführung einleitet und geht bis hin zu wahren Film- und Lichtkunstwerken; in dieser technischen Qualität und Brillanz habe ich so etwas auf der Opernbühne nie zuvor gesehen. Da fällt dann nicht weiter ins Gewicht, dass anderes etwas unterbelichtet bleibt, etwa die Transformation des Kaiserpaares, und auch zur Figur der Amme ist dem Regisseur wenig eingefallen, sie bleibt hier eine leicht grämliche Gouvernante im cremefarbenen Kostümchen und ausgebleichtem Domina-Dutt. Herausragend sinnfällig und differenziert ist Warlikowski dagegen die Beziehung des Färberpaars gelungen, das ist nicht der übliche Kleinkrieg Volltrottel vs. Egozicke, sondern Szenen einer Ehehölle zwischen Sartre und Tennessee Williams. Und das so problematische Finale? Das Schlußbild mit den sekttrinkenden Protagonisten am Esstisch und einer Schar buntgekleideter Kinder, die im Hintergrund Schattenspiele vor kahler Wand veranstalten, ist sicher nicht der geniale Einfall, aber es ist doch relativ kitschfrei und nicht missglückt. Und das ist, wie gesagt, bei diesem Stück schon das, was man sich wünschen kann.

Frosch IVNoch jemand ohne Schatten hier? – Die Schlußszene in Krysztof Warlikowskis Inszenierung (Foto: Wilfried Hösl)

Ein zwar langer, aber intensiver und inspirierender Abend. München feiert Strauss, den neuen GMD und natürlich auch sich selbst. Wie das denn so sein muss…!

Dieser Artikel ist auch als Gastbeitrag bei den hochgeschätzten Kollegen von http://www.operalounge.de in Berlin erschienen.

Bayerische Staatsoper: “Il trovatore” – 12./16. 11.2013

Jetzt ist es also passiert: der mediale Pulverdampf und der Premieren-Hype haben sich verzogen und der neue Trovatore ist auch im Repertoirebetrieb und –alltag angekommen. Aber auch dieser muss nicht zwingend grau sein, wie diese beiden Abende zeigten. Nicht grau, sondern größtenteils schwarz sind nach wie vor Bühnenbild und Kostüme von Pierre-André Weitz, die Inszenierung von Olivier Py wirkt bereits jetzt, nach den ersten Umbesetzungen, noch altbackener und belangloser als am Premierenabend.

BSO Trovatore WA Partie und Primadonna fest im Griff: Jonas Kaufmann (Manrico) und Krassimira Stoyanova (Leonora) – Foto: Wilfried Hösl

Dass der Publikumszuspruch ungebrochen lebhaft war, lag ohnehin nicht an der – nicht vorhandenen – visuellen Anziehungskraft der Szenerie, sondern sicher in erster Linie an Jonas Kaufmann. In der Tat war der Publikumsliebling auch in dieser Wiederaufnahme die Attraktion des Abends; verglichen mit der Premiere vor vier Monaten ist sein Vortrag noch deutlich geschlossener und reifer geworden, er hat sich die Partie mittlerweile perfekt in den Körper gesungen und sie sich musikalisch wie emotional angeeignet. Das dunkel glühende Timbre war in voller Pracht zu genießen, die Stimme strömt wunderbar leicht und geschmeidig, die Phrasierung ist mustergültig. Kurz gesagt: mir fiele derzeit kein anderer Tenor ein, der diese Partie so stilsicher, musikalisch und auch leidenschaftlich singen könnte. Einen wesentlich schwereren Stand hatte seine Leonora Krassimira Stoyanova. Vermutlich gibt es in der Branche kaum etwas Undankbareres, als diese Partie hier direkt nach der phänomenalen Anja Harteros singen zu müssen, mit jener im Ohr war es zugegebenermaßen schwierig, Stoyanova in ihrer so ganz anders gearteten Gesangskunst gerecht zu werden. Zunächst fasst sie die Rolle natürlich sehr viel lyrischer auf als ihre Vorgängerin und gestaltet Leonora als femme fragile, als den Singvogel unter lauter Falken… Da ist auch gar nichts gegen zu sagen und im dritten Akt, in der Arie „D’amor sull’ali rose“ und dem berühmten Miserere, öffnet sie auch die vokale Schmuckschatulle und begeistert mit feiner Linienführung, zartem Sopranschmelz und einer großartigen Pianokultur; das waren fünfzehn Minuten zum Schwärmen. An anderen Stellen dagegen stößt sie (noch) an stimmliche Grenzen, da fehlt es an Durchschlagskraft und Volumen, zudem bleibt immer eine gewisse Distanziertheit des Vortrags zu spüren. Aber das ist natürlich wiedermal auf sehr hohem Niveau gejammert…! Mit Vitaliy Bilyy als Luna stellte sich ein Sänger mit Potenzial in München vor; der junge ukrainische Bariton verfügt über einen kernigen Bariton von jugendlicher Frische und ausgesprochen maskulinem Timbre, in der Höhe entfaltet die Stimme einen regelrechten Trompetenton. Leider wirkt der Stimmsitz nicht durchgehend optimal, so dass in der mittleren und tieferen Lage die Stimme zu sehr in den Hals rutscht; wenn er dieses technische Defizit noch in den Griff bekommt und die Stimme besser zu öffnen lernt, kann er für sein Stimmfach eine echte Bereicherung werden. Elena Manistina war bereits in der Premierenserie etwas der Schwachpunkt der Besetzung gewesen und ist dies leider noch immer. Insbesondere am ersten Abend irritierte sie mit flackernder Tongebung, Höhenschärfen und Intonationsproblemen; dass sie ausgerechnet den letzten Ton der Aufführung völlig daneben setzte, ist Pech, das ist live und kann passieren. Am zweiten Abend sang sie immerhin wieder etwas sicherer. Neu im Team war Goran Jurić als Ferrando, dessen geschmeidiger Bass für solche Haudegen-Rollen beinahe eine Spur zu gepflegt klingt, und auch Mária Celeng, Neuzugang im Opernstudio, fiel mit den wenigen Sätzen der Ines durchaus positiv auf.

Die musikalische Leitung blieb in den bewährten Händen von Paolo Carignani, dem auch diesmal eine spannungsvolle und erfreulich differenzierte Wiedergabe gelang, auch wenn das Staatsorchester, vor allem am ersten Abend, noch einige Unkonzentriertheiten zeigte und sich erst nach und nach wirklich freispielen konnte.

“Nicht ganz schlechte Menschen” – Der neue Roman von Helmut Krausser

Um es gleich mal vorauszuschicken: Helmut Krausser war mal einer meiner Lieblingsautoren, seine bildmächtige, kraftmeiernde und von echtem Pathos wie von wunderbarer Nonchalance und erzählerischer Plastizität durchzogene Sprache immer ein Genuss. Insbesondere die beiden Romane Melodien und Thanatos halte ich nach wie vor für mit das Beste, was die deutschsprachige Literatur in den letzten 25 Jahren hervorgebracht hat. Aber auch die Hagen Trinker-Trilogie und nicht zu vergessen die scharfzüngigen Tagebücher sind durchaus prägende Lese-Erlebnisse für mich gewesen. Leider gehört der Sprachmagier, der jene Großtaten vorgelegt hat, mittlerweile der Vergangenheit an und sein Werk ist seitdem zu einer einzigen Achterbahnfahrt zwischen guten, mittelprächtigen und mehr oder minder misslungenen Büchern geworden; immer auf, bzw. neben dem schmalen Grat zwischen Ambition, Erfüllung und Scheitern, getragen von erzählerischer Substanz, breit gefächertem Wissen und einem an Hybris zumindest grenzenden künstlerischen Ego. Aus diesem Spannungsfeld haben seine sämtliche Romane ihren ganz eigenen Reiz bezogen, nicht zuletzt aus diesem Grund habe ich sie auch immer wieder gekauft und gelesen; überspitzt könnte man Krausser als die wundersamste Wundertüte der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen.

Krausser Cover

Sein neues Opus Nicht ganz schlechte Menschen ist allerdings keine Gratwanderung sondern ein Absturz in künstlerische Niederungen, die man ihm niemals zugetraut hätte. So leid es mir tut und aller Wertschätzung zum Trotz, hier gibt es nichts mehr zu beschönigen. Dabei sind Handlungsentwurf, Konzeption und Personal durchaus vielversprechend und hätten bei sorgfältigerer Ausgestaltung einiges an Potenzial geboten. Im Zentrum der Handlung stehen zwei ungleiche, da zweieiige Zwillingsbrüder, Max und Karl Loewe, geboren 1915 in einem kleinbürgerlichen Berliner Elternhaus. Nach dem Tod des Vaters und mit seiner Erbschaft versehen, entwickeln sich beide charakterlich und weltanschaulich immer weiter auseinander: während Karl sich dem Kommunismus verschreibt, widmet sich der ideologisch weniger gefestigte passionierte Nietzsche-Bewunderer Max primär der Berliner Halbwelt und der Befriedigung seiner, durchaus zweigleisig ausgeprägten, erotischen Bedürfnisse. Nach der Machtergreifung durch die Nazis flüchten die Brüder zusammen mit der halbjüdischen und in Max verliebten Prostituierten Ellie nach Paris, wo sie, als Halbgeschwister getarnt, mit dem Hotelier Pierre Geising eine seltsame Liaison à Quatre eingehen und dessen Etablissement nach und nach zu einem diskreten und kulturell verbrämten Anlaufpunkt für zahlungskräftige homosexuelle Klientel machen… Karl absolviert derweil ein Intermezzo im spanischen Bürgerkrieg im Umfeld der Internationalen Brigade – zu echten Kampfeinsätzen gebricht es ihm an Mut – und macht die Bekanntschaft des englischen Antifaschisten und angehenden Schriftstellers Eric Blair; dass dieser eher unter seinem Pseudonym George Orwell bekannt wurde, muss man wissen, Krausser erwähnt es nicht. Nach einigen Irrungen und Wirrungen und einem angedeuteten Kriminalfall im Umfeld des Hotels beschließt das seltsame Trio die gemeinsame Emigration in die USA; allerdings werden Max und Karl wenige Stunden vor der Abreise bei einem Pferderennen unter einer einstürzenden Tribüne begraben. Klappe zu, Affen tot. Ein vergleichbar läppisches und lustlos hingerotztes Romanfinale habe ich lange nicht mehr gelesen, das grenzt eigentlich schon an Arbeitsverweigerung.

 

Und ist leider symptomatisch für die erzählerischen und sprachlichen Schwächen des Werkes; dass der Autor hin und wieder so liebenswert anachronistische Worte wie „alldieweil“ oder „Unterschleif“ (altmodisch für Unterschlagung) verwendet und zuweilen auch mal einige der wunderbar lakonischen Helmut Krausser-Sätze vorkommen wie „Erst als Ellie ihn darum bat, Mäßigung zu zeigen und hin und wieder, seien es auch plump vorgetäuschte, Selbstzweifel zu äußern, begriff er, wie empfindlich, auf die flügellahmen Federn getreten, talentlose Menschen reagierten, sobald sie sich mit einem noch lebendigen Genie konfrontiert sahen.“ , hilft dem Ganzen leider nicht in die Strümpfe. Im Gegenteil: der Tonfall ist bestenfalls glatt und plaudernd und der Text wimmelt nur so von Banalitäten, Gemeinplätzchen, Flapsigkeiten und sachlichen Fehlern, gewürzt mit platten Klischees und aufdringlicher Bildungshuberei. Nur ganz selten und in der einen oder anderen Nebenfigur blitzt Kraussers altgewohnte Charakterisierungskunst zuweilen noch einmal kurz auf, etwa in der Gestalt des wild salbadernden, rätselhaften Propheten und Anarchisten Jean Zanoussi oder des Grafen Paulignac (der korrekterweise Polignac heißen müsste, aber mit dem Französischen hat der Autor es auch andernorts nicht so), einem schwulen Aristokraten und Herrenreiter, der die deutsche Kultur bewundert und antisemitischen Theorien gegenüber aufgeschlossen ist. Solche Gestalten hat es nun sicherlich gegeben. Ansonsten bleiben die Charaktere durchweg flach, klischeehaft und unglaubwürdig. Ganz ehrlich, ich konnte es bei der Lektüre über weite Strecken kaum fassen, wie schlecht das geschrieben ist und habe mich ernsthaft gefragt, ob überhaupt, und wenn ja von wem, dieses (Mach)werk lektoriert worden ist…

 

Vollends zum Debakel wird der Roman allerdings durch den Versuch, hier ein großes Gesellschaftspanorama mit Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit zu schaffen und die Geschichte der Protagonisten mit den politischen Umwälzungen zwischen den beiden Weltkriegen in Relation zu setzen. Dieser Versuch bleibt schon im Ansatz stecken, anstatt die historischen Ereignisse in den Erzähltext einzuarbeiten und substanziell mit den Charakteren, ihren Gefühlen und Handlungen zu verbinden, wie es die eigentliche Aufgabe des Autors gewesen wäre, werden diese lediglich in Form von kurzen, in einer anderen Schrifttype gedruckten, Einschüben referiert. Da hat es sich der Autor peinlich einfach gemacht, was allerdings zum latenten Eindruck von Lustlosigkeit und Desinteresse, den der Text ausstrahlt, bestens passt. Gerade an diesem Punkt hätte die Erzählung wirklich interessant werden können, aber die Chance vergibt Krausser geradezu kläglich. Wie so etwas funktioniert, kann man bei Joseph Roth, Hemingway oder Feuchtwanger nachlesen, von Thomas und Heinrich Mann ganz zu schweigen.

Vielleicht haben wir es hier tatsächlich nicht mit ganz schlechten Menschen zu tun, auf jeden Fall aber mit einem ganz schlechten Roman.

 

Im Kino: “Ich fühl mich Disco” von Axel Ranisch

Wie geht es Einem, wenn man „sich Disco fühlt“? Gute Frage. Da helfen weder Arzt, Apotheker noch Packungsbeilage, sondern nur noch Axel Ranisch. Der Berliner Filmemacher mit Opernfaible, zuletzt mit dem Crossover-Projekt The bear/ La Voix humaine bei den Münchner Opernfestspielen aktiv (siehe Archiv Juni 2013), hat nämlich seinem zweiten Kinofilm diesen Titel verpasst. 

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Nun macht ein origineller Titel alleine noch keinen guten Film, die Gegenbeispiele lassen sich bekanntlich stapeln. In diesem Fall ist allerdings der gesamte Film so abgefahren wie der Titel ahnen lässt, unverhohlen autobiographisch, ja geradezu exhibitionistisch, und mit überbordender Fabulierlust erzählt der Regisseur die Geschichte seiner Kindheit und Jugend nach, in weiten Teilen zumindest: vom dicklich-tapsigen, liebenswert unbeholfenem, musisch veranlagten und schon mehr als nur latent schwulen Florian und seinem Vater Hanno, einem schnauzbärtigen und schmerbäuchigen Koloss, der absurderweise als Turmspringtrainer arbeitet und aus seinem verträumten Filius auf Biegen und Brechen ein „richtiges Mannsbild“ machen will. Der dagegen hängt lieber seinen romantisch-homoerotischen Phantasien nach, verliebt sich natürlich zielsicher in den Falschen und tobt mit seiner seelenverwandt gepolten Mutter in grotesker Maskerade durch die Wohnung, wobei die beiden mit Inbrunst die zotigen Mitgröhl-Songs ihres Lieblings-Schlagerbarden Christian Steiffen schmettern… Christian wie? Das ist kein Witz, den gibt es tatsächlich, er nennt sich auch im wirklichen Leben so und die Lieder aus dem Film sind auf CD erhältlich; wer es nicht glaubt: http://www.christiansteiffen.de! Hier gibt es solche Perlen deutscher Lyrik zu bestaunen wie „Das Leben ist nicht immer nur Pommes und Disco/ Das sage ich Dir/ Manchmal ist das Leben auch nur eine Flasche Bier“ oder „Und die ladies in the house/ Sehen prima aus/ Ich fühl mich Disco/ Ich fass mir in den Schritt/ Und alle machen mit/ Ich fühl mich Disco…“. Als Florians Mutter nach einem Schlaganfall ins Koma fällt (nach einer Überdosis Christian Steiffen?), müssen die beiden irgendwie miteinander auskommen und der Wahnsinn schaltet noch einen Gang rauf.

Nun gibt es ähnliche Plots, die ganzen Coming out- und Vater-Sohn-Konflikte im Kino ja wie Sand am Meer. Aber so virtuos, so abgedreht und hochtourig wie Axel Ranisch hat wohl noch keiner eine solche Geschichte erzählt. Ranisch fährt hier gewissermaßen ein emotionales Formel Eins-Rennen, wechselt manchmal innerhalb einer Szene vom Gaspedal auf die (Spaß)bremse, legt sich furios in die Kurve und läßt die Kupplung kommen, bis der ganze Saal vor Vergnügen schreit. Die Komik bewegt sich immer haarscharf am Abgrund, der Film stürzt aber nie ab, sondern bleibt immer noch gerade so auf Kurs. Die Christian Steiffen-Songs werden knallhart kontrastiert mit Klavierwerken von Rachmaninov, vom Skurrilen zum Anrührenden, von der schrillen Persiflage bis zur puren Poesie ist es immer nur ein winziger Schritt, Ich fühl mich Disco verrührt Kunst mit Kitsch, Trash mit Tränen und puren Klamauk mit tiefem Gefühl. Da wechseln geschliffene und eher ungelenke Dialoge munter einander ab, Wortwitz und Situationskomik bilden die abenteuerlichsten Allianzen, da wird humoristisch scharf geschossen, hart gegen sich und andere. Da spielt Florians Mutter noch als Komapatientin in bewegenden Traumsequenzen mit, da begegnet der sturzbesoffene Vater in der Kneipe dem leibhaftigen Christian Steiffen, haut ihm erst aufs Maul und läßt sich dann Tipps geben für den Umgang mit schwulen Sprößlingen und schließlich brilliert Ranischs Lehrmeister und Vorbild Rosa von Praunheim höchstpersönlich in einem Gastauftritt, der an augenzwinkernder Absurdität kaum noch zu überbieten ist; in seinen besten Momenten erinnert der Film an die österreichische 80er-Jahre- Kultserie Kottan ermittelt und andere Trash-Ikonen.

Was Ich fühl mich Disco so besonders macht? Ganz einfach: dass noch über dem größten Klischee und dem tranigsten Kalauer das Wort LIEBE steht. Denn Ranisch verrät seine Figuren nicht und wahrt ihnen eine unzerstörbare Würde. Für so einen Balanceakt braucht man Schauspieler, die das verstehen und umsetzen können. Und da ist die Besetzung handverlesen, allen voran der offenbar unentstellbare Heiko Pinkowski als Vater Hanno, der fast bis zum Schluß fast alles falsch macht, was falsch zu machen geht, und den ungleichen Sohn am Ende doch für sich gewinnt; ein physisch und charakterlich schwerer Mensch, der kaum Vordergründe zu besitzen scheint. Eine große Talentprobe bietet auch der 16jährige Frithjof Gawenda als Florian und Christina Grosse spielt die Mutter mit großer komödiantischer Geste und ebensolcher Herzenswärme. Prägnant auch die kleineren Rollen, allen voran Robert Alexander Baehr als Radu, das Objekt von Florians Begierde, der mit spürbarer Freude sämtliche Berliner Ghetto- und Proletenklischees aufmarschieren lässt.

Ich fühl mich Disco? Na klar! Und irgendwie würde es einen auch nicht wundern, wenn das demnächst auch im Duden stünde… 

http://www.disco-film.de

Staatsoper Berlin: “Don Giovanni” – 27.10.2013

„Im Wald, da sind die Räu-häu-ber…“, das weiß ja jedes Kind aus dem notorischen Liedchen. Manchmal aber ist da zwischen Baum und Gestrüpp auch noch ganz anderes Personal unterwegs; zum Beispiel in Claus Guths Don Giovanni-Inszenierung, 2008 bei den Salzburger Festspielen rausgekommen und seit letzter Saison an der Berliner Staatsoper zweitverwertet. Hier meint der Zuschauer nicht nur, im Wald zu stehen, er tut es tatsächlich. Wie jetzt? Doch, wirklich: das gesamte Stück spielt im deutschen Wald, von Ausstatter Christian Schmidt so liebevoll-detailrealistisch auf die Bühne gebaut, dass jeder Modelleisenbahn-Fan vor Begeisterung Pipi inne Augen kriegt; so schön romantisch und deutsch wie es sich im Freischütz seit Jahrzehnten keiner mehr traut. Und das Ganze aus vier Perspektiven, die Drehbühne rotiert fröhlich durch den Abend (natürlich tut sie das, wir sind ja bei Claus Guth…) und es ist immer gut(h) was los: Leute in elegantem Abenddress fegen durchs Unterholz oder fahren mit dem Auto vor, es wird geturtelt, geliebt, malträtiert und gemordet, der Komtur kommt als Holzmichel daher und am Ende sinkt der dissoluto entseelt ins Grab, die scena ultima entfällt, das Stück endet mit dem auf der Lichtung knienden Leporello im Schneetreiben, während das Lichtdesign noch hinabregnende Schattenrisse spendiert wie bei Lars von Trier. Nein, Leerlauf oder Langeweile kann man dem nicht nachsagen, der Abend ist voller neuer Konstellationen, Auftritte und Detaildeutungen, ebenso wie von Merkwürdigkeiten und gewollten Konfrontationen mit dem Text. Da schauen die unteren Zweige schon ein wenig nach schief eingesteckten Kleiderbügeln aus, dann hängt da urplötzlich und wie gerufen eine Schaukel am Baum und eine verrostete Bushalte steht am Wegesrand. Jaaaa, wir wissen, dass hier einer die letzte Haltestelle verpasst hat. Oder besser gesagt: nicht nur einer. Leporello ist ein hyperaktiver drogensüchtiger Freak mit Breakdance-Fimmel, Elvira eine hysterische Teilzeitstalkerin und Anna eine Borderlinerin mit Pagenkopf, die während „Ah, non mi dir“ dem Lebensabschnittsbegleiter die Knarre aus der Manteltasche stibitzt und sich in die Büsche schlägt, ganz offenbar in suizidaler Absicht. Wahnsinnige aller Klassen, vereinigt Euch. Der Don selbst hat übrigens im Kampf mit dem Komtur auch eine Kugel abgekriegt und stirbt sozusagen den ganzen Abend auf Raten; die Handlung gerät für den Titelhelden zum letzten Hurra einer Wüstlingskarriere, einem letzten Aufflackern vor dem großen Timeout. Was natürlich sowohl die manische Getriebenheit der Figur, als auch die dynamisch-verknappte dramaturgische Anlage seiner Solo-Szenen motiviert. Also: man hat sicher schon intellektuell ausgefeiltere Regiekonzepte gesehen, aber eine anregende und unterhaltsame Inszenierung ist das auf alle Fälle.

Giovanni SOB3  “Reich mir Hand…” oder auch mehr! Christopher Maltman (Giovanni) und Anna Prohaska (Zerlins) – Foto: Monika Rittershaus

Die will natürlich entsprechend vermittelt werden. Guth war da auf der sicheren Seite, da Christopher Maltman, der die Titelpartie 2008 mit ihm in Salzburg kreiert hatte, auch in der Bundeshauptstadt am Start war. Ohne ihn würde es vermutlich auch nicht funktionieren, Maltman gibt den Herren des Waldes mit irrlichternder Präsenz und drängender Intensität und spielt den siechen Verbrecher mit geheimnisvoller Aura; geradezu beklemmend die immer häufiger werdenden Anfälle. Außerdem ist sein viriler, weich leuchtender Bariton in jedem Takt ein Quell purer Freude. Ihm zur Seite gibt Adrian Sampetrean einen etwas trockener timbrierten, doch ebenso präsenten und persönlichkeitsstarken, Leporello und entgeht auch der hier beträchtlichen Gefahr, zu überzeichnen. Sehr im Gegensatz übrigens zu seinem Salzburger Rollenvorgänger…! Zu den Aktivposten des Abends gehörten auch die quirlige und sehr stimmschön singende Anna Prohaska als Zerlina und der kraftvoll-impulsive, aber kultiviert auf Linie singende Adam Plachetka; hier kündigt sich durchaus ein künftiger Leporello oder Figaro an. Weniger überzeugend agierte der vierte im Zeichen des Baßschlüssels, Jan Martiník als Komtur hat zwar gewaltiges Material, klingt für sein Alter aber schon entschieden zu hohl. Dorothea Röschmann – auch sie war 2008 in Salzburg schon dabei, damals allerdings als Donna Anna – hinterließ als Elvira einen wesentlich besseren Eindruck als vor einigen Wochen in München; ganz offensichtlich konnte sie sich mit dieser Sichtweise und Kostümierung weit mehr anfreunden und hatte die Stimme auch technisch besser im Griff. Gesanglich gab es bei Christine Schäfers Donna Anna wenig auszusetzen, als Figur war sie allerdings kaum präsent und ließ deren überspannte Leidenschaftlichkeit total vermissen, gesungen war das zwar sauber und musikalisch, aber sehr fragil und dünn im Klang und irgendwie beinahe unbeteiligt. Und dann war da noch ihr ungeliebter Verlobter… Auch wenn ich mich jetzt bei den zahlreichen „Villazónistas“, den Fans von Rolando Villazón unbeliebt mache: als Don Ottavio ist Villazón vollkommen fehl am Platz. Er verunstaltete die Partie nicht nur mit pseudo-romantischem Schmierlegato und „kreativer“ Phrasierung, sondern irritierte auch mit teilweise haarsträubender Intonation;  über die Koloraturen von „Il mio tesoro“ sei hier lieber der Mantel der Höflichkeit gebreitet. Bei aller, durchaus vorhandenen, Wertschätzung wäre es außerdem zu wünschen, dass der Künstler auch im Auftreten wieder mehr unterscheidet zwischen dem Opernsänger Rolando Villazón und dem gleichnamigen Fernsehclown; hier wäre nämlich ersterer gefragt gewesen.

Giovanni SOB2 “Stell Dir nich so an, trink noch eenen mit…” Die Tafelszene mit D. Röschmann, C. Maltman und A. Sampetrean (Foto: Monika Rittershaus)

Schier unglaublich allerdings war, dass – angeblich – hier dasselbe Orchester und derselbe Dirigent am Werk gewesen sein sollen, die zwei Tage zuvor in der Zarenbraut so brilliert hatten. Vielleicht mutet sich Daniel Barenboim derzeit mit einer Opern- und einer Ballettpremiere sowie umfangreichen Konzertverpflichtungen etwas zu viel zu, was aber das äußerst zähe, unsaubere und unkoordinierte Spiel des Orchesters nicht entschuldigen kann. Vor allem in zweiten Akt zerfiel der Orchesterpart in lähmend-betulichem Tempo geradezu in Einzelteile, man traute seinen Ohren kaum. In Salzburg, an der Scala und anderen Top-Adressen hat Barenboim dieses Stück bereits erfolgreich dirigiert; und trotzdem hatte man an diesem Abend keinen Moment lang das Gefühl, als gehe ihn die Veranstaltung irgendetwas an.

Fazit dieses zweiten Hauptstadt-Opernabends: Mozart ist eben doch wesentlich anspruchsvoller als immer noch viele glauben und der Teufel hat diesmal den falschen Don geholt. Unter musikalischen Gesichtspunkten zumindest.