Es war ein Bild für die Götter, als am Ende eines langen Premierenabends Regisseur Krysztof Warlikowski mit seinem Team die Bühne betrat… Staunend, fast ungläubig blickte er sich um im weiten Rund; und tatsächlich: nicht ein einziges Buh ertönte, nicht die kleinste Beschimpfung von Seiten eines Publikums, das ihn für seine Münchner Debüt-Inszenierung, den Yevgenij Onegin, vor fünf Jahren noch regelrecht geschlachtet und geradezu hasserfüllt ausgebuht hatte. Dafür freundlicher Applaus und etliche Bravo-Rufe von den Rängen. Das war umso erstaunlicher, da das obligatorische Buh-Contra in der Landeshauptstadt ja bei jeder Premiere schon beinahe zur Folklore gehört und zudem Warlikowski es dem Publikum auch diesmal nicht wirklich einfach gemacht hatte. Im Gegenteil; bei den Arbeiten des polnischen Werke-neu-Entdeckers sind Neugier, Mit- und Umdenken angesagt.
Denkwürdig geriet der Abend allerdings noch aus ganz anderen Gründen. Zum einen feierte man den Einstand von Kirill Petrenko als neuer musikalischer Chef des Hauses und zum anderen war ja – selbst für die traditionsbewusste Landeshauptstadt – ein ganz großes Jubiläum angesagt. Auf den Tag genau vor fünfzig Jahren öffnete das Nationaltheater, der Operntempel am Max-Joseph-Platz, nach Zerstörung und Wiederaufbau erneut seine Pforten. „Wie man wird was man ist“; unter diesem Nietzsche-Zitat (Wer die korrekte Stelle findet, darf sich ein Steckerleis abholen) als Motto steht die aktuelle Saison, komplett mit Festakt, Festschrift, Festprogramm und sonstigem Fest-Bohei. Und wie schon am 21. November 1963 stand auch am 21. November 2013 wieder Strauss‘ Kolossalschinken Die Frau ohne Schatten, branchenintern gerne zur „FroSch“ abgekürzt, auf dem Premierenplan. Die seinerzeitige Aufführung ist elektroakustisch überliefert und kann auf CD nachgehört werden, die aktuelle musste sich in keiner Hinsicht dahinter verstecken, ein kleiner Gruß an die Früher war alles besser-Fraktion… Ich bin noch nie ein erklärter, oder auch nur latenter, Fan dieses Komponisten, dieses Dichters und erst Recht nicht dieses Werkes gewesen und habe von jeher meine künstlerischen und weltanschaulichen Probleme mit dieser Oper; ein von dröhnendem Pathos und Bombast triefendes und inhaltlich bedenklich reaktionäres und frauenverachtendes Machwerk. Insbesondere die Finalszene war für mich immer so mit der peinlichste Kitsch der gesamten Opernliteratur.
Adrianne Pieczonka und Johan Botha mit Falke im zweiten Akt (Foto: Wilfried Hösl)
Und jetzt kam Kirill Petrenko und hat gezeigt, dass es auch anders geht, wie viele Schönheiten, Nuancen und Schichtungen diese Partitur enthält. Das war nichts weniger als ein persönliches Ur-Erlebnis. Angesichts der euphorischen Pressestimmen über sein Ring-Dirigat in Bayreuth waren die Erwartungen schon hoch gewesen; aber Petrenko übertraf sie alle. Die Tempi sind relativ breit und er nimmt sich wonnevoll Zeit, jede Orchesterkantilene auszukosten, der Orchesterklang ist seidenweich und körperhaft zugleich, von verführerischer Schönheit und intensiver Spannung, ungeheuer differenziert und transparent, den riesig aufgeblasenen Orchestersatz bis in die letzte Nebenstimme ausleuchtend, ohne den Gesamtzusammenhang einen Moment lang aus den Augen zu verlieren. Die Bandbreite ist geradezu sensationell und auch in der großen Raserei im Finale des zweiten Aktes läuft Petrenko mit dem Staatsorchester nie Gefahr, in aufgesetztes Lärmen zu verfallen, bei aller Gewalt, Lautstärke und Härte bleibt der Klang noch abgerundet und musikalisch, da dröhnt nichts, da knallt nichts, das geht einem nur durch sämtliche Synapsen. Natürlich kann Petrenko auf die Grundlagen, die sein Amtsvorgänger Kent Nagano in den letzten sieben Jahren in Sachen Transparenz, Präzision und Deutlichkeit gelegt hat, aufbauen; und doch ist hörbar noch etwas dazugekommen. Eine ganz eigene musikalische Handschrift, eine sinnfällige klangfarbliche und gestalterische Vision. Vor allem fließt unter seinen Händen die Musik unangestrengt, mit großer innerer Leichtigkeit und Dynamik. So als entstehe sie gerade in diesem Moment. Einen vergleichbaren Level an Genauigkeit, gemeinsamem Gestaltungswillen und musikalischer Kongruenz erreicht auch ein gutes Orchester mit einem neuen Chefdirigenten normalerweise nach einem bis zwei Jahren; hier bereits zum Einstand. Da war man schon beinahe erleichtert, als die Blechbläser im dritten Akt doch zweimal patzten; man hätte es sonst nicht für möglich gehalten. Ich gebe zu, das Haus schon lange nicht mehr so enthusiasmiert verlassen zu haben wie nach dieser Premiere und beim Gedanken an das, was dieser fantastische Musiker mit diesem Orchester noch wird erreichen können. Wer weiß, vielleicht haben wir hier so etwas wie den Beginn einer neuen Zeitrechnung erlebt?
Elena Pankratova als Färberin (Foto: Wilfried Hösl)
Wenn man die Frau ohne Schatten besetzen will, bzw. muss, orientiert man sich am besten am Libretto: „Angerufen werden gewaltige Namen“. Denn mit anderem braucht man hier nicht anzufangen, das stimmliche und physische Anforderungsprofil steht demjenigen einer durchschnittlichen Wagner-Oper kaum nach. Wenig Auswahl also auf dem Markt. So erfordert die Partie des Kaisers einen ausgewachsenen Heldentenor, auch wenn er gerademal eine halbe Stunde auf der Bühne steht. Johan Botha singt die Partie unerschütterlich und ohne jegliche hörbare Anstrengung, überstrahlt das Orchester selbst im opulentesten Crescendo mühelos und krönt seinen Vortrag mit strahlender Vollhöhe; eine Setzung! Dass Botha und Schauspielerei zwei einander inkompatible Begriffe sind, lässt sich in dieser ohnehin extrem statisch angelegten Rolle verschmerzen. Da ist die Kaiserin gestalterisch schon weitaus anspruchsvoller und Adrianne Pieczonka konnte einmal mehr einen persönlichen Triumph einfahren. Zurechtgemacht als pittoresk leidende Society-Lady mit roter Vamp-Frisur machte sie den Zwiespalt des Zwischenwesens intensiv fühlbar, ihre große Solo-Szene im dritten Akt gehörte zu den aufregendsten Momenten des langen Abends. Pieczonkas Sopran besitzt sinnliche Wärme und einen leuchtend metallischen Kern, klingt wunderbar opulent bei differenziertem Vortrag und verströmt in der Höhe jenen magischen Silberglanz, der allen großen Strauss-Interpretinnen eigen ist. Große Gesangs- und Gestaltungskunst war auch eine Ebene tiefer, beim Färberpaar, zu erleben: mit einer perfekten Mischung aus Markanz und Schmelz sowie einem sehr nuancierten Vortrag befreit Wolfgang Koch den Barak – soweit dies möglich ist- von seiner Passivität und Weichei-Image. Er mag vielleicht kein Balsamiker erster Ordnung sein wie der eine oder andere seiner Rollenvorgänger, aber mit Sicherheit der interessanteste und glaubwürdigste Barak, den mir bislang begegnet ist. Auch Elena Pankratova, derzeit Weltreisende in Sachen Färberin, hat sicher nicht das edelste Material, aber sie gab ein fulminantes BSO-Debüt. Ihr im Vergleich etwas härterer, dunklerer und metallischerer Sopran ergab zu Pieczonkas Kaiserin einen reizvollen klangfarblichen Kontrast, die Höhe kam sicher und ohne die schneidende Schärfe, die man in dieser Rolle oft erlebt und auch im mittleren und unteren Register besitzt die Stimme Volumen und Substanz. Zudem fiel sie, wie auch die anderen Protagonisten, durch ausgezeichnete Textdeutlichkeit auf – eigentlich hätte es die Übertitel nicht gebraucht und spätestens im Finale hätte man diese eh besser abgeschaltet. Sebastian Holecek, in München noch aus seiner Zeit am Gärtnerplatztheater bekannt, gab einen kraftvollen, markanten Geisterboten und auch das Ensemble der Staatsoper überzeugte in den zahlreichen Klein- und Kleinstpartien mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung, wobei vor allem Eri Nakamura als Stimme des Falken, Hanna-Elisabeth Müller als Hüter der Schwelle und die pastose Okka von der Damerau als Stimme von Oben herausstachen. Alle diese Comprimarii treten hier übrigens nicht persönlich auf, sondern singen aus dem Off, während sie auf der Szene von eigens gecasteten Edelstatisten gedoubelt werden. Einziger sängerischer Schwachpunkt blieb, leider nicht gänzlich unerwartet, die Amme von Deborah Polaski. Die Künstlerin ist stimmlich deutlich über ihren Zenit hinaus, die Stimme klang über weite Strecken matt und brüchig und auch darstellerisch blieb sie ungewohnt farblos. Da wären einem doch einige Besetzungsalternativen eingefallen.
Johan Botha als Kaiser in gefiederter Runde (Foto: Wilfried Hösl)
Einiges eingefallen ist natürlich auch Krysztof Warlikowski. Um es gleich vorweg zu sagen: seine Inszenierung ist nicht der „große Wurf“ im Sinne einer in sich geschlossenen und bis ins Detail konzisen Neudeutung; auch Warlikowski kann und will uns das Stück nicht zur Gänze erklären, sondern greift sich einzelne dramatische Situationen, Handlungsmomente und Charaktere heraus, an denen er den Symbolgehalt und Assoziationsrahmen der Fabel abarbeitet. Eine Arbeitsweise, die in der Oper durchaus ungewöhnlich und, zumindest im ersten Akt, auch gewöhnungsbedürftig ist. Seine angestammte Ausstatterin Malgorzata Szcześniak hat dafür einen an die Arbeiten von Anna Viebrock erinnernden Raum geschaffen: eine schmucklose Halle mit rotbrauner Holzvertäfelung und sparsamer Möblage, deren Rückwand sich zu einer Art Psycho-Raum öffnen lässt, eine sterile, weißgekachelte Kammer mit Spiegelfolie am Boden, die Schauplatz der die Handlung begleitenden oder kommentierenden Visionen der Handelnden ist. In diesem, einem Nobel-Sanatorium des letzten Jahrhunderts nachempfundenen, Ambiente sind beide Sphären der Handlung, die Menschen- und die Geisterwelt, der Salon der vornehmen Gesellschaft wie auch die Waschküche und das Ehebett des Färberpaares, ständig präsent. Eine konsequente visuelle Trennung findet nicht statt, die Geister – auch deren König Keikobad tritt hier persönlich in Erscheinung – sind sozusagen unter uns und manifestieren sich durch ihre Boten, nämlich die genannten Erscheinungen, aber auch als bunte Vögel, uniformierte Kinder oder bühnenfüllende Mangas; was gerade die Kinderstatisterie hier an Genauigkeit und Disziplin bringt, ist schon außergewöhnlich. Dabei entfaltet die Regie ihre Qualitäten nach innen wie nach außen, die ungeheuer intensive und kleinteilige Personenführung begeistert ebenso wie die spektakulär inszenierten Traumsequenzen in Form von Videokunst und Filmzuspielungen von Denis Guéguin. Das beginnt bereits vor dem ersten Erklingen des Keikobad-Themas mit einem Ausschnitt aus Alain Resnais‘ Film Letztes Jahr in Marienbad, welcher atmosphärisch in das Setting der Aufführung einleitet und geht bis hin zu wahren Film- und Lichtkunstwerken; in dieser technischen Qualität und Brillanz habe ich so etwas auf der Opernbühne nie zuvor gesehen. Da fällt dann nicht weiter ins Gewicht, dass anderes etwas unterbelichtet bleibt, etwa die Transformation des Kaiserpaares, und auch zur Figur der Amme ist dem Regisseur wenig eingefallen, sie bleibt hier eine leicht grämliche Gouvernante im cremefarbenen Kostümchen und ausgebleichtem Domina-Dutt. Herausragend sinnfällig und differenziert ist Warlikowski dagegen die Beziehung des Färberpaars gelungen, das ist nicht der übliche Kleinkrieg Volltrottel vs. Egozicke, sondern Szenen einer Ehehölle zwischen Sartre und Tennessee Williams. Und das so problematische Finale? Das Schlußbild mit den sekttrinkenden Protagonisten am Esstisch und einer Schar buntgekleideter Kinder, die im Hintergrund Schattenspiele vor kahler Wand veranstalten, ist sicher nicht der geniale Einfall, aber es ist doch relativ kitschfrei und nicht missglückt. Und das ist, wie gesagt, bei diesem Stück schon das, was man sich wünschen kann.
Noch jemand ohne Schatten hier? – Die Schlußszene in Krysztof Warlikowskis Inszenierung (Foto: Wilfried Hösl)
Ein zwar langer, aber intensiver und inspirierender Abend. München feiert Strauss, den neuen GMD und natürlich auch sich selbst. Wie das denn so sein muss…!
Dieser Artikel ist auch als Gastbeitrag bei den hochgeschätzten Kollegen von http://www.operalounge.de in Berlin erschienen.