Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf: “La Traviata” – 20.4.2019

Volle Pulle oder Flasche leer?

Es gab mal – die Älteren werden sich erinnern – eine Sektreklame mit dem Slogan „Lieber trocken trinken als trocken feiern“. In der aktuellen Traviata-Produktion der Rheinoper ist beides angesagt; wer hier eines der angeblich so mondänen Feste der Pariser Demimonde besucht, muss sich das prickelnde Betriebsmittel schon selbst mitbringen, Ausschank ist nicht. Da fuchteln ausgedürstete Choristen sinnfrei mit leeren Champagnergläsern, nur Violetta hat eine Pulle dabei und gibt keinen Tropfen ab. Könnte ja jeder kommen. Alfredo hat verstanden – obwohl er Tenor ist – und sich zur Party im dritten Akt selbst versorgt, bzw. schon gut vorgeglüht. Kündigen sich da weitere Sparmaßnahmen an oder hat war die Requisite im Osterurlaub? Oder hat nur einfach keiner nachgedacht? Das Bild jedenfalls ist symptomatisch: statt Volle Pulle ist hier, im Wortsinn, Flasche leer.

Fest bei Flora (Foto: Birgit Hupfeld)

Womit wir schon mitten drin sind in der Materie; diese Inszenierung ist, um im Bild zu bleiben, eine einzige Durststrecke, da schäumt und perlt und prickelt überhaupt nichts. Für den Kulturschock gehört die Karriere von Andreas Homoki schon lange zu den größten Mysterien der Opernwelt und auch diesmal beschränkte seine „Regie“ sich in banalem Design-Schnickschnack, der an keiner Stelle dem Kern der Geschichte oder dem Seelenleben der Protagonisten auch nur ansatzweise nahe kommt. Sehgewohnheiten aufbrechen? Konventionen überdenken? Eine Geschichte in die Neuzeit transferieren und Emotionen wecken? REGIE führen? Ach, geh mich doch wech, wie man in dieser Weltgegend zu sagen pflegt. Dagegen kann Frank Philipp Schlößmann ein grandioser Raumerfinder und -entwickler sein. Wenn er will. Bei der neuen DOR-Fledermaus (siehe Archiv Januar 2019) hat er gewollt, hier eher nicht. Oder durfte er nicht? Jedenfalls beschränkte sich sein Arbeitsnachweis diesmal auf eine glatte, schräg gestellte Bodenplatte – das „gesellschaftliche Parkett“, auf dem man schon mal ausrutschen kann, wir haben verstanden – und einen bühnenfüllenden Stoffhorizont dahinter, der in verschiedenen Blautönen ausgeleuchtet wird und an diesem Abend so schlecht gespannt war, dass er heftige Falten warf… Im zweiten Akt kommen noch aus dem Boden wachsende künstliche Kamelien dazu, die Landidylle, die Kameliendame… Ja, schon gut. So banal und peinlich wie es sich liest, schaut es auch aus. Zu dem tristen Spektakel hat Gabriele Jaenecke elegante Kostüme beigesteuert; weiße Kleider mit schwarzen Aplikationen für den ersten und schwarze mit weißen für den dritten Akt, dazwischen weiße Landhausmode. Warum im Programm mit Volker Weinhart ein Lichtdesigner angegeben ist, erschließt sich nicht, das Licht wurde angeknipst und blieb den ganzen Abend praktisch unverändert.

Glanz und Illumination zog der Abend ausschließlich aus der Performance der wunderbaren Adela Zaharia als Violetta. Kaum zu glauben, dass sie erst wenige Wochen zuvor in der Partie debütiert hat, so stilsicher, nuanciert und eindringlich gestaltet sie die Rolle bis hinein in die feinsten Schattierungen von Phrasierung, Artikulation und vokalen Farbakzenten. Die Stimme vereint feinsinnigen melancholischen Zauber und poetische Eleganz mit fast explosiver Virtuosität und knisternder Sinnlichkeit. Die stimmlich größte Anforderung der Partie ist es, die perlenden Koloraturkaskaden des ersten Aktes und die affektgesättigten Leidenskantilenen der restlichen drei Akte zu einer homogenen und glaubwürdigen Einheit zu verschmelzen; das gelingt Zaharia so exzellent wie nur ganz wenigen Kolleginnen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit. Wie alle großen Violetta-Interpretinnen hat ihre Rollengestaltung nichts Larmoyantes, sie bewegt durch Beseeltheit und Wahrhaftigkeit, ohne aufgesetzte Drücker, Schluchzer oder pseudonaturalistische Huster. Überragende Gesangstechnik und die Kreativität einer echten Instinktmusikerin gehen eine glückliche und überwältigende Verbindung ein. Seit Edita Gruberovas Rückzug von der Opernbühne vor knapp zwei Monaten ist deren Thron als Königin des dramatischen Koloraturgesanges verwaist; Adela Zaharia hat sich bereits in die erste Reihe möglicher Nachfolgerinnen gesungen.

Kraftfeld des Abends: Adela Zaharia als Violetta (Foto: Birgit Hupfeld)

Nicht auszudenken, welche Sternstunde hätte stattfinden können, wenn Zaharia vom Pult und ihren Bühnenpartnern irgendeine Unterstützung bekommen hätte…! Publikumsliebling Laimonas Pautienius als Germont hätte das vermutlich sogar gewollt, erlitt nach einem noch sehr kultiviert und solide bewältigten Duett allerdings einen akuten Heiserkeitsanfall, bzw. eine plötzlich auftretende Indisposition, die ihn stimmlich bis zum Ende praktisch lahmlegte. An Legatobögen und Phrasierung war nicht mehr zu denken und er rettete sich halb gesprochen irgendwie über die Runden. Da konnte man mit dem sympathischen Künstler nur noch mitleiden. Unfassbar allerdings, dass es nach der Pause keinerlei Ansage gab und der Sänger in einer solch belastenden Situation schnöde im Stich gelassen wurde! Da hat ein Opernhaus seinen Künstlern und seinem Publikum gegenüber eine Fürsorgepflicht. Einen auch in disponiertem Zustand sehr unbefriedigenden Eindruck hinterließ Alexey Neklyudov als Alfredo; lethargisch und temperamentarm bis hin zur Kommunikationsverweigerung fand die, ja ohnehin etwas bläßlich gezeichnete, Figur an diesem Abend praktisch nicht statt. Die Noten liefert er weitgehend verlässlich ab, ohne ihnen sonderlichen Ausdruck zu verleihen, die Cabaletta im zweiten Akt serviert er nur einstrophig und ohne die geforderte Kadenz zum hohen C. Aus dem Ensemble der Halbweltgestalten und zahmen Society-Löwen ragten die beiden alten Haudegen Bruno Balmelli als Baron Douphol und Johannes Preißinger als Gaston heraus, der Rest der supporting cast blieb unauffällig, ebenso wie der mittlerweile aus Etatgründen numerisch ausgedünnte Rheinopernchor in der Einstudierung von Patrick Francis Chestnut.

In the middle of nowhere: Violetta (Adela Zaharia) und Germont senior (hier Lucio Gallo) – Foto: Birgit Hupfeld

Zu allem Überfluß hatte der Abend in Antonino Fogliani einen musikalischen Leiter, der diese Aufgabe nicht allzu ernst zu nehmen schien und nach dem Motto „Hauptsache ich hab die Haare schön und der Rest interessiert mich nicht“ agierte. Fogliani ist immerhin Erster Gastdirigent des Hauses und praktisch für das gesamte italienische Repertoire zuständig, zudem auch an namhaften Opernhäusern zunehmend gefragt. Ein Fakt, der an diesem Abend doch einigermaßen erstaunt, denn die Musik dümpelte weitgehend unakzentuiert und spannungsarm dahin, ein „klassischer“ Dienst-nach-Vorschrift- Abend, wie er bei deutschen Kulturorchestern leider in unschöner Regelmäßigkeit vorkommt. Große Emotionen vermittelte der Orchesterpart nicht und auch die Sänger fanden keine Unterstützung, da mochte die Protagonistin noch so auffordernde Blicke nach unten richten… Hallo? Das ist Verdi! Geht so gar nicht.

Adela Zaharia MUSS man erlebt haben, ansonsten gab es zwischen diesen beiden österlichen Verdi-Abenden an Rhein und Ruhr einen Klassenunterschied zugunsten der Essener.

Gehabt Euch also wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

Aaltotheater Essen: “Otello” – 18.4.2019

The Fog – Nebel des Grauens hieß ein 1980 entstandener Horrorfilm von Altmeister John Carpenter; und eine Prise davon wabert auch in der Essener Neuproduktion des Otello durchs Bild. Für den Nebel sorgen auf der Bühne des Aalto-Theaters allerdings nicht wie im Film ruhelose Seelen untoter Seeleute – das ist bekanntlich ein anderes Stück – sondern der Intrigant Jago himself: ausgestattet mit einem praktischen Maschinchen läuft er zu Beginn über die noch kahle Bühne und nebelt den Schauplatz ein, bevor die große Batterie den Job übernimmt. Und auch über Otellos Leiche wird am Ende nochmal die Sprühdose geleert… Jagos teuflischer Odem aus dem Mini-Kanister, bereit für das nächste Opfer? So oder so ähnlich ist das wohl gemeint.

Im Auge des Sturms: Nikoloz Lagvilava als Jago (Foto: Thilo Beu)

Zum Glück erweist sich die Inszenierung von Roland Schwab dann doch nicht als so „nebulös“, sondern erzählt die Geschichte in konzentrierten und packenden Bildern. Otello? Neuinszenierung? Da war doch diese Saison schon was? Ja, von der gefeierten Münchner BSO-Produktion (siehe Archiv Dezember 2018) am Jahresende unterscheidet sich diese Deutung so diametral, wie es nur geht. Schwab siedelt die Handlung in der betont rauen und macho-dominierten Welt eines Militärstützpunktes an, die gelegentlich hereinwuchernde tropische Vegetation verweist auf Indochina oder die Karibik als Schauplatz. Das Hauptelement des Bühnenbildes von Piero Vinciguerra bilden bühnenhohe und sich immer wieder verschiebende Jalousien, die schnelle Wechsel von Raum und Atmosphäre ermöglichen; in einem Stück, in dem es so explizit um Täuschung, Verschleierung und (Durch)blicke geht, ist dies eine maximal sinnstiftende Bühnenkonstruktion; zumal in „Jalousie“ ja auch noch „jealousy“, Eifersucht, steckt und die Teile in früheren Epochen auch „Venezianer“ genannt wurden… Schöner kann man kaum wortspielen. Im Gegensatz zur Münchner Inszenierung von Amélie Niermeyer ist Otello hier kein graumäusiges Etwas, sondern ein Rambo auf Speed, eine muskulöse, kahlköpfige Kampfmaschine, permanent im roten Bereich drehend, eine Granate auf zwei Beinen. Kriegstraumatisiert und aus der Bahn geworfen sind sie beide, der von Niermeyer wie der von Schwab, nur explodiert letzterer, statt zu implodieren; was natürlich eine weitaus stärkere theatrale Sogwirkung entfaltet. Die zerrissene Persönlichkeit dieses Antihelden in Tateinheit mit genuiner Gewaltaffinität sprengt die Figur nahezu auseinander, immer wieder tauchen hinter den halbdurchsichtigen Jalousien Otello-Doubles auf, die Facetten der Figur sichtbar machend. Dem gegenüber bleibt Jago durchgehend der massige, leicht schmierige und nicht weniger brutale Strippenzieher. Wer Schwabs Münchner Mefistofele-Inszenierung gesehen hat, erkannte die Geistesverwandschaft sogleich; Jago trägt nämlich dieselbe ölige Undercut-Frisur wie der Höllenfürst selbst, man soll ja schließlich sofort sehen, was los ist… Dass er zum Credo die Drogenplantage im Hintergrund abfackelt, ergibt streng genommen zwar wenig Sinn, macht als Theaterbild aber schon was her, Hass-Arie vor Feuerwalze kommt nachdrücklich.

Otello (Gaston Rivero) und seine Abspaltungen (Foto: Thilo Beu)

Nicht so ganz integriert in das Konzept sind die beiden Frauenrollen, die als einzige in Zivil rumlaufen dürfen, den Damenchor hat Kostümdesignerin Gabriele Rupprecht ebenfalls in die Kampfanzüge gesteckt. Dass Desdemona in diesem Konzept nicht die hehre Unschuld aus gutem Hause ist, ist nachvollziehbar, hier hat Otellos Gattin ebenfalls einen unverkennbar proletarischen Background, eine toughe, vom Leben durchaus abgehärtete Frau von sinnlicher, regelrecht lasziver Ausstrahlung. Das Stichwort heißt Klischeevermeidung, auch wenn die berührende Naivität so natürlich etwas kurz kommt. Eine eher geheimnisvolle Rolle spielt Emilia, die hier doch weit mehr Jagos Ehefrau denn Desdemonas treue Gefährtin ist und keinem von beiden sonderlich zugetan erscheint. Hier hätte konzeptionell etwas schärfer gezeichnet werden dürfen. Sicherlich, die Inszenierung hat auch ihre kleineren Schwächen, etwa die etwas unbeholfen wirkende Eingangsszene oder einige kleinere Mätzchen, punktet aber mit atmosphärischer Stringenz, einer stets lebhaften Personenregie und ungefilterter Dramatik. Das Rasende, das Archaische, die Unbedingtheit der Emotionen, die der Kulturschock bei Niermeyer so schmerzlich vermisst hatte; hier sind sie geboten.

Auch im Ruhrpott steht und fällt das Konzept natürlich durch die Besetzung; und Gaston Rivero wirft sich in blutbefleckter Armeehose und mit zumeist entblößtem Oberkörper in die Titelpartie als gäbe es kein Morgen und lebt die radikale Charakterzeichnung mit aller Konsequenz, hart gegen sich und andere. Ein singender Hooligan, das Tier im Mann, undomestizierbar, gefährlich und auf der Zielgeraden zur Selbstzerstörung. In diese wahnverzerrte und wahrnehmungsgestörte Psyche den letzten Pflock einzuschlagen, ist für den Seelenzerstörer Jago die leichteste Übung, das mitzuerleben, verstört. Auch stimmlich gibt Rivero alles, sein strapazierfähiger Spinto-Tenor ist für einen Otello ungewohnt hell timbriert, verfügt aber in den ruhigeren und grüblerischen Momenten über fahle und resignative Farben, bevor er aufs Neue der Raserei verfällt. Anders als in vielen neueren Inszenierungen gibt sich Jago in Gestalt von Nikoloz Lagvilava keine Mühe, seinen Zynismus, seine nihilistische Weltsicht und seinen destruktiven Charakter zu verbergen; warum auch? In dieser militärischen Welt, in der Mord und Vernichtung Alltag, ja Wesenszweck, sind, braucht es keine Tarnung, der Abgrund hat sich längst geöffnet. Mit seiner finsteren Erscheinung, dem sparsamen und prägnanten Spiel und dem rabenschwarzen Timbre seines ausladenden Baritons macht Lagvilava sofort klar, dass hier das, bzw. der abgrundtiefe und motivationslose Böse waltet, ein Überzeugungstäter, ein Sadist aus Leidenschaft. Gabrielle Mouhlen, neu im Ensemble des Aalto-Theaters, setzt als Desdemona die ungewöhnliche Rollenkonzeption mit eindringlichem Spiel um, offenbart allerdings einige gesangstechnische Schwächen; die Intonation ist nicht immer krisenfest, die Höhe hörbar erkämpft und der Tonansatz immer wieder unsauber. Dazu kommt noch ein starkes Vibrato bei längeren Notenwerten, was vor allem die kontemplative Wirkung ihrer Soli im letzten Akt leider erheblich schmälert.

Voller Einsatz: Otello (Gaston Rivero) und Desdemona (Gabrielle Mouhlen) – Foto: Thilo Beu

Die Riege der kleineren Rollen wird glanzvoll angeführt von Carlos Cardoso, einen solch schmelzfließenden und doch viril timbrierten Cassio von derartig eleganter Phrasierung hört man auch an den großen Häusern sehr selten. Auch Fachkollege Dmitry Ivanchey macht als Rodrigo eingangs auf sich aufmerksam, Baurzhan Anderzhanov versieht die Doppelrolle des Montano und Lodovico sehr seriös, Katarzyna Kuncio als Emilia und Karel Martin Ludvik als Herold runden das Ensemble ab. Vokal weitgehend sturmfest zeigt sich in der Eingangsszene der von Jens Bingert einstudierte Chor.

Extrem unfair, wenn auch unvermeidbar ist der Vergleich des Dirigates von Matteo Beltrami mit demjenigen Kirill Petrenkos in München… Sich von letzterem innerlich freizumachen gehört sicherlich zu den schwierigsten und undankbarsten Übungen des Rezensenten. Sagen wir es mal so: wenn der Kulturschock den Petrenko-Otello nicht gehört hätte, würde er in etwa Folgendes schreiben: Beltrami hatte die Essener Philharmoniker auf einen eher leichtfüßigen und schlanken Verdi-Sound eingeschworen, dirigierte allerdings über etliche Details der Partitur nonchalant hinweg und beschränkte sich über weite Strecken auf zuverlässige Sängerbegleitung.

Gehabt Euch also wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

Weitere Vorstellungen am 12. Mai und 28. Juni, Karten unter tickets@theater-essen.de

#TuP #verdi #otello