Aaltotheater Essen: “Der Freischütz” – 22.12.2018

“Samiel. Es ist zum Lachen! Wo ist denn dein c-moll-Fortissimo aus Streichertremoli, Holz und Posaunen, das, ingeniöser Kinderschreck für das romantische Publikum, aus dem fis-moll der Schlucht hervortritt wie Du aus Deinem Felsen?” – So der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman Doktor Faustus, der mit dem Auftritt seines leibhaftigen Besuchers erst so gar nicht zufrieden ist… Was er hier andeutet, hat Weber musikalisch geliefert und den Auftritt des Höllenfürsten musikalisch entsprechend imaginiert; nur eines von vielen Inszenierungsproblemen, wenn man diese deutschromantischste aller deutschromantischen Opern heute peinlichkeitsfrei auf die Bühne bringen will.

In der vorweihnachtlichen Premiere des Aaltotheaters braucht es den Teufel als Theaterfigur schon gar nicht mehr, denn das Böse, das diabolische Prinzip ist bereits eingesickert in die Seelen der Dorfbewohner, dass die ganze Gemeinde buchstäblich des Teufels ist. Was konkret bedeutet, dass Regisseurin Tatjana Gürbaca dem deutschen Wald und jeglicher Form von Tümelei szenisches Hausverbot erteilt und die Folklore-Bremse gezogen hat. Zugleich beweist sie mit dieser konzeptionell wie handwerklich ambitionierten Deutung, dass der Freischütz auch für heutige Auditorien durchaus sinnvoll inszenierbar ist; zumindest dann, wenn man ihn genau liest und nicht in die Jungfernkranz & Jägerchor-Falle tappt.

Im Dorf der seltsamen Dinge… (Foto: Martin Kaufhold)

Die Geschichte spielt hier in einem abgelegenen Dorf, das in Böhmen, aber auch sonst irgendwo auf der Welt liegen könnte und in dem seltsame Dinge vor sich gehen. Der gerade zuende gegangene Krieg hat die Bevölkerung traumatisiert und verstört, wird aber kollektiv verdrängt; nur Kaspar, den es offenbar besonders hart erwischt hat, widersetzt sich dem. So erklären sich für die Regisseurin auch die merkwürdigen Rituale dieser Gemeinschaft, etwa der Probeschuß. Dieses Kollektivbewußtsein wird mit äußerster Entschlossenheit verteidigt, Pardon gegenüber Außenseitern wird nicht gegeben; so brutal wie hier hat man das Mobbing gegenüber dem verhassten Emporkömmling Max wohl noch nie inszeniert gesehen. Auch die zumeist ausgeblendete Vorgeschichte, dass Agathe und Kaspar einst ein Paar und er erster Anwärter auf den Posten war, wird zumindest angedeutet und auch Beziehungen zwischen Agathe und Ännchen sowie zwischen Max und Kaspar als Komplementärfiguren mit – zumindest latent – homoerotischer Anziehung schärft das Inszenierungsprofil. Ebenso die Wolfsschlucht-Szene, in der sich das Trauma besonders deutlich zeigt: statt billiger Show-Effekte begegnen die beiden Männer einem Pandämonium realer oder eingebildeter Gestalten, die ihre Schockerlebnisse aus dem Krieg – Tod, Verlust, Vergewaltigung, ungewollte Schwangerschaft oder Flucht – noch einmal pantomimisch nacherleben; mechanisch, seelenlos und in Endlosschleife. Marthaler meets Murmeltiertag, das ist richtig gruslig. Samiels Dialogtext wird vom Chor aus dem Off eingeflüstert, Kaspar puhlt die Freikugeln aus Max`Eingeweiden und reicht sie mit blutigen Pfoten an ein blondes kleines Mädchen… “Hier bin ich!” sagt dieses dann als Stimme des Teufels. Hier sind wir ikonographisch bei Bill Friedkin und “Der Exorzist”. Auch das Finale kann in dieser kompromißlos düsteren Lesart natürlich keine Befreiung und kein Happy End sein: tatsächlich schießt Max auf seine Braut, ein halbtransparenter Vorhang senkt sich, hinter dem die Schlußszene mit dem Eremiten-Auftritt als Abfolge sepiafarben angehauchter Tableaux im Stile alter Fotographien abgefeiert wird; Aufarbeitung und gesellschaftliche Reinigung finden weiterhin nicht statt, ein tyrannisches Ritual wird durch ein anderes ersetzt, alles von Obrig- wie Geistlichkeit verfügt und alles bleibt beim Alten. Zum ominösen Schlußchor “Wer rein ist von Herzen” erscheinen Eisenbahngleise als Projektion auf dem Vorhang und man meint, im Hintergrund den dunklen Turm zu sehen… Der Weg der Verdrängung und die Flucht in eine angeblich bessere Vergangenheit bedeutet den Abschied von der Humanität und führt in der Konsequenz in die Deportation und nach Ausschwitz. So ist dieses Ende wohl zu verstehen.

Auch das sparsam-prägnante Bühnenbild von Klaus Grünberg, in Personalunion auch für das Lichtdesign zuständig, zeigt die Allgemeingültigkeit dieser Gesellschaftsanalyse sehr sinnfällig: die weitgehend kahle Bühne wird hinten eingefasst von sieben Häusersilhouetten, die zugleich als Tafeln zum Anzeichnen magischer Symbole dienen, dahinter schließt ein netzartiger undurchdringlicher Vorhang aus bräunlichen Zotteln die Szenerie ab; kein Horizont, weder bildlich noch geistig, nur Begrenzung und Einengung. Ist es das, was vom deutschen Wald übrig ist? Eigentlich stellt sich die Frage nicht mehr. Auch die Kostüme von Silke Wilrett lassen sich historisch kaum verorten, zwar tragen viele Dörfler Spitzenkrägen und Wämse wie in einer Wallenstein-Inszenierung, doch gibt es dazwischen die eine oder andere Wehrmachtsuniform und auch ein faschistisches Schwarzhemd.

Massenphychose in der Wolfsschlucht: Max (Maximilian Schmitt) und Heiko Trinsinger (Kaspar) – Foto: Martin Kaufhold

Passend zur Inszenierung betont auch GMD Tomáš Netopil am Pult der bestens aufgelegten Essener Philharmoniker – auch die gefürchteten Hornstellen klingen sauber und patzerfrei!- die Nachtseiten der Romantik und setzt auf dunkle Klangfarben und einen gewichtigen, vollmundig.opulenten Orchesterklang. Die Verzweiflung, die Max erfasst, wird ebenso hörbar wie die gesamte wahnhafte Atmosphäre der Handlung. Die Tempi sind meistenteils breit und ausladend, werden aber mit Sinn gefüllt, so dass der Spannungsbogen nicht abreißt.

Auch das Sängerensemble zeigte sich zwei Tage vor den Feierlichkeiten gut bei Stimme und auf erfreulich hohem Niveau homogen. Wie bereits vorletztes Jahr als Elsa von Brabant gelingt Publikumsliebling Jessica Muirhead auch als Agathe ein beeindruckend vielschichtiges Rollenporträt. Ihr Sopran ist im Timbre herber und erdiger als in dieser Rolle gewohnt, verfügt aber über eine große Bandbreite an Nuancen zwischen träumerischer Poesie und bodenständigem Selbstbewußtsein. Tamara Banješevic ist als Ännchen keine trällernde Soubrette, sondern eine toughe junge Frau, die mitnimmt was geht – und wenn es eine schnelle Nummer mit dem Fürsten ist – und sich ansonsten keine Illusionen bezüglich der Zukunft macht. Das kommt in Gesang und Spiel sehr gut zur Geltung, nur an Aussprache und Textverständlichkeit, gerade im gesprochenen Dialog, könnten beide Damen noch etwas arbeiten. Mit letzterem hat Maximilian Schmitt als Anti-Held Max keine Probleme, da verrät die blitzblanke Diktion den erfahrenen Lied- und Oratoriensänger. So un-, ja antiheroisch hat man die Rolle selten gespielt gesehen, dieser Jägerbursche muß nicht nur zum Jagen getragen werden, er ist schon optisch ein einziger Minderwertigkeitskomplex auf zwei Beinen. Schmitt singt mit hell timbriertem und lyrisch dominierten Tenor, technisch tadellos und stilistisch auf der Höhe. Einziges Manko ist eine gewisse Einfarbigkeit des Vortrags, die seelische Pein und Verzweiflung, die er dauernd besingt, findet sich in der Stimme kaum wieder. Heiko Trinsinger zeichnet den labilen Charakter Kaspars stimmlich und darstellerisch prägnant nach. Seine Figur profitiert, neben Agathe, sicherlich am meisten von der Regie, die in ihm nicht nur den platten Opernschurken, sondern den tragisch Verworfenen und Entwurzelten sieht.

Die kleineren Partien dieses Essener Freischütz sind ebenfalls fast durchgehend gut besetzt mit dem vornehmen Martijn Cornet als Ottokar, dem baßgewaltigen Til Faveyts als Eremit und dem pointierten Albrecht Kludszuweit als Kilian. Lediglich Erbförster Kuno in Gestalt von Karel Martin Ludvik tönt arg abgenutzt und rauhstimmig. Der von Jens Bingert einstudierte Opernchor begann in der Eingangsszene mit einigen ungewohnten Abstimmungsproblemen, war aber schnell wieder auf Linie und für den Rest des Abends wie immer eine Bank.

Ziemlich genau zwei Jahre nach ihrem gemeinsamen Lohengrin an selbiger Wirkungsstätte ist Netopil und Gürbaca zusammen mit den Singdarstellern Muirhead und Trinsinger mit diesem Freischütz weit mehr gelungen als ein “ingeniöser Kinderschreck”, nämlich ein hochspannender, durchdachter und intensiver Opernabend. Die aus dem Sport bekannte Devise “Never change a winning team” scheint auch im Musiktheater zu funktionieren. What’s next? Wie wäre es mit Tannhäuser oder gar dem Rosenkavalier?

Gehabt Euch also wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

 

 

Bayerische Staatsoper: “Otello” – 15.12.2018

Il postino di Venezia

Verdis „Otello“ an der Bayerischen Staatsoper zwischen Sensation und Mißverständnis

Der Sturm kracht, wütet, tobt. Das Orchester entfaltet in voller Raserei die Elemente und ruft die Titanen herbei. Wir sind bei Giuseppe Verdi und Otello. Ganz klar. Was sehen wir? Auf jeden Fall schonmal keine von der Windmaschine synchron geschleuderten Mäntel und Frisuren und keine bemüht gebückten Chormassen… Da steht eine schöne, großgewachsene und charismatische Frau in einem weitgehend leergeräumten bürgerlichen Salon mit Holzvertäfelung, Stuckdecke und Kamin. Der Raum hat schon bessere Tage gesehen, seine Bewohner auch. Der Sturm ist kein Wetterphänomen, sondern ein seelisches, ein Aufschrei der Psyche. So ist das bei Verdi und so ist es zuletzt auch des öfteren zu sehen gewesen. Das Flagschiff legt an und der Sieger kehrt heim… So ist das bei Verdi; und das sollte man auch hören, denn das machtvoll auftrumpfende „Esultate!“ des Titelhelden ist eines der gewaltigsten Entrées der Operngeschichte, Otello tritt nicht einfach auf, er sprengt alles weg was im Weg sein könnte… Und hier? Nichts. Eine Türe geht auf und eine graumäusige undefinierbare Gestalt in einer Art Nachtwächter- oder Postbotenuniform (Kostüme: Annelies Vanlaere) schleicht herein, ringt sich ein, hier irgendwie sinnfreies „Esultate“ ab und flatscht sich aufs Bett. Ja doch, liebe Fans, es ist wirklich Jonas Kaufmann; auch wenn er mit der seltsamen Haarfrisur nicht so ausschaut… Dieser Moment erweist sich leider als szenisch irgendwie richtungsweisend für den weiteren Verlauf des Abends, der ersten und mit ausgereiztem Hysteriepegel erwarteten Neuinszenierung der Saison.

Verloren im Raum: Otello (Jonas Kaufmann) und Desdemona (Anja Harteros) – Foto: Wilfried Hösl

Dabei hat Amélie Niermeyer, bislang am Haus mit einer eher belanglosen Bebilderung von Donizettis La Favorite vertreten (siehe Archiv November 2016), einen durchaus packend intensiven Theaterabend inszeniert, an dem es den drei Protagonisten immer wieder gelingt, mit faszinierender Körperlichkeit und Präsenz ein dichtmaschiges Beziehungsnetz zu flechten und dieses unter Strom zu setzen. Was wir erleben, ist eine zugespitzte Version einer Ehehölle à la Strindberg oder Tenessee Williams mit einem Gruß von Sartre; Komplexe, Lebenslügen und Traumata wohin man blickt, ungeschickte Zärtlichkeiten und unbeherrschte Aggressionen wechseln einander ab und sind in einzelnen Momenten kaum noch klar unterscheidbar. Bühnenbildner Christian Schmidt hat diese explosive Konstellation in strenge Räume geradezu eingesperrt; der etwas abgeranzte Salon des Eingangsbildes findet sich eingeschachtelt in einem größeren, in etwas dunkleren Farben gehaltenen, der dem inneren ansonsten vollkommen entspricht. Beide Räume schieben sich in einander oder von einander weg, schreiben sich optisch fort oder brechen ihre Symmetrie und sind in sich wandelbar, die Kamine sind mal links oder mal rechts, die Türen ebenso und zu den Aktbeginnen liegt derselbe Raum auch noch als 360°-Videoeinspielung über der Szene und dreht das Ganze gefühlt um die eigene Achse.

So weit, so ambitioniert und auch spannend. Die Sache hat allerdings einen gewaltigen Haken: sie paßt nicht zum Stück. Verdi und sein Librettist Arrigo Boito erzählen in ihrer Oper eine komplett andere Geschichte. Diese handelt von der grausamen wie planvollen Zerstörung des Protagonisten, teils durch die perfide Intrige Jagos, teils durch einen eigenen Hang zur Selbstzerstörung, der erst das Einfallstor für erstere öffnet. Der erste Akt schafft die Fallhöhe für den Rest des Stückes, zeigt Otello als dreifachen Sieger und Helden: als militärischen Sieger und Stürmebezwinger, dann als herrscherliche Autorität und Friedensstifter und schließlich als leidenschaftlich Liebenden. Wenn nämlicher Otello nun vom ersten Moment traumatisiert und verunsichert auftritt, ein natural born loser vom Scheitel bis zur Sohle, funktioniert die Geschichte nicht und die Intrige wird obsolet. Genau dies passiert bei Niermeyer, aus einer großen Tragödie wird eine kleingezimmerte Beziehungskiste von maximaler Beliebigkeit und ohne tragische Fallhöhe; hier agiert kein LEONE, kein Löwe von San Marco, sondern höchstens il postino, der Postbote von Venedig. Dessen Geschichte weder Shakespeare noch Verdi und Boito erzählt haben… Und auch wenn Desdemona hier deutlich mehr Präsenz auf der Bühne hat als üblich; ein irgendwie gearteter feministischer Ansatz läßt sich aus Niermeyers Regie ebenfalls nicht herauslesen. So ist diese Inszenierung am Ende des Tages eine Themaverfehlung auf hohem handwerklichen Niveau.

Davon kann im Orchestergraben keine Rede sein; im Gegenteil, hier wächst das Staatsorchester unter den magischen Händen von Kirill Petrenko noch einmal über sich hinaus und zelebriert einen Opernthriller, wie er farbenreicher, intensiver und funkelnder kaum gespielt und gestaltet werden könnte. Schon der berühmte Beginn der Oper macht gnadenlos deutlich, was hier passiert; bei mittelguten und auch bei einigen besseren Dirigenten – die mediokren übergehe ich jetzt mal – hört man zumeist einen großen Knall gefolgt von grummelndem Leerlauf bevor das Orchester zum nächsten Knalleffekt ansetzt… bei Petrenko gibt es weder Löcher noch Leerlauf, es stürmt und wütet und tobt in jedem Takt, egal ob laut oder leise oder für den Moment gar nicht gespielt wird, die unerbittlich treibende nervöse Energie der Szene bleibt immer präsent und intensiviert sich, von der großen Chorhymne „Dio, folgor della bufera“ bis hin zum „Esultate“ als Zielpunkt der gesamten Szene. Das ist Hardcore- Dirigieren, ohne dass man das Gefühl hat, einem Dressurakt beizuwohnen, das ist einfach unfassbar gut strukturiert, präzise und kraftvoll, ein lustvoller Blick in den Abgrund. Das kennt der Kulturschock aus den Aufnahmen von Toscanini und Carlos Kleiber; live erlebt hat er es zum ersten Mal. Und das ist ja erst die Introduzione! Dann geht es ja noch knapp vier Akte so weiter… Eigentlich müßte man jede einzelne Szene dieses phänomenalen Dirigates einzeln analysieren und würdigen, denn ein Ur-Erlebnis folgt in diesen zweieinhalb orchestralen Sternstunden dem anderen. Petrenko entfaltet einen schier unglaublichen Farbreichtum und hält den Klang dabei immer schlank, transparent und flexibel und verliert bei aller Detailarbeit nie den großen Spannungsbogen über die gesamte Partitur. Keine Phrase, kein Einsatz, kein Detail erklingt hier irgendwie so und ohne Grund, sondern mit größtmöglicher Stringenz und Klarheit.

Das Paar in Aktion (Foto: Wilfried Hösl)

Auch was die Besetzung angeht liefen Münchens Melomanen plus die entsprechenden Reisekader bereits im Vorfeld heiß, viel prominenter kann man einen Otello derzeit kaum besetzen und natürlich hat es Jonas Kaufmann in der Titelpartie sein müssen, darunter wollte man es nicht machen… Allerdings erweist sich Kaufmann, neben dem Regiekonzept, als der zweite heikle Punkt des Abends. Als bekannt intensiver Darsteller wirft sich der Künstler – wie gerne, sei mal dahingestellt – auch in diese Deutung und erfüllt sie szenisch mit maximaler Eindringlichkeit; dass hier eine ganze entscheidende Komponente fehlt, hat nicht er zu verantworten. Allerdings ist, im Gegensatz zur klangtechnisch entsprechend aufgehübschten DVD-Einspielung, live kaum zu überhören, dass Kaufmann einfach nicht über eine Otello-Stimme verfügt. Das baritonal angehauchte Timbre paßt soweit, doch für die großen Ausbrüche fehlt es an Durchschlagskraft, Wucht und Raserei; er teilt sich die Partie klug ein und schafft auch Momente wie „Si, pel ciel“, „Ora e per sempre Addio“ oder das „Esultate!“ irgendwie, ohne allerdings die geforderten Höhepunkte zu setzen oder sich ins Gedächtnis einzubrennen. So domestiziert wie Otello bei Niermeyer inszeniert ist, so klingt er leider bei Kaufmann, darüber können auch etliche schön herausgearbeitete lyrische Momente nicht hinwegtrösten.

Evan LeRoy Johnson (Cassio) und Gerald Finley (Iago) – Foto: Wilfried Hösl

Da ist Gerald Finley als Iago schon auf ganz anderem Level unterwegs; angesichts seiner nuancierten Gestaltung mag man kaum glauben, dass der Künstler die Partie in dieser Premierenserie zum ersten Mal überhaupt verkörpert. Gewiss hat er nicht die „klassische“ italienische Verdi-Stimme und kommt eher von Mozart und dem Zwischenfach und singt den hasserfüllten Nihilisten mit bemerkenswerter Eleganz und Klangkultur; das Böse reißt nicht die Pforte ein, sondern fließt und schleicht sich fast unmerklich in Otellos Seele… Finleys Iago hat auch nichts militärisch-zackiges an sich und wirkt in der toughen Männergesellschaft beinahe verloren. Und doch verbirgt sich hinter der freundlichen Attitüde das begriffslose, unbeherrschbare Böse, die Perfidie eines diabolischen Spaßmachers, auch ohne grell geschminktes Gesicht denkt man immer wieder an den Joker aus Batman. Ein fantastisches Rollenporträt!

Im Gegensatz zu den beiden cavalieri verfügt Anja Harteros als Desdemona über langjährige Rollenerfahrung, auch in der Münchner Vorgänger-Inszenierung war sie bereits mehrfach zu erleben. Und doch reißt eine Sängerin von ihrer überragenden Klasse nie nur eine bewährte „Masche“ ab, sondern gestaltet und erfindet die Partie mit jedem Mal neu. Die ihr von der Regie aufgetragenen zusätzlichen stummen Auftritte nutzt sie zu weiterer Profilierung des Charakters, ebenso wie es in ihrem Vortrag keinen beziehungslosen Schöngesang gibt. Im Vergleich zu früheren Desdemona-Auftritten wirkt Harteros’ Stimme gereifter, voller und auch etwas „sehniger“, was ihr in den Auseinandersetzungen mit dem verblendeten Gatten zugute kommt; gleichzeitig singt sie die verträumten „Salce“- Phrasen und das folgende Ave Maria mit derselben fast transzendenten Klarheit und Schönheit wie eh und je.

Die supporting cast ist auch diesmal wieder auf konstant gutem Niveau. Mit Evan LeRoy Johnson als Cassio gibt ein lyrischer Tenor mit Potenzial zu mehr sein Hausdebüt und überzeugt ebenso wie Galeano Salas als Rodrigo, Milan Siljanov als Montano und die eingesprungene Cristina Damian als Emilia. Lediglich Bálint Szabó fällt mit seinem hohl und reibeisenrauen Material als Lodovico deutlich ab. Ein großes Lob gebührt dem Staatsopernchor in der Einstudierung von Jörn Hinnerk Andresen, was die Damen und Herren in der Sturmszene an Power und Präzision einbringen, ist großes Kino.

Gehabt Euch also wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius