Bayreuther Festspiele: “Der fliegende Holländer” und “Lohengrin” – 19./20.8.2015

In England pflegt man am 26. Dezember den sogenannten Boxing Day zu feiern; erst an diesem Tag gibts auf der Insel nämlich die Geschenke, eingepackt in „boxes“, Geschenkschachteln also… In Jan Philipp Glogers Inszenierung des Holländer ist bereits im August Boxing Day; jedenfalls spielen hunderte von quadratischen Pappschachteln eine visuelle Hauptrolle in dieser Produktion. Geschenkt gibt es trotzdem nichts, vielmehr werden in jene Kartons die Tischventilatoren verpackt, die Papa Dalands Firma herstellt und offenbar in die halbe Welt liefert… Ventilatoren, Wind, der fliegende Holländer, Sturm und Schiffbruch? Ist es allso gemeint? Etwas ambitionierter ist es schon und ein kapitalismuskritischer Ansatz ist gerade bei diesem Werk ja auch nicht neu und immer wieder versucht worden. Wieder ist Daland der aalglatte Bonze im grauen Anzug, der profitorientierte Patriarch, Herr über die Ventilatorenfabrik, die Arbeiterinnen, eine Horde trinkfreudiger Bürohengste und einen devoten Fußabstreifer, der im früheren Leben mal Steuermann war… Jedenfalls singt er dessen altbekanntes Liedchen. Kein Wunder, dass Tochter Senta auf diese Umgebung so gar keinen Bock hat und sich lieber als Künstlerin versucht und merkwürdige, torsohafte Skulpturen im Ethno-Look schnitzt; eine davon scheint ihr zum Alter Ego geworden zu sein, jedenfalls schleppt sie sie permanent mit sich herum. Unzweifelhaft ist es Senta und ihre Verweigerung, die den Regisseur an der Geschichte interessiert hat. Auch der Holländer selbst bleibt in ihrem Kosmos eine merkwürdig distanzierte Randfigur, die selbst mit der Schnitzstatue keine Ähnlichkeit aufweist; ein austauschbarer Handlungsreisender mit seltsamen Metallplättchen am Schädel, der mit Rollkoffer und Kaffeebecher aus dem Nirgendwo herangeschlurft kommt… Liebhaber romantischen Grusels oder psychologischer Hinterfragung kommen bei dieser Inszenierung eher nicht auf ihre Kosten. Das erklärt wohl auch, warum sich die Anhängerschaft der Produktion dem Vernehmen nach in Grenzen hält… Am Ende ersticht sich Senta mit ihrem Schnitzwerkzeug, synchron bricht auch der Holländer zusammen, das wirkt mehr wie eine Erlösung aus Versehen denn wie eine bewußt gestaltete Sprengung von Dimensionen. Der Vorhang fällt, um dann – während das Orchester den Erlösungsschluß intoniert – noch einmal für eine Minute aufgezogen zu werden; es wird weiter fröhlich produziert und in Kartons verpackt, allerdings stellt Daland Enterprises jetzt Kitschfiguren des unglücklichen Paares her. Ein Schluß-Gag, der leider die Musik empfindlich stört und in der von mir besuchten Aufführung auch für Gelächter sorgte. Gegen das Konzept an sich läßt sich wenig einwenden, wenn man akzeptiert, dass Gloger sich um die zentrale Frage nach der Identität des Geistwesens und dem Konflikt zwischen Realität und Imagination elegant herumwindet; allerdings hätte die Umsetzung doch konzentrierter ausfallen können, allzu oft behilft man sich mit Griffen in die Mottenkiste des Regietheaters; blinkende Leuchtdioden, Digitalanzeigen mit Zahlenkolonnen, abstrakte Videotricks (Martin Eidenberger) und besagte Rollkoffer hat man doch schon ein paar Mal zu oft gesehen, um es noch spannend zu finden. Auch das Bühnenbild von Christof Hetzer und die Kostüme von Karin Jud erfüllen ihren Zweck zur Umsetzung einer Regie-Idee, entwickeln aber wenig Imagination oder Besonderheit, außer den Pappschachteln bleibt wenig davon im Gedächtnis.

20150719_110246Begegnung am Boxing Day: Senta (Ricarda Merbeth) und der Holländer (Samuel Youn) – Foto: Enrico Nawrath

Vielleicht hätten bessere Sänger der Sache auf die Sprünge geholfen? Die vorhandenen zumindest wußten mit den Freiräumen, die sie hier geboten bekamen, relativ wenig anzufangen. Das gilt sogar für Ricarda Merbeth als Senta, die zumindest stimmlich eine festspielwürdige Leistung ablieferte; auch den vertrackten Schluß „Preis Deinen Engel und sein Gebot…“ servierte sie mühelos und absolut intonationssicher, so souverän singen das momentan nicht viele. Gestalterisch ist dagegen durchaus noch Luft nach oben, hier klingt die Stimme zuweilen etwas monochrom und emotionsarm im Vortrag. Dennoch stand diese Senta dank ihrer Strahlkraft und vokalen Unbeirrtheit definitiv auf der Habenseite des Abends, ebenso wie Kwangchul Youn als gewohnt kultiviert und mit weicher Stimmfülle singender Daland, Christa Mayer als Chefsekretärin Mary und Benjamin Bruns als kraftvoller Steuermann, der gewiss über kurz oder lang beim Erik landen wird. Diesen gab Tomislav Mužek als etwas schmierig-schwabbelig gezeichneten Loser-Typen mit Karohemd und Zopf, stimmlich bewältigt er die Partie einigermaßen solide, auch wenn das enge und etwas spröde Material mich nicht wirklich begeistert; sicherlich ein ordentlicher Ensemblesänger für ein mittleres Opernhaus, aber hier doch eher unterbesetzt. Das gilt leider auch für Samuel Youn in der – immerhin doch – Titelpartie. Youn verfügt über einen schönen, warmstimmigen Bariton, dem es allerdings an Volumen und vor allem an dem bassbaritonalen Fundament fehlt, dass für die Bewältigung der großen dramatischen Ausbrüche nötig ist; so kann er zwar in einigen kontemplativen Passagen gefallen, wirkt aber, wenn es wirklich drauf ankommt, überfordert und außerstande, die komponierten Höhepunkte wirklich zu „setzen“. Ich fürchte, dass der sympathisch jungenhaft wirkende Künstler sich in diesem Fach momentan noch keinen Gefallen tut.

20150719_100057Nein, das ist nicht Bertolucci, das ist der Festspielchor! (Foto: Enrico Nawrath)

Das Dirigat von Axel Kober rundet den insgesamt soliden, aber nicht wirklich hochklassigen Opernabend konsequent ab. Mit undankbarer Detailarbeit gibt sich Kober bekanntlich eher ungern ab und auch hier waren in erster Linie Lautstärke und Tempo angesagt, die Ouvertüre fegte als maritimes Schlachtengemälde vorbei und die Chöre hallten unter voller Takelage. Da er hier natürlich ein wesentlich besseres Orchester zur Verfügung hat als unterm Jahr im heimischen Düsseldorf, hörte man diese musikantisch-deftige Lesart sogar mit einem gewissen Vergnügen, wenn auch ohne die ganz große Begeisterung.

 

Eine Begeisterung, die sich, vor allem in orchestraler und in szenischer Hinsicht, am nächsten Abend im „Lohengrin“ durchaus einstellte. Die diesjährige Serie markierte den endgültigen Abschied von der Inszenierung von Hans Neuenfels, die in den letzten sechs Jahren absoluten Kultcharakter gewonnen und die – das darf man getrost so sagen – Aufführungsgeschichte geschrieben hat. Stichwort: die Ratten. Allerdings würde man Neuenfels und seiner Arbeit nicht gerecht, wollte man seine Deutung allein auf den Einfall reduzieren, die Handlung in der weißwandigen Sterilität eines Forschungslabors anzusiedeln und den Chor als Population von sich ständig mutierenden Laborratten auftreten zu lassen. Diese sind, in den liebevoll detailiert entworfenen Kostümen von Reinhard von der Tannen, von dem auch das klar definierte und schnörkellos-elegante Bühnenbild stammt, zwar ausgesprochen niedlich und amüsant anzuschauen, sind aber natürlich in erster Linie eine Chiffre, eine szenische Metapher für instinktgesteuerten Selbstnutz und entindividualisiertes Herdenverhalten der breiten Masse; einer Masse, die immerhin auf puren Schwanenzauber hin ihre Hierarchien über Bord wirft und sofort und, im wahrsten Sinne des Wortes, frag-los einem seltsamen Mann-Gott-Heldenwesen folgt. Das führt mitten hinein ins Zentrum des Werkes und ist, neben Konwitschnys legendärer Hamburger Inszenierung, mit Sicherheit die originellste, treffendste und bildmächtigste Umsetzung des Werkes, die ich bislang gesehen habe. Sicherlich muss man nicht jedes Detail dieser Regie im Einzelnen dechiffrieren können oder reibungslos in den Gesamtzusammenhang einbinden – schließlich sind wir ja bei Neuenfels, und der lebt ein Stück weit in seiner ganz eigenen Welt – aber die erzählerische Linie ist durchgehend erkennbar, die Entwicklung der Figuren und des Kollektivs klar und deutlich erzählt. Der Vergleich mit der Holländer-Inszenierung des Vortags ist nicht fair, drängt sich aber auf, denn hier handelt es sich, bei aller Wertschätzung, doch um einen Klassenunterschied. Denn Neuenfels ist, egal ob man seine Ideen und seine Ästhetik mag oder nicht, ein großer Regisseur, der es meisterhaft versteht, eine Geschichte sinnfällig zu erzählen, die Personen lückenlos und differenziert zu führen und auch die Chormassen im Raum organisch und strukturiert zu bewegen. Die Bilder, die dabei gelingen, sind sprachmächtig, eindrucksvoll, teilweise ikonographisch. So etwa das Schlußbild mit der symbolischen Umdeutung der Farben – Lohengrin und Elsa nun in schwarz, Ortrud in weiß – und schließlich dem der Schwanenkapsel entstiegenen Humunkulus namens Gottfried, ein Alien aus der Retorte, der seine Herrschaft über die am Boden ausgestreckte Menge antritt; eine sonderlich gute Zukunft steht nicht zu erwarten. Das geht unter die Haut. Die präzise und dramaturgisch zwingende Lichtregie von Franck Evin und die von Björn Verloh gestalteten Trickfilm-Videos runden den Abend nicht nur ästhetisch ab, sondern präzisieren und unterstützen die Bühnenregie auch inhaltlich; genau so sollte es sein!

20150721_132641Kinostunde in Brabant: Telramund (Jukka Rasilainen), Ortrud (Petra Lang), der Heerufer (Samuel Youn) und der König (Wilhelm Schwinghammer) unter der Videowand – Foto: Enrico Nawrath

Einen ebenfalls ganz starken Eindruck hinterließ das Dirigat des Hügel-Debütanten Alain Altinoglu, der die Produktion für den heuer terminlich verhinderten Andris Nelsons übernommen hatte. Für 2018, so hört man, ist Altinoglu als Dirigent der nächsten Lohengrin-Neuproduktion im Gespräch; eine gute Wahl, denn der junge Franzose animierte das Festspielorchester zu einem wunderbar leichten, aber zugleich geeerdetem Spiel von großer, fast schon impressionistischer Farbigkeit. Das galt nicht nur für die lyrischen Monologe und Naturstimmungen wie den Tagesanbruch im zweiten Akt, sondern auch für die zeremonialen Massenszenen, die hier erfrischend „undeutsch“, ohne hohlen Pomp und martialisches Geschmetter auskamen; auch das berüchtigte „Für deutsches Land das deutsche Schwert…“ hat selten so wenig nach Reichsparteitag geklungen. Dennoch wirkt sein Zugriff nie gesoftet oder abgeschliffen, die über dem Stück lastende Kriegssituation und der weltanschauliche Endkampf zwischen alten und neuen Wertesystemen wurde beklemmend fühlbar, die in der Musik tobenden Kontraste und Energien konnten sich entfalten. Und wenn der eine oder andere langjährige Bayreuth-Pilger leise moserte, man habe den Anfang des Vorspiels, jene geteilten Geigen mit ihrem A-Dur-Exzess, schon leiser und zarter gehört… So what?

20150721_134729Nächtliche Konfrontation: Elsa (Annette Dasch) vs. Ortrud (Petra Lang) – Foto: Enrico Nawrath

Die Sängerbesetzung bestand in dieser Farewell-Serie zum größten Teil aus bewährten Kräften, die mit der Inszenierung teilweise seit Jahren vertraut sind; vermutlich auch ein Grund für den harmonischen Gesamteindruck des Abends. Im Detail allerdings konnte die gesangliche Seite nur sehr bedingt überzeugen. Einen Tag nach dem eher problematischen Holländer eröffnete Samuel Youn als Heerufer das Spektakel mit nun deutlich entspannter klingender Stimme musikalisch eloquent und prägnant. Eine Vorgabe, die, um noch kurz in der Reihenfolge der Auftritte zu bleiben, von Wilhelm Schwinghammer als König Heinrich aufgegriffen wurde. Im Gegensatz zu einigen Kollegen bereitet ihm die relativ hohe Tessitura der Rolle keine Probleme, das warme, zuweilen eher baritonale Timbre verleiht dem Herrscher weiche und menschliche Züge. Dann, mit dem ersten Monolog Telramunds, fingen allerdings die Stimmprobleme an; Jukka Rasilainen verfügt zwar immer noch über imposantes Material, welches inzwischen aber doch sehr brüchig und verbraucht klingt, dass er mit seinem Lispeln offenbar Nadja Michael Konkurrenz machen will, verbessert den Eindruck auch nicht gerade… Hat man da wirklich niemand anderen gefunden? Nun hängt an diesen drei Partien nicht wirklich der Erfolg oder Misserfolg einer Lohengrin-Aufführung, da ist die Trias Lohengrin-Elsa-Ortrud spielentscheidend. Von diesen dreien sorgte Petra Lang für den meisten Effekt; mit der Ortrud hat die Künstlerin sicherlich ihre beste Rolle gefunden. Hier sind das metallisch-herbe Timbre und der hochtourig aufgeputschte, zuweilen scharfkantige Vortrag genau richtig und auch die szenische Interpretation der Figur als eine Mischung aus Domina und Gouvernante – klingt komisch, ist aber so!- kommt ihr entgegen. Dagegen scheint sich Annette Dasch in einer veritablen Stimmkrise zu befinden, die sich auch seit ihren letzten Auftritten in München nicht gelichtet hat. Lediglich in den unteren Lagen und bei beschränkter Dynamik verfügt die Stimme noch über die nötige Sicherheit, die obere Mittellage und Höhe gerät dagegen zum Vabanquespiel, zumeist mit ungutem Ausgang. So bekam man in erster Linie Mitleid mit Elsa von Brabant; nur leider anders als vom Autor beabsichtigt. Was die Besetzung der Titelpartie mit Klaus Florian Vogt betrifft, so kann ich eigentlich nur wiederholen, was ich vor vier Monaten über seinen Auftritt in derselben Partie in Berlin (siehe Archiv April 2015) geschrieben habe. Ich kann ihn noch so oft erlebt, bzw. erduldet haben, beim ersten Einsatz reißt es mich stets aufs Neue, eine Stimme, an die ich mich nie gewöhnen werde und das auch nicht möchte. Über die technische Seite seines Vortrages brauchen wir nicht zu sprechen, die ist gegeben und die passt, über alles andere mag ich mich nicht mehr auslassen. Frenetischer Jubel vom Festspielpublikum, keine hörbare Opposition. Da gehe ich doch lieber im Geiste mal die bedeutsamen Lohengrine durch, die ich bisher so erlebt habe, von Kollo über Wolfgang Schmidt, Heppner und Seiffert bis hin zu Jonas Kaufmann… Und denke mir jetzt einfach mal mein Teil.

20150721_173650Endzeitszenario mit Lohengrin (Klaus Florian Vogt) und Gottfried von Brabant (Foto: Enrico Nawrath)

War es das? Vorhang zu, merce vielmals und bis zum nächsten Jahr? Nein, noch nicht. Denn eines steht noch aus, nämlich die fällige Lobeshymne auf den fantastischen Festspielchor in der Einstudierung von Eberhard Friedrich. Allein die performance der Damen und Herren an diesen beiden Abenden hätte schon die Anreise gelohnt, hier spricht, bzw. singt das Kollektiv mit einer Stimme, so unglaublich harmonisch, präzise und sprachmächtig wird hier musiziert, alles aus einem Guss, vom feinsten pianissimo bis zur klangewaltigen Fortissimo-Ansage. Da hören sich fast schon ausgelutschte und oftmals malträtierte Evergreens wie „Steuermann, lass die Wacht“ oder „Treulich geführt“ plötzlich ganz frisch, unverbraucht und wie gerade entstanden an. Das waren Festspiel-Gänsehaut-Momente und ganz großes Kino.

Bayreuther Festspiele: “Tristan und Isolde” – 18.8.2015

Man kennt das Phänomen aus der Bundesliga: noch hat die Saison nicht begonnen, aber irgendwas muss ja geschrieben und gesendet werden… So werden mal eben Nebenschauplätze en masse aufgemacht, geredet, phantasiert und spekuliert, dass die Schwarte kracht; wenn dann endlich der Ball, rollt, kehrt man zum Wesentlichen zurück und es regiert wieder die Aktualität. Ähnliches war heuer am Hügel zu beobachten, wo in den Wochen vor dem Festspiel-Start viel zu lesen war von Krächen, Umbesetzungen, angeblichen oder tatsächlichen Animositäten und Hausverboten und kindischen Parkplatz-Affären. Im Zentrum der Hysterie: die diesjährige Neuinszenierung von Tristan und Isolde, medial hochgejazzt zur subjektiv-ultimativen Bewährungsprobe, ja zur Schicksalspremiere, der regieführenden Festspielchefin und des musikalischen Lordsiegelbewahrers.

Um es gleich vorweg zu sagen: sie haben sich nicht leicht getan und die Aufführung ist am Ende des Tages sicherlich kein Triumph, sie haben es aber auch nicht vermasselt. Der größte Jubel schlug dabei Christian Thielemann entgegen, als er, sichtlich geschafft von fünf Stunden Schwerst-Partitur-Arbeit wieder dem „mystischen Abgrund“ entstiegen war und sich dem Publikum zeigte. Das berühmte Vorspiel mit dem Tristan-Akkord ließ er betont transparent und fast schwerelos musizieren und auch in der Folge waren die Durchhörbarkeit des Orchestersatzes und ein schlankes, aufgefächertes Klangbild oberstes Gebot. Das Festspielorchester ließ sich denn auch nicht lumpen und zeigte in allen Gruppen, was es drauf hat; das ist bei weitem mehr als die Summe der, ohnehin hochklassigen, Mitglieder, diese verschmelzen vielmehr zu einem Gesamtklang von sagenhafter Weichheit und Luzidität. Dass Thielemann mit der Akustik des Festspielhauses vertraut ist wie nur wenige Kollegen und ihre Besonderheiten auszuspielen vermag, wurde in jedem Moment deutlich. Was die Tempi betrifft, so schien die Operation Brautwerbung im ersten Akt eher mit dem Speedboat unterwegs zu sein als mit der Gorch Fock, vor allem die letzten gut siebzig Takte bis zum Aktschluß rasten förmlich dem letzten Doppelstrich entgegen. Eine Konsequenz, die sich im weiteren Verlauf dann allerdings nicht mehr so gegeben war, bis hin zu einem betont langsam ausgebreiteten dritten Akt. Bei aller Klangschönheit wirkte das nicht immer organisch aus dem „Flow“ der Musik entwickelt, wie es etwa vor gut einem Monat dem Bayerischen Staatsorchester im Nationaltheater so nachdrücklich gelungen war. Dieser Tristan präsentierte sich vielmehr betont rational, beinahe nüchtern, bei allem wunderschön ausgespielten Melos fehlten mir persönlich die Exzentrik, der Rausch, das wahnhaft Revolutionäre, das diese Musik verkörpert wie kaum eine andere Oper (nicht nur) des Meisters. Dass ein so ausgewiesener Wagner-Fachmann und Partiturkenner an einigen Punkten, etwa den großen Crescendi im Liebesduett des – hier selbstverständich ohne Strich gespielten – zweiten Aktes, sich offenbar scheut, wirklich aufs Ganze zu gehen, erstaunt dann doch. Insgesamt ein Tristan-Dirigat für gehobene, allerdings nicht für höchste Ansprüche.

20150721_100925Weg das Zeug! – Isolde (Evelyn Herlitzius) und Tristan (Stephen Gould) verzichten auf Doping – Foto: Enrico Nawrath

Einen eher unentschlossenen Eindruck hinterließ auch die Inszenierung von Katharina Wagner, zumindest die ersten beiden Akte lang. Hier beschlich einen das Gefühl, als wolle die Urenkelin in erster Linie nichts falsch machen und einen Kompromiß zwischen Aufführungstradition und dezenter Modernisierung suchen. Das kann eigentlich nicht gut gehen und tat es auch nicht, zwei Akte lang laviert die Regie hilflos zwischen Leerlauf und einigen aufgesetzten Einfällen, die Charaktere bleiben blass und es kommt wenig Atmosphäre auf. Die Bühnenbilder von Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert zeigen eine abweisende, technisierte Umgebung ohne örtliche oder historische Konkretisierung: im ersten Akt ein Labyrinth von stählernen Podesten, Türmen, Treppen und fahrbaren Brücken, das könnte das Innenleben eines Kreuzfahrtschiffes sein oder auch eine Industrieanlage, und im zweiten Akt einen von mattschwarzen Metallwänden eingefassten und von Suchscheinwerfern ausgeleuchteten Innenhof, der wohl ein Gefängnis meint. Inmitten dieses Hofes befindet sich ein Objekt, das stark an einen Design-Handtuchhalter oder an die verchromten Gestelle, in denen in britischen Landhotels der Frühstückstoast serviert wird, erinnert. Im Laufe des Geschehens fährt dieses, nennen wir es der Einfachheit halber mal „das Ding“, wie von Geisterhand auseinander und in die Vertikale und dient dann als eine Art Käfig und, an den scharfen Enden, als Klinge für einen hilflosen Suizidversuch. Während sich die Personenregie im ersten Akt auf ein absolutes Minimum beschränkt und Bewegung eigentlich nur durch das wiederholte Rauf- und Runterfahren der mittleren Brücke entsteht, findet im zweiten zumindest hin und wieder Aktion statt: die Beteiligten werden von Markes knallgelb gewandeter Privatarmee (Kostüme: Thomas Kaiser) in Fesseln an den Schauplatz geschleppt, zum Tages-und-Nachtgespräch bauen sich die Liebenden mit einer Decke einen Unterschlupf und schmücken diesen mit Leuchtsternen, zum Liebesduett erscheinen zwei projezierte Figuren an der Rückwand und Marke entpuppt sich als rabiates Ekelpaket in ebenfalls gelbem Pelzmantel und Hut, der Isolde grob durch die Gegend zerrt und Tristan kaum eines Blickes würdigt. Gerade dieser letzte Einfall erweist sich als immens störend, zumal sich eine solche Sicht auf den Charakter m.E. weder aus der Musik noch aus dem Text wirklich begründen lässt. Auf diese Art und Weise schleppt sich die Aufführung bis zum Ende des zweiten Aktes mehr schlecht als recht über die Runden; bezeichnenderweise nutzten meine beiden Sitznachbarn die Gelegenheit, um ein Nickerchen zu machen, der linker Hand im ersten, der rechter Hand im zweiten Akt. Auf den bekanntlich äußerst unbequemen Sitzen wahrlich keine geringe Leistung!

20150721_101823(1)We are not amused! Marke (Georg Zeppenfeld) und Tristan (Stephen Gould) vor dem DING – Foto: Enrico Nawrath

Doch dann, man hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt, kommt die Regie im dritten Akt doch noch auf den Punkt und liefert eine echte Neu- und Umdeutung der Fabel. Tristan ist bei Katharina Wagner nämlich bereits tot. Am Ende des zweiten Aktes von Melot mit einem gezielten Stich in den Rücken gemeuchelt, liegt er nun, umgeben von roten Grablichtern, im rechten Bühneneck, bewacht und betrauert von Kurwenal, dem Hirten und dem Steuermann. Und doch, musikalisch muss es ja noch weitergehen, Tristan kann also noch nicht tot sein?! Kann er doch, Schrödingers Katze läßt grüßen. So wandelt der Held während seiner Monologe sozusagen durch ein Zwischenreich oder eine Parallelexistenz, The sixth Sense auf der Opernbühne. Dieser wandelnde Tote philosophiert, klagt und sehnt sich hinein in ein Nirvana aus verschwiemelten Nebelschwaden; Kurwenal singt seinen Text wie gehabt, doch findet keinen Adressaten mehr. Isolde wiederum erscheint ihm fortwährend, als blaubemantelte Vision in lichtgrauem Dreieck, vier davon real im Raum verteilt, die anderen als Projektionen. Das ist mit Abstand das stärkste Bild des Abends, die Erscheinungen leuchten plötzlich auf, verharren und verlöschen wieder in der Gräue. Realfilm ist erst wieder ganz am Ende geboten, wenn die bekannten gelben Männchen zum Endkampf aufmarschieren, es gibt noch ein Gemetzel in Zeitlupe und einen Schlußgesang, der eben kein Liebestod sein darf, nach erfolgter Arie wird Isolde von Marke wieder davongeschleift, nur Brangäne bleibt einsam zurück. Ob das alles wirklich im Sinne des Erfinders ist, kann man diskutieren; aber hier bekennt die Regisseurin Farbe und auch die Umsetzung ist gelungen. Dennoch gibt es für die Wiederaufnahme im kommenden Jahr noch einiges nachzubessern und zu überarbeiten, vor allem am Lichtdesign von Reinhard Traub; eine so schlecht ausgeleuchtete Neuinszenierung habe ich seit Jahren an keiner namhaften Bühne mehr erlebt. Auch in der vielzitierten „Werkstatt Bayreuth“ arbeiten offensichtlich nicht nur Meister…

20150721_100814Sie ist nicht echt… Isolde erscheint Tristan im Zwischenreich (Foto: Enrico Nawrath)

Der große Trumpf des Abends war die Sängerbesetzung, die fast durchgehend auf überragendem Niveau agierte. Allen voran Stephen Gould, dessen Tristan mittlerweile an den von ihm selbst aufgestellten Maßstäben gemessen werden darf. Der amerikanische Tenor beweist eindrucksvoll, warum er derzeit Branchenführer im Heldenfach ist: er verfügt über voluminöses Material von dunkler Bronzetönung, große Musikalität und Stilgefühl sowie über schier unerschöpfliche Kraftreserven; auch in den großen Ausbrüchen im dritten Akt klingt die Stimme frisch und flexibel, man hat beinahe den Eindruck, als könne er eine solche Monster-Partie auch zweimal hinternander singen… Dazu kommt ein erstaunliches messa di voce, auch mit seiner Riesenstimme versteht es Gould, wunderbar fein und nuanciert auf Linie zu singen. Habemus Tristan! Und Isolde? Aber ja. Und das hatte sich im Vorfeld schon schwieriger gestaltet, nach der Absage von Eva-Maria Westbroek und dem Rauswurf, bzw. Trennung von Anja Kampe – kommt ganz drauf an, wen man frägt – wurde schließlich Evelyn Herlitzius aus dem Hut gezogen. Mithin eine Sängerin, die zu den faszinierendsten Stimmgestalterinnen der heutigen Opernwelt zählt, die mit ihrem individuellen Stil und Timbre aber nicht nur glühende Anhänger hat. An diesem Abend präsentierte sich Herlitzius in hervorragender Verfassung, strahlend und durchschlagskräftig in der Höhe, sauber und abgerundet in der Mittellage, sicher in Intonation und Phrasierung, lediglich im Schlußgesang schlichen sich einige Wackler ein. Das fiel angesichts der Intensität des Vortrages allerdings nicht ins Gewicht, diese Isolde ist ein Bühnentier, eine Königin, eine Kämpferin. Hier wird auch stimmlich nicht geschmust und geschmeichelt, hier geht’s zur Sache, heroisch und ohne Rücksicht auf Verluste. Solche Persönlichkeiten braucht die Kunstform Oper. Die vermutlich dankbarste Partie im Tristan-Kosmos ist sicherlich König Marke, dessen Darsteller zum Schluß des zweiten Aktes in dramaturgisch wunderbar komprimierter Form sein Können zeigen und mit seinem Monolog richtig „abräumen“ kann, zudem darf er sich gegen Ende noch mit salbungsvollen Phrasen aus der Vorstellung verabschieden. Generationen großer Bässe haben dies auf dem Hügel mustergültig vorgeführt; und der aktuelle Marke Georg Zeppenfeld zeigt sich als deren würdiger Erbe. Und das, obwohl die eigenwillige Charakterzeichnung durch die Regie es dem Sänger nicht unbedingt erleichtert, den Monolog als Ruhepol und Kraftfeld zu gestalten, doch Zeppenfelds markantes, schlank und doch kernig geführtes Material übersteht sogar dies und vermag es, immer noch eine ganze Menge an Emotion zu vermitteln und auszustrahlen; hier jammert kein sentimentaler Alter, hier singt ein Mann in den besten Jahren, der zu verstehen versucht.

Absolut stimmig und auf hohem Niveau besetzt sind auch die Brangäne mit Christa Mayer und der Kurwenal mit Iain Paterson, die gesanglich nichts schuldig bleiben. Leider sind beide szenisch kaum sinnvoll ins Geschehen eingebunden und zu Randfiguren degradiert; in einem Pausengespräch wurde gar gemutmaßt, die Regisseurin habe zu beiden kaum mehr als „Guten Morgen“ gesagt… Auch die Kleinpartien sind mit Raimund Nolte (Melot), Kay Stiefermann (Steuermann) und Tansel Akzeybek (Seemann und Hirte) tadellos besetzt, letzterer hätte vielleicht eine Spur mehr an tenoralem Schmelz vertragen.

Brechtbühne Augsburg: “Zaide. Eine Flucht.” – 6.8. 2015

Oud! Oud? Schonmal gehört? Nein, war noch nie die Halbmillion-Frage bei Günter Jauch… Ist auch nichts zum Essen, sondern eher zum Umhängen; eine arabische Kurzhals-Laute nämlich. Und eine solche Oud ist es, die, von Hazem Kanbour gespielt, diesen Abend eröffnet, im Trio mit Yassar Dogan an der Sass und Ahmad Shakib Pouya am Harmonium. Sollte das hier nicht Mozart sein? Doch schon, auch. Vor allem aber ist Zaide. Eine Flucht. der neueste Coup von Cornelia Lanz und ihrem Verein Zuflucht Kultur e.V., mit dem die Sängerin im letzten Jahr jene aufsehenerregende Tourneeproduktion von Così fan tutte erarbeitet hat. War die Mitwirkung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien da noch eher ein bemerkenswerter Zufall gewesen, so haben Cornelia Lanz und ihr Team dieses Konzept nun nochmal weitergedacht und ausgearbeitet, indem sie nicht nur über den kodifizierten Text hinaus Mozarts Musik mit Texten, Musiken und Inhalten kombiniert, sondern auch als politische Flüchtlinge in Deutschland lebende Künstler einbezogen haben. Ob man das Ergebnis noch als Mozart-Oper „durchgehen“ läßt oder darin eine integrative Performance nach Mozart-Motiven sehen will, ist jedem Zuschauer selbst überlassen; in jedem Fall setzt der Abend ein unüberhörbares Signal, in menschlicher und künstlerischer, aber auch in politischer Hinsicht und hat als Ganzes unbedingten Bekenntnischarakter.

Das von Mozart 1780 komponierte und Fragment gebliebene Singspiel Zaide ist für den Anlass aus mehreren Gründen ein Glücksfall: zunächst kennt dieses Werk eigentlich niemand und zum anderen spielt es, der populären Entführung aus dem Serail nicht unähnlich, im Orient und hat Konflikte, Bedrohung und Flucht zum Inhalt. Da die dramaturgische Struktur so locker ist und eigentlich nur aus einer Aufreihung von Arien besteht, bietet es wie kaum eine andere Oper die Möglichkeit, hier korrespondierende Inhalte zu integrieren und damit eine neue Bedeutungsebene aufzumachen. Genau dies hat die Produktionsdramaturgin Nora Schüssler getan, indem sie um die erhaltenen Arien und Duette von Mozart herum die geflohenen Künstler aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Nigeria ihre individuellen Lebensgeschichten erzählen lässt. Dies geschieht entweder, wie in der erwähnten Eingangsszene, durch Lieder und Musik, aber auch durch gesprochene Erzählung und Erfahrungsberichte sowie, auf einer metaphorischen Ebene, durch ein orientalisches Märchen, das stückweise von einem Sprechchor aller Mitwirkenden vorgetragen wird. Der Kontrast zwischen diesen Einblicken und den heute schon arg eingestaubt wirkenden Arientexten des – durchaus nicht zu Unrecht vergessenen – Librettisten Johann Andreas Schachtner könnte stärker kaum sein, gibt dem Geschehen aber auch eine spannende Dynamik. Ein weiteres zentrales Element der Dramaturgie wie der Inszenierung ist auch die Aufteilung der Hauptrollen in bis zu drei Darsteller; so wird Zaide eben nicht nur von Cornelia Lanz gesungen, sondern auch von Esther Jacobs-Völk getanzt und von Berna Celebi gesprochen. Das ist zwar auch ein Theater-, bzw. Dramaturgentrick älteren Semesters, macht hier aber Sinn, da so die Zerrissenheit, ja die beinahe schizophrene Situation von Menschen auf der Flucht, deren Traumatisierung, Isolation und Identitätsverlust, gespiegelt wird. Von den Übergängen her ist das durchgehend sehr gut getimed und funktioniert erstaunlich harmonisch, ebenso wie die Integration von Mozarts Musik in den Gesamteindruck. Die Regie von Julia Huebner setzt in der Brecht-Stadt Augsburg und auf der Brecht-Bühne ganz auf Reduktion und Konzentration und läßt den Mitwirkenden breiten Raum für ihre Geschichten, setzt diese aber auch ganz direkt und unpretenziös in Szene; Geschichten und Texte um Trauer und Verlust, Zukunftsangst und Hoffnung, gepanzerte Grenzübergänge und bahnbrechenden Willen. Der von Xaver Unterholzner gestaltete Raum besteht zunächst aus bergartig aufgetürmten Podesten und Trittstufen, die von allen Seiten bespielt werden, auch die Orchestermusiker sind teilweise an dessen Hängen platziert. Das ist gut gemachtes, originelles und bewegend umgesetztes Theater von großer emotionaler Kraft und Glaubwürdigkeit.

Zaide1Die drei Zaiden: Cornelia Lanz, Esther Jacobs-Völk, Berna Celebi (Foto: A.T.Schaefer)

Das gilt zumindest für den ersten Teil des Abends. Denn nach der Pause nimmt das Ganze eine nicht unproblematische Wendung: jetzt dreht nämlich mit einem Mal die Perspektive nach dem Motto „Was wäre, wenn WIR in ein anderes Land, in eine andere Gesellschaft fliehen müßten?“ Leider verlieren Konzept und Inszenierung nach der Pause deutlich an Konzentration und Stringenz, die vermutlich beabsichtigte satirische Erzählweise übersetzt sich nicht wirklich, die Abfolge wird beliebiger, die einzelnen Szenen wirken gestellt, etwa wenn das Flüchtlingspaar sich mit unverständlichen Formularen, selbstherrlichen Beamten und fremdländischen Kochgewohnheiten herumschlagen muss… Das ist alles ganz gut gemeint, wirkt aber nach der Begegnung mit den echten Flüchtlingen und ihren Erfahrungen zwangsläufig banal; hier kommt dann doch etwas die Holzhammer-Didaktik raus. Den gedanklichen Planspielen fehlt es an Authentizität wie an Fallhöhe und es schleicht sich eine gewisse Beliebigkeit ein. Da passt es auch ins Bild, dass die Hauptpersonen nun wieder zum größten Teil als Sänger auftreten und die Doubles nur noch einige Alibi-Auftritte haben. Gelungen ist dann wiederum der Schluß: zum Finalensemble von Zaide tritt ein uniformierter Büttel auf, der einen Mitwirkenden nach dem anderen mit mehr oder weniger Gewalt aus dem Saal abschiebt und schließlich mit dem Ruf „Alle Musiker raus!“ auch das Orchester rauswirft, während auf der Leinwand für die Übertitel einige aktuelle Fakten und Zahlen zum Thema Flucht und Migration durchlaufen. Am Ende bleiben nur noch die drei Musiker vom Beginn übrig und schließen den Kreis. Ein Finale, das dem Namensgeber des Ortes würdig ist. Dennoch: der Dynamik des Abends hätte es besser getan, das Ganze etwas zu kürzen und ohne Pause in einem durch zu spielen.

Zaide2Das Ensemble (Foto: A.T.Schaefer)

Dabei wurden Kondition und Nervenstärke aller Beteiligten vor der Pause ordentlich auf die Probe gestellt: die hochsommerliche Hitze hatte nämlich die Air Condition wie auch den Stellwerkscomputer außer Gefecht gesetzt; es herrschte also richtig dicke Luft und die Beleuchtung machte zunächst was sie wollte… Und das war selten das, was beabsichtigt war und erst nach der Pause tat die Technik wieder wie ihr geheißen. Verschärfte Bedingungen also für Publikum und Ensemble, da durfte man den einen oder anderen kleinen Aussetzer oder Intonationstrübung nicht auf die berühmte Goldwaage legen. Ein paar mehr davon hatte lediglich der Bariton Kai Preußker als Allazim zu beklagen, der heftig um eine saubere Fokussierung seines eigentlich kernigen Materials zu kämpfen hatte. Zaides Lover mit dem schönen Namen Gomatz wurde gesanglich von Philipp Nicklaus mit Unterstützung des syrischen Schauspielers Houzayfa Al Rahmoon und des Musikers Ahmad Shakib Pouya vergegenwärtigt, Nicklaus‘ hell timbrierter und klar artikulierender Tenor fühlt sich stilistisch bei Mozart zu Hause, dürfte aber auch im Konzert- und Oratorienbereich reüssieren. In Zaide ist auch der Gegenspieler, Sultan Soliman, mit einem Tenor besetzt und der türkische Sänger Onur Ertür beeindruckte nicht nur mit seiner Statur und szenischen Beweglichkeit, sondern auch mit raumgreifender und äußerst individuell timbrierter Stimme; das könnte mal ein Herodes in Salome werden. Sein Double war der aus dem Irak stammende „Performance Artist“ Ayden Antanyos, der laut Programm in seiner Heimat auch als Schauspieler und Kameramann tätig war. Ivo Michl und Yasar Dogan teilten sich die Rolle des Wächters, der praktischerweise auch in Zaide schon Osmin heißt, und die gesprochenen Erzählungen wurden von Khaled Alhussein und Ayman Almasri vorgetragen, die so betitelten „Voices of Africa“ von Ewere Tim Aizee, Francis Ezegbebe, Colins Igbinoba und John Caro.

Zaide_Cornelia_Lanz_Foto_A.T.SchaeferVirtuosität und Sinnlichkeit: Cornelia Lanz (Zaide) – Foto: A.T.Schaefer

Die Titelfigur sticht schon in der Vorlage besonders heraus, nicht nur weil sie mit dem einstigen Wunschkonzert-Klassiker „Ruhe sanft, mein holdes Leben“ die einzige halbwegs bekannte Arie des Stücks zu singen hat, sondern auch weil sie der noch am ehesten differenzierte Charakter des hölzernen Librettos ist und Mozart dementsprechend seine melodischen Erfindungen hauptsächlich auf ihren Part konzentriert hat. Gerade diese Kombination von Sanftmut, Sinnlichkeit, Courage und weiblicher Schlauheit wird durch die Dreiteilung besonders sinnfällig: die nigerianische Tänzerin und Choreographin Esther Jacobs-Völk ist für den extrovertierten Part zuständig, ihr großes Tanz-Solo mit Trommelbegleitung im ersten Teil wurde begeistert beklatscht. Dagegen vertritt die türkische Schauspielerin Berna Celebi mit nuanciertem Vortrag die rationale Seite Zaides. Die gesangliche wird natürlich von Cornelia Lanz persönlich übernommen, die einmal mehr mit höchster Virtuosität und lyrischer Innenschau begeistert und alle Facetten der Figur in sanft glühenden, bruchlos fließenden Mezzo-Schmelz gießt; beide Extreme der Partie, das lyrische „Ruhe sanft…“ und die heroisch auftrumpfende Arie „Tiger, wetze Deine Krallen“ – fast schon eine Vorstudie zu Konstanze in der Entführung – meistert sie mustergültig und stilsicher.

Das orchestrale Unterfutter der Produktion liefern hochkarätige Musiker aus verschiedenen süddeutschen Symphonieorchestern aus München, Stuttgart, Augsburg und Ulm unter der temperamentvollen Leitung von Gabriel Venzago. Das ist ein gepflegtes Orchesterspiel und umsichtige Sängerbegleitung, auch wenn die Partitur wenig Profilierungsmöglichkeiten für den Dirigenten bietet.

Bevor sich das Premierenpublikum auf das im Foyer aufgebaute syrische Spezialitätenbüffet stürzte, stellten sich die Mitwirkenden einer Fragerunde und boten interessante, bewegende und aufrüttelnde Einblicke in die gemeinsame Arbeit und den eigenen künstlerischen Background. Nicht verschwiegen sei jedoch, dass noch am Nachmittag Angehörige einer örtlichen Nazi-Gruppierung auf dem Augsburger Moritzplatz eine Kundgebung abhalten und ihren Müll absondern durften… Gegen solche unbelehrbaren Hohlbirnen helfen leider keine Arien, sondern nur die ganze Härte der Justiz.

Weitere Informationen: www.zufluchtkultur.de

Nächste Aufführungen: 1.Oktober in der Stadthalle Oberndorf, 3. Oktober Stadthalle Biberach, 4. Oktober Roxy Ulm und 6. Oktober im Theaterhaus Stuttgart

 

Salzburger Festspiele: “Die Eroberung von Mexico” – 29.7.2015

Ob Mann, ob Frau – wer weiß es so genau? Nein, keine Sorge, wir sind hier nicht in der Olli Geißen-Show oder sonstwo im dritten Programm von Radio Luxemburg gelandet, sondern bei den Salzburger Festspielen. Geschlechtliche Mehrdeutigkeit und Ambiguität? Ist doch ein alter Hut. Das gibt es in der Oper seit mehr als dreihundert Jahren, da wurde schon travestiert und getauscht was das Zeug hält, lange bevor irgendjemand den Begriff „Gender“ überhaupt buchstabieren konnte… Man denke an Kastraten, Hosenrollen und die überbordende Lust am Verkleiden und Verwechseln, von denen vor allem die Barockoper lebt.

Eroberung4Foto: Monika Rittershaus

In seinem 1992 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführten „Musiktheater nach Antonin Artaud“ Die Eroberung von Mexico geht der Komponist Wolfgang Rihm über solche Spiegelfechtereien noch mehrere Schritte hinaus; „Neutral! Weiblich! Männlich!“ lautet hier der fast schon leitmotivisch ausgestoßene Schlachtruf, eine Parole aus Artauds Text Das Seraphim-Theater, die für eine Entgrenzung des traditionellen Beziehungsfeldes steht. Dieser diente, wie auch der titelgebende Text La conquête du Mexique, dem Komponisten als Basis für sein selbstverfasstes Libretto; als dritte Komponente kommt noch das Gedicht Raíz del hombre von Octavio Paz hinzu, jeder der vier Teile des Werkes wird durch eine Strophe davon abgeschlossen und resummiert. Das hört sich schon nach einem ziemlich dicken Brett an, das es für das Produktionsteam hier zu bohren gilt… Und in der Tat, das Stück ist äußerst komplex in seinem Aufbau, besitzt keine sinnvoll nacherzählbare Handlung und besteht im Wesentlichen aus reflektierenden Monologen und surrealen Textelementen, die alle um den bestimmenden Dualismus von männlich und weiblich kreisen. Was das Ganze nun mit Mexico zu tun hat? Eigentlich nichts, jedenfalls nicht in einem folkloristischen oder historisierenden Sinn. Ganz zufällig oder bewußt irreführend ist der Titel dennoch nicht gewählt, in Artauds Text treffen die mexikanische Gottheit Montezuma und der spanische Eroberer Cortez sozusagen als Verkörperungen des matriarchalischen, bzw. des patriarchalischen Prinzips aufeinander, deren Unvereinbarkeit im dritten Teil in einer wüsten Zerstörungsorgie, der Enthauptung Montezumas und dessen, bzw. deren Verwandlung in eine Statue mündet. Beiden Protagonisten stellt Rihm noch eine Verstärkung zur Seite, die das jeweilige Prinzip unterstützen; einen hohen Sopran und einen tiefen Alt für das weibliche und zwei Sprecher für das männliche, letztere agieren allerdings hart an der Artikulationsgrenze, ihre Beiträge bestehen überwiegend aus Stöhnen und erregtem „Stoßatmen“ – Alle diese Hilfspersonen können nach Anweisung des Komponisten in das Bühnengeschehen einbezogen werden, müssen aber nicht. In diesem Fall läßt sich die Regie diese Auftritte, insbesondere der beiden Frauen, nicht entgehen, einmal schickt er sie sogar quer durch den Zuschauerraum, wo sie den, im Normalfall ja nicht gerade unbetuchten, Festspielgästen Sätze wie „Wie Affen greift ihr nach dem Gold!“ ins Angesicht singen… Wobei: von einer Angela Denoke aus anderthalb Metern Entfernung ihre Spitzentöne an den Schädel geworfen zu bekommen… Das hat schon was!

Eroberung3Foto: Monika Rittershaus

Angesichts der teils poetischen, teils aber auch eher kryptisch verrätselten Texte erscheint Rihms Musik über weite Strecken nicht nur zeitlos modern, sondern auch erstaunlich „griffig“ und dramatisch. Eine stark rhythmusorientierte Musik von großer agogischer Vielfalt und dynamischer Differenzierung und von vornherein als Klang-Raum-Theater konzipiert. Wie man das in einem normalen Opernhaus mit klassischer Guckkastenbühne wirklich umsetzen will, dürfte spannend sein; die Felsenreitschule mit ihrer offenen und sehr breiten Bühne und dem entsprechenden Orchestergraben ist natürlich ein Glücksfall. Neben dem Hauptorchester im Graben schreibt der Komponist drei möglichst symmetrisch im Raum verteilte Klanginseln vor, die von Trommlern und später solistischen Blechbläsern besetzt werden, dazu kommen zwei an den äußeren Ecken der Bühne postierte Solo-Violinen, deren Stimmen den Klangraum sozusagen trapezförmig über den herkömmlichen Orchestergraben in die Tiefe erweitern. Die Chöre kommen laut Partitur vom Band und werden zugespielt, ebenso wie bestimmte Orchesterpassagen, die mit kleiner Verzögerung ablaufen, um den Klang zu verschleiern und allzu deutliche Zuordnungen zu erschweren. All das erfordert vom Dirigenten noch zusätzlich zur eigentlichen Interpretation eine enorme Koordinationsleistung. Ingo Metzmacher hat bereits 1992 die Hamburger Uraufführung dirigiert – ein Mitschnitt davon ist bei cpo auf CD erschienen – und ist mit der Partitur vertraut wie kein anderer Interpret und auch hier steuerte er den Apparat, das ORF-Radiosymphonieorchester Wien, die Solisten und die Technik, mit bewundernswerter Souveranität und Ruhe durch den Abend. Der beständig zwischen Härte und lyrischer Zartheit changierenden musikalischen Diktion wird er mit seinen Musikern großartig gerecht, in Zusammenarbeit mit der Klangregie von Peter Böhm und Florian Bogner sorgt er für einen äußerst tiefenscharfen und räumlich perfekt gestaffelten Klang, der den Zuhörer mitten ins Zentrum der Aufführung zieht und ein reines Konsumieren von Musik gar nicht mehr zulässt, sondern diese körperlich erlebbar macht. Das beginnt schon beim Einlass, noch lange vor dem ersten Takt des Orchesters legen die drei Trommler auf den Klanginseln einen latent bedrohlichen, kontinuierlichen und raumdefinierenden Rhythmus über die gesamte Weite der Felsenreitschule; nicht umsonst spricht Artaud von „einer Landschaft, die das Gewitter kommen spürt“. Diese Intensität, die bereits dieses leise Vorspiel – in der Tat läßt sich kaum wirklich sagen, wann die Oper eigentlich anfängt – ausstrahlt, hält Metzmacher über die gesamte Spieldauer aufrecht, vermag sie gar zu variieren und zu steigern, bis hin zur großen Gewaltorgie im dritten Teil.

Eroberung2Cortez (Bo Skovhus) und Montezuma (Angela Denoke) im Grundsatzgespräch (Foto: Monika Rittershaus)

Regie-Altmeister Peter Konwitschny, der mit dieser Inszenierung sein spätes Salzburg-Debüt gibt, sieht die Sache noch radikaler, als sie im Stück selbst angelegt ist und reduziert den Grundkonflikt knallhart auf eine exemplarische Mann-Frau-Konstellation; ergo das Grundthema seiner Theaterarbeit von je her. Bühnenbildner Johannes Leiacker hat dafür ein in Weiß gehaltenes, edel und doch etwas unpersönlich eingerichtetes Apartment mitten in die Weite der Felsenreitschule gestellt, getragen und umgeben von den Wracks und Reifenstapeln eines veritablen Autofriedhofs, in welchem der mit Konwitschnys Theaterwelt vertraute Besucher unschwer die abgewrackten Reste einer machistischen Gesellschaft erkennt… Auf den ersten Blick wirkt das eher klein dimensioniert und wenig raumbeherrschend, da aber schon durch die verteilten Instrumente und auch von den Darstellern praktisch der gesamte Raum bespielt und definiert wird, ist dieses zentrale Bühnenbildelement sozusagen die dramatische Keimzelle des Geschehens. Darin erzählt Konwitschny mit viel Liebe zum Detail und bissigem Witz die Geschichte einer nicht funktionierenden Zweierbeziehung, welche zwar die gängigen Stationen und Situationen durchläuft, die aber vor allem die Unvereinbarkeit der Prinzipien Mann und Frau zeigt. Mit spürbarer Wonne reiht der Regisseur ein Klischee an das andere, die Aktionen geraten teilweise geradezu slapstickhaft und manchmal scheint er es drauf anzulegen, dass der Zuschauer sich fragt „Nein, das wird er jetzt doch nicht bringen?“ Doch, tut er. Ohne Rücksicht auf Verluste. Mexico kommt, wenig überraschend, auch szenisch nur in Form feinsinniger Anspielungen vor, etwa durch den Frida Kahlo-Druck an der Wand oder die wiederholten Tequila-Runden… Das ist mit leichter Hand und hochvirtuos inszeniert, Personenregie vom Feinsten, wie man es von diesem Meisterregisseur kennt. Und das Erstaunliche ist, daß es funktioniert. Allerdings wäre Konwitschny nicht der, der er ist, wenn er dem Ulk nicht noch mindestens eine Meta-Ebene, bzw. einen geradezu diabolisch entlarvenden Subtext, einziehen würde. Denn die ganze Burleske ist nur Tünche für die darunter brodelnden Konflikte, Übersprungshandlungen, die eigentlich etwas ganz anderes meinen: nämlich den puren Horror. Immer wieder bricht dieser sich Bahn, führt zu Entgleisungen, etwa wenn der ca. 30köpfige Bewegungschor – lauter junge Männer im Hipster-Look – die Bühne stürmt, sich an der Prügelei des Paares delektieren und vor Freude erstmal ein Tragl Bier leermachen… Cortez rauscht dann im roten Sportwagen ab, kurz bevor das Ganze zum Gang Bang eskaliert und aus jedem Autowrack, das er passiert, kommt eine Stichflamme raus; ironischer und brillanter war Konwitschny wohl selten. Über weite Strecken ist das präzise und kleinteilig gearbeitet, nur in der Massakerszene im dritten Teil greift der Regisseur ganz tief in die Kiste und überzieht den gesamten Raum mit bühnenfüllenden Filmeinspielungen aus der bekannten und opernerfahrenen Berliner Videokunst-Schmiede FettFilm: menschliche Silhouetten, Gesichtsdetails, schreiende Münder und vor allem rasant hinter einander geschnittene Auszüge aus kriegerischen Computerspielen, sogenannten Ego-Shootern; zusammen mit Rihms wuchtigen Klangballungen ein bockstarker Bühneneffekt. Der kommt umso wuchtiger, da der Rest der Inszenierung wie gewohnt so zweideutig und doppelbödig ist; einer der zentralen Sätze aus Cortez‘ großem Monolog lautet „In meinem Neutralen findet ein Massaker statt“; ein Satz, der Konwitschnys Sicht auf diese fragile Konstruktion gut beschreibt. Eine Konstruktion, die von Beginn an auf Scheitern und Zerstörung angelegt ist, erst ganz am Schluß des Stückes, als beide Protagonisten eigentlich bereits tot sind, vereinigen sich ihre Stimmen in der letzten Strophe des Octavio Paz-Gedichtes zu einem sehnsuchtsvollen Duett im Oktavunisono, ein Ausklang, der so unverschämt utopisch und kraftvoll ist wie alles vorher zerrissen und rätselhaft. Auch eine Art Liebestod, demjenigen in Wagners Tristan und Isolde in der Konsequenz gar nicht vollkommen fern; bezeichnenderweise schrieb Rihm unter die Partitur: Ende (?) der Oper. Das Fragezeichen ist angekommen.

Eroberung1Foto: Monika Rittershaus

Vervollständigt wird das Musiktheater-Glück von den Protagonisten Angela Denoke als Montezuma und Bo Skovhus als Cortez. Wie sich diese beiden unglaublich charismatischen Singdarsteller gegenseitig befeuern und den Konflikt szenisch wie musikalisch mit geradezu vulkanischer Energie auf die Spitze treiben, muss man einfach erlebt haben. Beide gehören nicht umsonst zu den gefragtesten Besetzungen für neue und neueste Töne, gesangstechnische oder stilistische Herausforderungen scheinen für beide nicht zu existieren und so können sie sich ganz auf den Ausdruck und der semantischen Ausformung ihrer Partien konzentrieren. Die Hauptschwierigkeit besteht für die Solisten darin, aus dem häufig wenig konzisen Wort- und Tonmaterial, aus der zerrissenen Faktur des Werkes, so etwas wie in sich geschlossene, bzw. halbwegs nachvollziehbare Charaktere zu formen und nicht nur reine Verkündigungsmedien zu sein. Mit ihrem strahlkräftigen und etwas herb timbrierten Sopran vermittelt Angela Denoke die Abgehobenheit und schwankende Identität Montezumas ebenso prägnant wie ihren Widerstand gegen die Ruppigkeit und latente Gewalttätigkeit des Prinzips Mann. Der Machtmensch Cortez wird in Skovhus‘ ungemein plastischer, nervös überreizter – und natürlich famos gesungener – Interpretation zu einem Geistesverwandten des Doktor Schön in Bergs Lulu, den der Sänger unlängst in München verkörpert hat; auch den Eroberer gibt Skovhus zunächst mit ruppig-selbstherrlicher Attitüde, um im Verlauf des Abends und im Anrennen gegen eine dominante wie manipulative Frauenfigur zunehmend emotional aus dem Fokus zu geraten, der Monolog im vierten Teil ein verzweifelter Versuch, die eigene Identität wiederzufinden: „Ich möchte ein furchtbares Weibliches versuchen, dieser Schrei ist ein Traum, der den Traum auffrißt…“. Susanna Andersson mit hohem Sopran und Marie-Ange Todorovitch mit pastosem Alt assistieren Montezuma mit hoher vokaler Genauigkeit, ebenso ihre sprechenden, bzw. scheinbar diffus artikulierenden Pendants Stephan Rehm und Peter Pruchniewitz als erster und zweiter Sprecher; ersterer war bereits im Frühjahr in B.A. Zimmermanns Ekklesiastische Aktion an der Kölner Oper zusammen mit Bo Skovhus im Einsatz.

Ein großartiger, ein maßstabsetzender Opern- und Theaterabend, der bereits jetzt seinen Platz in der vorderen Reihe der Jahreshöhepunkte sicher hat. „Präzisieren hieße die Poesie der Sache zu verderben“ – noch so ein Satz von Artaud, dem man nach diesem Abend nicht mehr zustimmen mag. Schade, dass Artaud Konwitschny nicht mehr erlebt hat, ich bin sicher, es hätte ihm gefallen.

Bayerische Staatsoper: “Eugen Onegin” – 26.7.2015

Ein grandioser PR-Coup, das muß man schon sagen. Geradezu aus dem Lehrbuch, dieser Ringtausch, den Anna Netrebko und ihr Management hier durchgezogen haben… Wir erinnern uns? Aber sicher, ist ja gerade ein dreiviertel Jahr her, dass die Primadonna kurzerhand aus den Proben zur Manon Lescaut ausgestiegen ist; warum und weshalb auch immer. So kam es nun zu besagtem Tauschhandel, Manon gegen Tatjana, mit der Kollegin Kristine Opolais, die eigentlich auch in diesen beiden Onegin-Festspielaufführungen als die schwärmende Unschuld vom russischen Lande besetzt war und sich nun als Manon an der Seite von Jonas Kaufmann im Tal des Todes wiederfand; so schnell kann das gehen. Die beiden verwaisten Onegine waren nun frei für Netrebko, welche durch einen Auftritt in dieser speziellen Inszenierung nun den Nachweis führen konnte, doch eigentlich rein gar nichts gegen moderne Regie als solche zu haben… Soviel zur Vorgeschichte. Da die Chefetage darauf verzichtet hatte, für den Onegin nachträglich noch den bei Netrebko-Abenden üblichen Topzuschlag zu kassieren, konnte man Anna zu durchaus volkstümlichen Tarifen – ab zehn Euronen für einen Steher – genießen, das kommt so bald nicht wieder. Jedenfalls dann, wenn man eine Karte ergattert hatte; denn mit einem Mal wollten sie doch alle wieder rein, selbstverständlich auch diejenigen, die diese Produktion gar nie nicht mehr sehen wollten… Frau N. aus K. macht eben auch solche kleinen Wunder möglich.

Ausverkauftes Haus, festlich gestimmte Atmosphäre in Rang und Parkett, Sängerprominenz auf allen Positionen – es hätte ein wunderbarer Opernabend werden können! Leider hatte der Mann am Pult etwas dagegen: so hat man Tchaikovskij seit langem nicht mehr gehört und vor allem hatte man gehofft, ihn nie wieder so hören zu müssen. So verkitscht und klanglich verfettet, so entsetzlich zerdehnt und verhudelt nämlich, wie Leo Hussain das hier ablieferte: das war Larmoyanz statt Melancholie, Bräsigkeit statt Eleganz und Klischee statt Emotion. Ein wirklich fataler Fehlgriff, keinen Moment lang kam so etwas wie musikalischer Fluß oder erzählerische Stringenz auf, die sinnfreien Generalpausen hackten immer wieder kratertiefe Spannungslöcher in die orchestrale Faktur. Als ob es einen Mariss Jansons oder einen Kirill Petrenko mit ihren fantastischen Tchaikovskij-Dirigaten gar nicht geben täte auf dieser Erde…! Vermutlich hat ihn nur die allgemeine Hochstimmung des Auditoriums vor einem zünftigen Einlauf bewahrt.

BSO Onegin1Schwesterchen, komm, tanz mit mir… Anna Netrebko (Tatjana) und Alisa Kolosova (Olga), beäugt von den Cavalieri (Foto: Wilfried Hösl)

Diese Hochstimmung entlud sich vielmehr in Jubelstürmen für die Sänger, wobei sich allerdings die Interpreten der mittleren Partien den Spaß erlaubten, dem Protagonistenpaar ganz gepflegt die Schau zu stehlen. Allen voran Pavol Breslik als Lenski, der ja stets in dieser Inszenierung aufgeht wie kein anderer Kollege, mit seinem natürlichen und ungemein präsenten Spiel und seinem geschmeidig lyrischen Tenor setzte er sich einmal mehr an die Spitze des Ensembles, die berühmte Arie sang er mit solch bewegender Innenschau und Leuchtkraft, dass man sogar die tranige Orchesterbegleitung für ein paar Minuten vergessen konnte. Sein Pendant im Baßschlüssel, Fürst Gremin, tat es ihm gleich, auch Günter Groissböcks Interpretation dieses Wunschkonzert-Klassikers hat Referenzcharakter, wunderbar kultiviert im Vortrag und bei aller vokalen Cremigkeit exzellent fokussiert und mit festem Stimmkern gesungen. Auch Alisa Kolosova war als quirlige Olga wieder die reine Freude, ihre sinnlich glühende Stimmfarbe und die hochmusikalische Gestaltung ergänzten sich wunderbar mit Bresliks Lenski. Die ältere Generation war durch Heike Grötzinger (Larina) und Elena Zilio (Filipjevna) vertreten, ein Ohrenschmaus klingt allerdings in beiden Fällen anders, insbesondere für die Rolle der Amme sollte man sich wirklich nach einer anderen Besetzung umschauen. Sehr präsent und ulkig zeigte sich dagegen Ulrich Reß als Monsieur Triquet, der Unterschied zwischen russischen und französischen Textpassagen blieb weitgehend außen vor.

BSO ONegin2Ende Gelände! Gut, dass wir geredet haben… Mariusz Kwiecien (Onegin) und Anna Netrebko (Tatjana) im Schlußduett – Foto: Wilfried Hösl

Und das verhinderte Liebespaar, das von Liebe und Zweisamkeit so tragisch wenig versteht? Diese beiden lieferten sich im Schlußduett einen Geschlechterkampf auf Biegen und Brechen, hier prallten die konträren Lebensentwürfe mit Karacho aufeinander und setzten – nun endlich – auch musikalisch die entsprechende emotionale Reibungsenergie frei. Denn, das muss gesagt werden, sowohl Mariusz Kwiecien als Onegin als auch Anna Netrebko als Tatjana taten sich vor der Pause unerwartet schwer, wirklich in ihre Rollen und ins Bühnengeschehen zu finden. Kwiecien bringt mit seiner attraktiven Erscheinung und seinem voluminösen, herbdunkel timbrierten Bariton eigentlich die besten Voraussetzungen für die Titelrolle mit, sang und spielte aber über weite Strecken enttäuschend eindimensional und wirkte zunächst eher mürrisch als dekadent; allerdings gelang ihm nach der Pause eine erhebliche Steigerung, in seinem Monolog zu Beginn des Ballbildes und in der Finalszene entwickelte er das Ausdrucksspektrum, das man von einem Sänger seiner Klasse gewohnt ist und erwartet. Auch Anna Netrebko liegt die herrschaftliche Attitüde der selbstbewußten Fürstin im letzten Akt wesentlich mehr als das naive Mädchen vom Lande, gerade in der Zerrissenheit zwischen Standesbewußtsein und ehelicher Treue einerseits und aufbrechender amour fou anderseits gewann ihre Tatjana am Ende doch noch echte dramatische Größe, hier ist auch die bedeutend größer und schwerer gewordene Stimme der Künstlerin in ihrem Element. Für die junge Tatjana des Beginns dagegen wirkt sie mittlerweile doch in Stimme und Ausstrahlung grenzwertig reif und erwachsen, um jetzt mal das Wort „divenhaft“ zu vermeiden, die Schüchternheit und naive Schwärmerei nimmt man ihr nicht mehr wirklich ab. Nun ist Netrebko in der Branche als Musterprofi bekannt und als solcher war sie sehr bemüht, die Vorgaben der Inszenierung umzusetzen und mit Leben zu erfüllen; was mit nur wenigen Proben und ohne Mitwirkung des Regisseurs natürlich schwierig ist und in diesem Fall auch weniger überzeugend gelang als im Vorjahr bei der Lady Macbeth.

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Onegin und die Jungs, mit besten Grüßen an alle… Ja, genau. (Foto: Wilfried Hösl)

Die berühmte, manch einer würde auch sagen berüchtigte, Inszenierung von Krzysztof Warlikowski in der Ausstattung von Malgorzata Szczesniak ist mittlerweile hinlänglich bekannt und gehört noch immer zu den rar gesähten Regie-Highlights im aktuellen Repertoire. Sie funktioniert noch immer hervorragend, fast hat man den Eindruck, dass sie sich durch die mittlerweile doch zahlreichen Umbesetzungen nicht nur nicht abgenutzt, sondern sogar neue Dynamik hinzugewonnen hat; auch wenn es diesmal einige Holzköpfe im Publikum wieder nicht lassen konnten, das „Cowboy-Ballett“ im zweiten Teil mit Buhs und homophoben Parolen zu quittieren… Leider hat der Dirigent sie durch die unsinnige Generalpause nach der Polonaise auch noch nachdrücklich dazu eingeladen. Ansonsten tosender Jubel. Münchner Opernfestspiele!