Philharmonie Berlin: Kirill Petrenko dirigiert “Elektra” – 7.4.2024

Mykene liegt am Tiergarten

Geht das? Ein Werk, das man seit Jahrzehnten in- und auswendig kennt – oder zu kennen glaubt – sozusagen noch ein zweites Mal erstmalig zu hören? Geht natürlich nicht, aber andererseits geht es eben doch. Mit Harnoncourt und Le nozze di Figaro ist es dem Kulturschock einstens so ergangen, und nun ein weiteres Mal mit Strauss’ pathosgetränktem, hochpsychologisierten Antiken-Grusical Elektra unter der Leitung von Kirill Petrenko. Da saß der Fabius nun in dieser höchstkarätig besetzten konzertanten Aufführung, welche die Berliner Philharmoniker traditionsgemäß nach den Osterfestspielen in Baden-Baden nochmal als Heimspiel nachlegen, und staunte über so viele Orchesterfarben, Nuancen und motivische Verflechtungen und Überlagerungen. Das alles steht ja in der Partitur und war immer schon da… Nur wirklich (raus)gehört hatte man es bisher noch nicht. Um am Ende des Abends einmal mehr festzustellen, dass es Dinge gibt in der musikalischen Aufführung, die offenbar wirklich nur Petrenko drauf hat. Sein Dirigat ist, wie nicht anders gewohnt, äußerst präzise, differenziert und transparent, mit geradezu magischer Klarheit und Luzidität fächert er den Orchestersatz in all seine klanglichen Spektralfarben auf; und zwar ohne den Gesamtklang zu vernachlässigen. So werden durch das – unnötig zu erwähnen, eigentlich – phänomenale Spiel der Philharmoniker immer wieder Valeurs und instrumentale Details hörbar, die bei normalen Orchestern und Dirigenten untergehen. Aber nicht nur die Farbigkeit und der Detailreichtum des Orchesterspiels macht diese Elektra zum Ereignis, sondern auch das Spiel mit der Dynamik und vor allem das orchestrale Storytelling. Was heißt hier schon „konzertant“? Bei Petrenko ist das archaische Drama ebenso präsent wie der moderne psychologische Überbau. An keiner Stelle reduziert Petrenko das Stück zum Shabby little Shocker, die Figuren werden ungemein plastisch und entfalten die Größe und die Wucht echter singender Tragödinnen. Das musikalische Drama, das hier abläuft, gestalten Dirigent, Orchester und Sänger sehr dynamisch, mit vielen Stationen, Steigerungen und emotionalen Brennpunkten, nach jedem scheinbaren Entspannungsmoment, zieht Petrenko wieder an. So entsteht ein unglaublicher Spannungsbogen von den einleitenden Agamemnon-Akkorden bis zum ekstatisch-selbstmörderischen Triumphtanz und den bracchialen Orchesterschlägen, mit denen die Oper schließt. Und das natürlich auf sämtlichen dynamischen Ebenen, vom staubtrockenen Fortissimo bis in die feinsten Pianissimi. Ein glasklar ausgefeilter, vor Sinnlichkeit und Ausdruck schier berstender Tripp in den Abgrund. Klar, das alles ist Elektra. Und hier wurde es Ereignis. Und zwar mal so richtig.

Ungleiche Schwestern haben Redebedarf: Elza van den Heever (Chrysothemis) und Nina Stemme (Elektra) – Foto: Berliner Philharmoniker

Bei der Besetzung war natürlich nur das Beste, bzw. Die Besten, gerade gut genug. Im Zentrum des Abends stand einmal mehr die grandiose Nina Stemme, die die Titelpartie seit einigen Jahren praktisch im Alleinbesitz hat. Ihre Elektra ist eine manisch Getriebene, ein Racheengel ohne Erbarmen, aber auch eine Manipulatorin, die das gesamte Spektrum beherrscht. Stemmes metallisch glänzender Sopranstrahl kann die Halle fluten, aber auch zurücknehmen, schmeicheln, locken, höhnen und triumphieren. Und dabei Mensch bleiben, eine zutiefst verletzte und entwurzelte Frau, die längst die letzte Haltestelle verpasst hat. Gerade die leisen Momente wie „Lässt Du den Bruder nicht nach Haus?“ machen in ihrer Eindringlichkeit ebenso schaudern wie die Erkennungsszene mit Orest und der Schlußgesang. Teile der Hauptstadtpresse meinten zu wissen, dies sei ihre letzte Elektra gewesen… Das wäre ein Jammer.

Jubel für das Ensemble (Foto: Berliner Philharmoniker)

Archaisches Dramenformat erreicht auch Michaela Schuster als Klytämnestra. Laut Ansage durch die Intendantin vor Beginn hatte sie mit akuter Pollenallergie zu kämpfen, ihrem fast schon gespenstischem Psychogramm der dekadenten Ehebrecherin und Gattenmörderin tat das keinen Abbruch, ein Vollprofi wie Schuster weiss natürlich, gewisse Brüche und Handicaps in Ausdruck zu übersetzen und die stimmlichen Kräfte für die spielentscheidenden Stellen zu bündeln. Als Dritte im Bunde begeisterte auch Elza van den Heever als Chrysothemis mit silbrig schimmernden und strahlend auftrumpfenden Soprantönen und ganz viel Ausdruck. Die Südafrikanerin hat sie ohne Zweifel in die erste Liga der jugendlich-dramatischen Sopranistinnen gesungen.

Die Männer, die in diesem Stück bekanntlich nicht wirklich viel zu melden haben und einem bekannten Bonmot eines namhaften Bassbaritons zufolge „Volle Gage für zehn Minuten gut aussehen“ kassieren, hielten das überragende Niveau mühelos: Johan Reuter gab einen sonoren, in sich ruhenden Orest und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke einen stimmlich sehr präsenten und lustvoll überzeichneten Ägisth, ohne die Rolle, wie leider so oft, zur Knallcharge zu verkleinern.

Die umfangreiche supporting cast war zum größten Teil mit jungen oder sehr jungen Sängerinnen und Sängern besetzt, die auch in ihren kurzen solistischen Einwürfen durchgehend überzeugten: Anthony Robin Schneider (Der Pfleger) Serafina Starke (Vertraute), Anna Denisova (Schleppträgerin), Katharina Magiera, Marvic Monreal, Alexandra Ionis, Dorothea Herbert und Lauren Fagan (Mägde), Kirsi Tiihonen (Aufseherin), Lucas van Lierup (junger Diener) und Andrew Harris (alter Diener).

In München hat Kirill Petrenko die Elektra als einzige der großen Strauss-Opern leider nie dirigiert; diese Lücke konnte der Kulturschock nun schließen. Und war so gefangen von diesem Orchesterfest, dass er beinahe erwartet hatte, beim Rausgehen das Löwentor von Mykene zu erblicken… War aber auch diesmal nur der Berliner Tiergarten. Und wenn schon.

Gehabt Euch also wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

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