Bayerische Staatsoper: “Falstaff” – 14./19.2.2015

Lustige Weiber am Asher-Donnerstag

Unter den zahlreichen Verdi-Produktionen der BSO in der Amtszeit von Peter Jonas genießt dieser Falstaff in der Regie von Eike Gramss ein Alleinstellungsmerkmal: sie war die einzige, die szenisch nicht krachend vor die Wand gefahren wurde. Wohl deshalb ist sie auch immer noch im Spielplan, bzw. ist nun nach einigen Jahren Pause wieder auf jenen zurückgekehrt; Welcome back, Sir John!

Das minimalistisch karge, andeutungsweise an der Shakespeare-Bühne orientierte Bühnenbild mit der runden, dreh- und kippbaren Holzscheibe – in Theaterkreisen gerne auch „Kochplatte“ genannt – im Zentrum und die farbenfrohen, dezent ironisierenden Kostüme von Gottfried Pilz verfehlen nach wie vor nicht ihre Wirkung und bilden einen sinnfälligen und optisch ansprechenden Rahmen für das Geschehen, ohne vom Spiel der Darsteller abzulenken. Zugleich bietet die kahle Bühne mit den umgebenden Vorhängen, im Zusammenspiel mit der differenzierten Lichtregie von Manfred Voss, auch viele Variationsmöglichkeiten, mit dem nur durch Licht- und Schattenwirkungen geschaffene nächtliche Park von Windsor im letzten Akt als Höhepunkt. Aber auch die quirlige, kleinteilig fein gearbeitete Regie von Eike Gramss hat die zahlreichen Umbesetzungen erstaunlich gut überstanden und lebt von der Persönlichkeit und Spielfreude der Sänger und deren choreographischer Genauigkeit. All dies war in dieser Wiederaufnahme in hohem Maße vorhanden und auch wenn nicht jede aktuelle Besetzung immer ganz mit den illustren Rollenvorgängerinnen und Vorgängern mithalten konnte, so war doch ein auf hohem Niveau homogenes Ensemble am Start; eine Qualität, die gerade für dieses Stück unabdingbar ist.

Der zweite für den Erfolg einer Falstaff-Einstudierung entscheidende Faktor ist der Dirigent. Diesmal endete die Serie einen Tag nach Aschermittwoch, sozusagen am Ascherdonnerstag, bzw. in diesem Fall Asher-Donnerstag, da man nämlich Asher Fisch die musikalische Leitung anvertraut hatte. Eine nicht unproblematische Entscheidung, schließlich ist Fisch bei seinen bisherigen Auftritten nicht unbedingt als Freund des feinen Pinsels aufgefallen. Und auch hier ließ er das Staatsorchester für meinen Geschmack sehr al fresco musizieren, die Tutti knallten, die Bläser ratterten ihre Einsätze rabiat dazwischen und mancher Übergang klang mehr gewaltsam als entwickelt. Man konnte ihm zugute halten, dass er den Laden im Griff hatte, Orchester und Bühne, von kleinen Wacklern abgesehen, auch in den diffizilen Ensembleszenen zusammenhielt und sich in Tempo und Lautstärke zumindest um eine etwas differenziertere Wiedergabe bemühte. Auf die orchestralen Feinheiten und Effekte der Partitur musste man allerdings verzichten, gerade im piano klang vieles nur hingeworfen statt wirklich ausgearbeitet, der ganz spezielle musikalische Tonfall der Oper stellte sich nur andeutungsweise ein.

BSO Falstaff1Va, vecchio John! Ambrogio Maestri in der Titelrolle (Foto: Wilfried Hösl)

Und schließlich, als dritter Faktor, die herausragende Besetzung der Titelfigur. Da war man mit Ambrogio Maestri natürlich auf der sicheren Seite, schließlich hat Maestri diese Rolle seit Jahren praktisch im Alleinbesitz und darf ruhig zu den bedeutensten Interpreten in der Aufführungshistorie des Werkes gezählt werden. Er gibt den dicken Ritter weder als versoffenen Clown noch als skurrile Figur, sondern als einen Mann in den besten Jahren, etwas heruntergekommen zwar und irgendwie aus der Zeit gefallen, aber immer noch ein Herr. Seine Außenseiterrolle in der spießigen Windsor-Welt spielt dieser Falstaff mit spürbarer Wonne, ein Spaß-Guerillero von anarchischem Witz und unerschütterlichem Selbstbewußtsein, der den Anderen das Wissen um die Vergeblichkeit des Strebens und die Brüchigkeit gesellschaftlicher Normen voraus hat, dieses aber in der Schlußfuge mit diesen seinen Mitmenschen teilt. Dazu steht Maestris voluminöser, flexibler Bariton voll im Saft, versteht es, geradezu im Klang zu baden, aber auch ganz verhalten, schlank und beinahe im Grenzbereich zum Sprechgesang zu agieren. Alles ohne Manierismen und Übertreibungen, er beherrscht diese Partie einfach bis in ihre feinsten Details und gestaltet mit überragender Souveränität. Da reichen manchmal schon kleinste Betonungen oder Temporückungen, um den gewünschten Effekt zu erzielen; wenn er etwa einen Glühwein ordert, hellt er den Vokal A in „caldo“ eine Nuance auf und zieht ihn zugleich in die Länge, so dass auch jemand, der kein Italienisch spricht, sofort spannt, daß hier einer vor Vorfreude schon Fäden zieht….

BSO Falstaff2Frauenpower im Viererpack: v.l. Véronique Gens (Alice), Susanne Resmark (Quickly), Gaëlle Arquez (Meg) und Ekaterina Siurina (Nannetta) – Foto: Wilfried Hösl

An diesen Abenden bekam Sir John es mit einem Quartett lustiger Weiber zu tun, die dem alten Schwerenöter ganz schön Kontra gaben: Véronique Gens als noble Alice mit kultiviert geführtem, dunkel schimmernden Sopran, die bildhübsche Gaëlle Arquez als muntere Meg und vor allem Ekaterina Siurina als Nannetta, deren silbrig lyrischer Schmelz in ihrer Arie im letzten Bild tatsächlich vokalen Feenglanz verströmt. Lediglich Susanne Resmark als Quickly fiel leider ab, da es ihr, insbesondere im tiefen Register, an stimmlicher Präsenz und Volumen fehlte; das berühmte „Reverenza“ mußte man sich diesmal dazudenken. George Petean ist mit seiner gemütlichen Ausstrahlung vielleicht nicht die glaubhafteste Besetzung für den Neurotiker Ford, vermag mit seinem kultivierten Vortrag aber insgesamt zu gefallen. Antonio Poli war ein sympathischer Fenton mit frischem, unverbrauchten Material, Carlo Bosi ein etwas sehr penetranter Cajus und Kevin Conners (Bardolfo)und Goran Jurić (Pistola) gaben ein pittoreskes und urkomisches Ganovenpärchen ab.

Bayerische Staatsoper: “Così fan tutte” – 16.2.2015

Ob Mozarts Così fan tutte jetzt wirklich das richtige Pappnasen-Stück zum Rosenmontag ist, darüber darf man geteilter Meinung sein… Schließlich geht es darin um ein zynisches Experiment mit existenziellen Gefühlen, um Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Verrat und Ideale, an dessen Ende zwar die Fassade mühsam wieder zusammengeleimt, dahinter aber vermutlich nichts mehr so ist wie vorher. Jedenfalls ist das in der Oper von Mozart und seinem kongenialen Librettisten da Ponte so. In München ist davon nach wie vor wenig zu erleben, denn das Werk wird immer noch in der mittlerweile 22 (!) – in Worten: zweiundzwanzig! – Jahre alten Inszenierung von Dieter Dorn gezeigt. Diese war schon am Premierenabend im Januar 1993 eine Zumutung und daran hat sich nichts geändert, nicht einmal die unzähligen Besetzungen, die in der Zwischenzeit durchgeschleust wurden, haben ihrer Belanglosigkeit und Ödnis etwas anhaben können. Eine Produktion, die perfekt jene spießige und oberflächliche Ästhetik konserviert, die Dorn und sein Haus-und-Hof-Ausstatter Jürgen Rose seinerzeit jedem Stück, sei es Musik- oder Sprechtheater übergebraten haben; ein Kritiker hat dafür den schönen, weil treffenden, Begriff „Boutiquen-Theater“ geprägt. Im Klartext heißt das: ein Schuhkarton als Bühnenbild, weiße Wände und Bodentücher, aseptisch grell ausgeleuchtet, dazu maniriert lange Pausen in den Rezitativen, sinnfreies Herumrennen und banaler Designer-Schnickschnack wohin man schaut. Was, und ob überhaupt, das handelnde Personal in dieser Scuola degli amanti, gelernt hat, bleibt bei Dorn diffus; die beiden Damen sind konsequent als pubertär herumgibbelnde dumme Gänschen inszeniert, die Cavalieri als aufgeblasene Kindsköpfe und am Ende taumeln alle händchenhaltend von einem Bühnenportal zum anderen… Moral von der Gschicht? Gibt’s nicht. Wie auch, wenn die zentrale szenische Frage offenbar lautete: Wieviele Stühle bringe ich in der nächsten Szene auf die Bühne und wo stelle ich sie hin?

BSO CosiBild aus einer früheren Serie… (Foto: Wilfried Hösl)

Musikalisch dagegen kam in dieser aktuellen Wiederaufnahme fast durchgängig Freude auf, einziger Wermutstropfen war der szenisch wie musikalisch hölzerne Luca Tittoto als Don Alfonso, der den abgefeimten Intriganten und Strippenzieher keinen Moment glaubwürdig machen konnte. Zudem beherrscht er sein durchaus kraftvolles Material technisch nur ungenügend und steht inbesondere mit der für Mozart so wichtigen messa di voce auf Kriegsfuß; stellenweise fühlte man sich an das bekannte Bild von der Ketchupflasche erinnert: meist kam nichts, dann wieder ein unkontrollierter Schwall. Leider hat er mit haarsträubender Intonation auch das herrliche Terzett „Soave sia il vento“ vollständig ruiniert, keine Chance für die zwei ragazze.

Damit war das Tal der Tränen aber auch durchschritten, die anderen fünf Solisten machten ihre Sache ausgezeichnet und harmonierten auch als Ensemble. Das galt sogar für Gaëlle Arquez, die erst am Tag selbst als Dorabella für Angela Brower eingesprungen war. In dieser keinewegs einfachen Partie ein bemerkenswerter Stunt, den das Publikum zu Recht mit Bravo-Salven würdigte. Die auch optisch attraktive französische Mezzosopranistin, derzeit hier auch als Meg in Falstaff im Einsatz, verfügt über ein apartes herbdunkles Timbre und Stilgefühl, unter normalen Umständen vermutlich auch über noch mehr Feinheiten. Natürlich sang Arquez vom Bühnenrand und aus den Noten, während Spielleiterin Bettina Göschl die Rolle in professioneller Manier szenisch doubelte; eigentlich schade, da Arquez und Marina Rebeka als Fiordiligi sicher auch im Spiel ein fulminantes und glaubhaftes Schwesternpaar abgegeben hätten. Bei der künftigen Besetzung des momentan ja etwas verwaisten Fachs des dramatischen Mozart-Soprans dürfte Rebeka ein deutliches Wort mitzureden haben, ihr flexibel geführter Sopran besitzt alle dafür nötigen Qualitäten bis hin zu einer strahlenden und ungefährdeten Höhe. Den Glanzpunkt des Abends allerdings setze Lawrence Brownlee als Ferrando. Rossini-Tenöre die auch Mozart können, sind ja eigentlich eine Rarität, aber Brownlee ist da eine rühmliche Ausnahme, sein biegsamer Tenor besitzt den nötigen Schmelz und kann auch die ungleich längeren vokalen Bögen bewältigen. Und nicht nur das, sein Vortrag ist von feiner Eleganz, Stilgefühl und genuiner Musikalität geprägt, dazu verfügt er über szenische Präsenz und sympathische Ausstrahlung. An seiner Seite gab Gyula Orendt als Guglielmo ein durchaus vielversprechendes BSO-Debüt, eine junge, unverbrauchte Stimme von beachtlicher Schönheit. Die Despina hatte Dorn seinerzeit als sauertöpfischen Trampel und personifiziertes schlechtes Gewissen inszeniert. Das hat sich glücklicherweise im Laufe der Jahre abgeschliffen, auch wenn Tara Erraught ebenfalls eine eher bodenständige Zofe fernab von Kammerkätzchen-Klischees verkörpert. Gesanglich bewegte sie sich auf dem von ihr mittlerweile gewohnt hohen Niveau, bot vokale Geläufigkeit, gute Artikulation und nicht zuletzt auch feinen Mezzoschmelz wo angebracht.

Für eine kräftige Prise frischen Windes sorgte Jéremie Rhorer am Pult. Von der lässigen Körperhaltung und der out-of-bed-Frisur des Maestro durfte man sich nicht irritieren lassen, sein Dirigat war alles andere als verschlafen, sondern ganz im Gegenteil von großer Wachheit, Transparenz und Verve geprägt. Er animierte das Staatsorchester zu einem beinahe silbrig schimmernden, sinnlich pulsierenden Klang und straffen, gut ineinander greifenden Tempi. Alles, was die Inszenierung uns vorenthält, realisierte das Orchester: feinen Witz, Ironie, emotionale Tiefe, poetische Innenschau und mitreißende Spielfreude. Wer wissen wollte, was es mit der Schule der Liebenden und ihren Konsequenzen auf sich hat, der musste an diesem Abend nicht hinschauen sondern zuhören.

Bayerisches Staatsorchester/ Omer Meir Wellber – 2.2.2015

Dieser Tag war ein rabenschwarzer Tag für die Musikstadt München – Nein, natürlich nicht aufgrund dieses Konzertes, sondern wegen der an diesem Montag getroffenen Entscheidung, dass es keinen neuen Konzertsaal geben wird. Wie üblich hat Ministerpräsident Seehofer sein Wort gebrochen und, in Komplizenschaft mit dem im Ungeist verbundenen Oberbürgermeister Dieter Reiter, eine ganz große Koalition der Lügner und Kulturbanausen errichtet, um die schwachsinnigste aller „Lösungen“ zu realisieren: einen neuen Konzertsaal „von Weltrang“ innerhalb der Mauern der KVA am Gasteig. Ein Unterfangen, welches, selbst wenn es in statischer, baulicher und akustischer Hinsicht möglich wäre, kein einziges Problem lösen, dafür aber viele neue schaffen würde. Eine Entscheidung, die an Borniertheit, Hirnrissigkeit und Unverständnis kaum zu überbieten ist und die Stadt München in der gesamten Musikwelt zum Gespött macht. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, auf geht’s Künstler und Musikfreunde, weg mit der Krawatte und rein in den Kampfanzug, lasst uns den Herren mal einheizen! Schließlich lehrt die Erfahrung, dass Politiker bei entsprechender Gegenwehr ohnehin umfallen…

Solche existenziellen Probleme kennen die Damen und Herren des Staatsorchesters natürlich nur vom Hörensagen, als Orchester der Bayerischen Staatsoper leben sie auf einer Insel der Seligkeit und verfügen über einen prunkvollen und akustisch wie atmosphärisch wunderbaren Saal, den sie sechsmal im Jahr ganz für sich haben, wenn sie das Dunkel des Grabens verlassen und sich im hellen Rampenlicht der Bühne als Konzertorchester präsentieren. Dass die Musiker sich in diesen Akademiekonzerten besonders motiviert und spielfreudig zeigen, ist nicht neu und da machte auch dieser äußerst unterhaltsame Abend keine Ausnahme. Das gilt meistens auch für die Dirigenten; wer eine Einladung zum Akademiekonzert erhält, darf sich zumeist bereits oder in Kürze zu den besonderen Freunden des Hauses zählen. Jetzt hatte man, zweieinhalb Jahre nach seinem großartigen Hausdebüt mit La Traviata, Omer Meir Wellber ans Pult gebeten und der junge israelische Maestro erfüllte die von ihm selbst geweckten Erwartungen auf der ganzen Linie und animierte das Staatsorchester zu einem durchgehend farbenreichem, spritzigen und eleganten Klangbild. Elegant und geschmeidig ist auch Wellbers Auftreten, er leitet die Seinigen mit exzessiven Bewegungen, Hüftschwüngen und Halbsalti, da weiß offenbar einer gar nicht mehr, wohin mit aller Energie; in der Pause schlug ein Besucher gar halb spaßhaft vor, man solle ihm nächstens statt des engen Pultes einen Catwalk einrichten…

O.M.Wellber Foto: Wilfried Hösl

Mitgebracht hatte Wellber eine Neuheit und zwei weitere relativ selten gespielte Werke, die auf ihre Weise vom Rhythmus als treibender Kraft bestimmt werden. Im Falle des Schlagzeugkonzertes mit dem Titel Focs di artifici des erst 38jährigen katalanischen Komponisten Ferran Cruixent versteht sich das praktisch von selbst und ein Feuerwerk, nichts anderes bedeutet der Titel nämlich, war es auch, was Peter Sadlo inmitten seiner riesigen Batterie an Trommeln, Stäben, Gongs etc. abfeuerte. Da bebte die hehre Halle durchaus unter der Wucht dieser alles andere als gewohnten Klänge, das ging direkt in den Blutkreislauf, zumal das Orchester mit seinen famosen Solisten kongenial sekundierte, da konnte vermutlich niemand die Füße stillhalten. Nun ist das Konzert für Schlagzeug und Orchester ja eine verhältnismäßig neue Gattung, deren führende Komponisten alle noch leben… Was zweifellos ganz entscheidend damit zu tun hat, dass in den letzten zehn Jahren eben auch die entsprechenden Virtuosen wie etwa Sadlo oder Martin Grubinger auf den Plan getreten sind. In jedem Fall eine moderne und stimmungsvolle Klangfarbe, die das klassische Spektrum absolut bereichert. Das zunächst etwas irritierte, dann aber umso begeisterte Publikum sah das offenbar ähnlich und Sadlo ließ es sich nicht nehmen, mit dem Solostück Crossover von Wolfgang Reifeneder als Zugabe noch einen draufzulegen – und zwar nur auf der kleinen Trommel. Welche Fülle an Klängen, Stimmungen und Charakteren er diesem einen unterschätzten Instrument entlockt, mochte man kaum glauben.

Etwas konventioneller, aber ebenso schwungvoll, eröffnet wurde der Abend mit Manuel de Fallas Ballettsuite El sombrero de tres picos. Klingt doch viel schöner als der lapidare deutsche Titel Der Dreispitz, und an überschäumender südländischer Spiellaune fehlte es nicht, Wellber ließ die Folge hitziger Rhythmen und Effekte in rasantem Tempo ablaufen, ohne die Kontrolle zu riskieren.

Mit dem Hauptwerk nach der Pause, Schostakowitschs 6. Sinfonie in h-moll, begab sich der Dirigent auf ein durchaus heikles Terrain, schließlich ist nicht nur das Werk an sich trotz der relativ kurzen Spieldauer äußerst anspruchsvoll, auch ist das Publikum in München in Sachen Schostakowitsch durch die beiden großen Symphonieorchester verwöhnt. Und doch konnte Wellber mit einer sehr feingliedrigen und individuellen Interpretation überzeugen. Ein Riesenkompliment zunächst ans Staatsorchester, welches auch in diesem ja eher ungewohnten Repertoire sehr stilsicher und idiomatisch agierte, ein sehr sinnlich blühender Klang, schlank und transparent. Wenn man den gängigen musikwissenschaftlichen Analysen folgt, hat der Komponist hier sozusagen eine ironische Anmerkung zu seiner vorangegangenen 5. Sinfonie nachgelegt und deren „populäreren“ Gestus nachträglich persifliert… Das mag sein, auf jeden Fall ist die dreisätzige Anlage mit einem 15minütigen Largo zu Beginn und zwei kurzen, pointierten und bissig-ironischen Tanzsätzen höchst ungewöhnlich und daher unterschiedlich interpretierbar. Wellber sucht gar nicht erst nach einer dramaturgischen Klammer und präsentiert die drei Sätze als autonome musikalische Ansagen. Für meinen Geschmack geriet ihm dabei der einleitende Lamento-Satz bei aller Klangpracht und Intensität noch eine Nuance zu geglättet, zu abgeschliffen die Schroffheiten und Härten der Partitur. Ganz anders in den beiden burlesken Folgesätzen, hier griffen Orchester und Dirigent richtig in die Kiste und spielten die für Schostakowitsch so typische Abfolge von grotesk verzerrten Tanzrhythmen, Geschwindmärschen und ironischen Zitaten mit spürbarer Lust. Die dämonisch verfremdete Zirkusmusik, die sich im Finale drunterschiebt, erinnerte hier beinahe an Berlioz, ein ganz starker Moment.

Ein tolles, ein hochinteressantes Konzert mit einem famos begabten jungen Dirigenten; bitte unbedingt bald wiederkommen!

Bayerische Staatsoper: “Lucia di Lammermoor” – 26.1.2015

Sie und ihre Magnum…

Die Frau ist komplett irre. Nein, nicht einfach nur komisch drauf, sie hat richtig einen an der Klatsche. Gut, das wird natürlich niemanden wundern wenn Donizettis Lucia di Lammermoor auf dem Spielplan steht, schließlich ist die Titelfigur die Ahnfrau sämtlicher romantischen Grenzgängerinnen und ihre große Wahnsinnsszene im zweiten Akt die Mutter aller Wahnsinnsszenen. Und doch hatte der Wahnsinn an diesem – enthusiastisch gefeierten – Premierenabend im Nationaltheater nicht nur Methode, er übertraf in der Drastik der musikalischen Vergegenwärtigung so ziemlich alles, was in jüngerer Vergangenheit auf dieser Bühne zu sehen war; soviel Wahnsinn wie diesmal war selten.

Dreizehn Jahre lang, bis 2003, war die elegant-praktische und kunstvoll stilisierte Vorgänger-Inszenierung von Robert Carsen im Repertoire gewesen, in ihr hatte Edita Gruberova an der Seite wechselnder Tenöre und des immer gleichen Baritons einen Triumph nach dem anderen gefeiert, eine glorreiche Erinnerung fürs Publikum und eine tonnenschwere Bürde für die nachfolgende Sängerinnen-Generation. Das konnte nur mit einem radikalen Schnitt und einer, auf ihre Weise, ebenso phänomenalen Protagonistin gelingen. Und so geschah es auch. Natürlich konnte es nur eine geben: die großartige Diana Damrau. Sie ist Lucia in dieser Neuproduktion, sie ist das Gesicht dieser Aufführung und definiert das Zentrum. Vor allem aber ist sie anders, ganz anders als vermutlich sämtliche Lucia-Interpretinnen vor ihr. Natürlich hat niemand erwartet, dass Damrau die übliche Highland-Suse im weißen Nachthemdchen geben würde, aber diese psychotisch-exaltierte, phasenweise die Grenze der Selbstverleugnung streifende Hardcore-Nummer musste man erstmal verdauen. Genauer gesagt: erstmal dahinter kommen, denn in der Auftrittsarie wirken Vortrag und Körpersprache gewöhnungsbedürftig und beinahe befremdlich, entfalten aber zunehmend ihre beklemmend starke Wirkung; spätestens dann, wenn klar wird, dass wir keine sonnambule und pittoresk leidende Existenz vor uns haben, sondern eine Besessene, eine gespaltene Persönlichkeit, getrieben von extremen Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüchen. Dadurch wirkt nicht nur Damraus Spiel so irritierend unruhig und nervös, sondern auch ihr Gesang. Nun gehörte sie ja noch nie zu den Sängerinnen, die nur ihren nächsten schönen Ton im Kopf haben und primär auf Effekte und vokale Schauturnerei gebürstet sind; vielmehr verbindet sie mit ihrem Gesang immer eine innere, psychisch-emotionale Notwendigkeit, einen konsequenten Affektausdruck. Dies treibt sie als Lucia auf die Spitze, gestaltet die Partie ganz im Sinne der Interpretation und überrascht mit einer Fülle so noch nicht gehörter Phrasierungen und Betonungen. Das mag nicht immer schulmäßig sein, kommt aber in jedem Moment aufregend und glaubhaft rüber; um die notorische und (zu)viel strapazierte Vokabel „authentisch“ zu vermeiden. Natürlich gibt Damraus Stimme auch alles her, was an vokalen Bravourakten gefragt ist, sie liefert aber zusätzlich noch deren semantisches Umfeld mit. Diese Lucia nimmt nicht einfach hin und implodiert nicht seelisch im Stillen, sie geht auf Konfrontationskurs und zahlt der verstockten Macho-Gesellschaft ihre Demütigungen zurück. Entsprechend gestaltet sie auch die Wahnsinnsszene nicht als Kontrollverlust, sondern als eine Art manischer Selbstinszenierung, die zwar ihr Leben kostet, aber auch allen, die dabei waren, einen Knacks auf Lebenszeit eingejagt hat… Das ist Oper als Grenzgang, unter den Koloraturen liegt nicht der Strand, da lauert der pure Seelenhorror.

Lucia di Lammermoor D. Damrau c) W. HöslWehe, wenn sie losgelassen… Diana Damrau als Lucia (Foto: Wilfried Hösl)

Einen kongenialen Partner bei dieser Neuentdeckung des Werkes hat sie in Kirill Petrenko am Pult, der hier als erster (!) GMD des Hauses eine Donizetti-Oper dirigiert. Da durfte man auf einiges gefasst sein. Und in der Tat, schon die düster glimmenden und geradezu elektrisch aufgeladenen Einleitungstakte zeigten, wo es hier langgeht und dass dies alles, nur kein „gewöhnliches“ Donizetti-Dirigat werden würde. In der Tat hat man die Partitur so noch nicht gehört, Petrenko nimmt die Musik blutig ernst und treibt ihr jegliche oberflächliche Banda-Schmissigkeit gründlich aus. Dazu gehört auch, dass er sämtliche üblichen Striche geöffnet hat und das Werk komplett und ungekürzt aufführt; nicht nur mit allen Cabalettenwiederholungen, auch der Dialog Lucias mit Raimondo und dessen Arioso im dritten Bild sowie sein eindrucksvolles Accompagnato direkt im Anschluß an die Wahnsinnsszene finden statt. Die Sänger treibt und puscht er voller Energie, ohne sich je mit reiner Divenbegleitung zu begnügen. Vielmehr gewinnt der Orchesterpart ein faszinierendes Eigenleben und wird zu einer Art Gedankenstimme der Protagonisten, die deren überreizte Emotionen überhöht und klanglich abbildet. Immer wieder erklingen Details, die selbst fortgeschrittene Donizetti-Connaisseure so noch nicht wahrgenommen haben, liebevoll ausgekostete Holzbläser-Soli etwa oder kurze, aber dramatisch ungemein effektvolle Tempoverschiebungen. Das Staatsorchester und der Staatsopernchor (Einstudierung: Stellario Fagone) zeigen sich – wie eigentlich immer wenn der Chef am Pult steht – in Hochform, konzentriert und präzise, die relativ wenigen Chormomente hat man selten so prägnant und atmosphärisch dicht gesungen gehört. Besondere Erwähnung verdient natürlich auch Sascha Reckert an der Glasharmonika, der Diana Damraus Koloraturen mit einem beinahe gespenstisch irrealen Sound unterlegt. Der Grundgestus des Dirigates ist eher breit, ein romantischer Mischklang von funkelnder Farbigkeit, der in den großen Ausbrüchen seine volle Dynamik erreicht. Dennoch hat man nie den Eindruck von Statik und unangemessener Schwere und die Ansicht einer namhaften Münchner Edelfeder aus der Hultschiner Straße, Petrenko habe keinen Donizetti, sondern einen verkappten Wagner dirigiert, ist blanker Unfug. Wenn überhaupt, hat Petrenko herausgearbeitet, wo Wagner in Sachen Satztechnik etwas von Donizetti gelernt hat; auch wenn der sächsische Großmeister das natürlich im Leben nicht zugegeben hätte.

Lucia di Lammermoor D. Damrau_P. Breslik c) W.HöslPavol Breslik (Edgardo) und Diana Damrau (Lucia) – Foto: Wilfried Hösl

Auch der Rest der Sängerbesetzung dieser Premierenserie ist glänzend und gestalterisch dieser differenzierten und hochemotionalen Lesart verpflichtet. So singt Publikumsliebling Pavol Breslik bei seinem Rollendebüt einen sehr berührenden und intensiv gestalteten Edgardo. Auch er muss das Publikum erstmal überzeugen, dass man die Rolle auch sehr viel lyrischer und empfindsamer anlegen kann als gemeinhin praktiziert. Breslik verfügt bekanntlich nicht über die Riesen-Röhre, um die Partie „rauszuknallen“ und das Haus zu fluten; er setzt dafür auf poetischen Ausdruck, genuine Schönheit des Timbres, Linienführung und Musikalität. An zwei oder drei Stellen, etwa in der Konfrontation mit Enrico zu Beginn des zweiten Aktes, hätte man sich vielleicht etwas mehr Schmackes gewünscht, aber was der Künstler hier aus seinem Material macht und mit welcher Emphase er den Charakter gestaltet, ist insgesamt beeindruckend, da braucht er sich hinter den Kollegen von der Strahlemann-Fraktion nicht zu verstecken. Von deutlich rustikalerer Machart ist der Enrico von Dalibor Jenis, der mit seinem voluminösen und klangsatten, wenn auch zuweilen leicht wabernden, Bariton mächtig auftrumpft und den Standpunkt von Familientreue und Gehorsam entsprechend massiv vertritt; der Kontrast zwischen beiden Männerrollen hätte sinnfälliger kaum ausfallen können. Hauptnutznießer der hier gespielten Vollversion ist natürlich Raimondo, dessen Part sich gegenüber der üblichen Strichfassung beinahe verdoppelt hat; kein Wunder also, dass man sich mit Georg Zeppenfeld einen erstrangigen Bassisten geleistet hat. Dieser begnadete Singdarsteller gibt natürlich nicht den bräsigen netten Onkel von Nebenan, sondern zeichnet das Rollenporträt eines ölig-verschlagenen Intriganten, der jede Schweinerei sanktioniert, sich ständig auf den lieben Gott rausredet und im Katastrophenfall genüßlich anderen die Schuld zuweist. Auch stimmlich läßt dieser kultivierte, kernig-markant strömende Bass schwärmen, das ist einfach großer Operngesang! In der sehr undankbaren Partie des ungeliebten und alsbald umgebrachten Zwangs-Ehemannes Arturo weckt der anämische Vortrag von Emanuele d’Aguanno gewisse Erinnerungen an seinen notorischen Rollenvorgänger in der früheren Inszenierung, während Dean Power (Normanno) und Rachael Wilson (Alisa) ihre Stichwortgeberrollen sehr präsent ausfüllen.

Lucia di Lammermoor D. Damrau_P. Breslik_D. Jenis_ E. D'Aguanno c) W. HöslHer das Ding! – Edgardo (P.Breslik) ent-ringt Lucia (D.Damrau) unter den Augen von Enrico (D.Jenis) und Arturo (E.d’Aguanno) – Foto: Wilfried Hösl

Man kann sich ausmalen, was für ein unglaublicher Opern-Thriller diese Premiere hätte werden können, wenn auch noch Regie stattgefunden hätte! Klarer Fall von „Satz mit X…“, wieder einmal hatte man eine der inzwischen gefürchteten „Entdeckungen“ aus der osteuropäischen Sprechtheater-Szene verpflichtet. Das ist schon mehrfach schiefgegangen und es ging wieder schief, dem aus drei polnischen Nachwuchskünstlerinnen bestehenden Regieteam fehlt es nicht nur an Handwerk, sondern vor allem an einem tragfähigen Konzept. Das Bühnenbild von Barbara Hanicka stellt einen verfallenen Ballsaal oder ähnliches dar, in den Ecken liegt der Schutt, die Türen und Fenster sind kaputt, irgendwo im Raum liegen ein zerstörter Konzertflügel und ein paar angekokelte Büromöbel herum, den ominösen Brunnen gibt es nur auf einem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto, das Lucia zielsicher aus dem Müll fischt… An diesem Un-Ort inszeniert Barbara Wysocka das Geschehen als Mischung aus ödem Rampentheater und gelegentlichen Mätzchen, irgendeine durchgehende Deutungsidee ist nicht zu erkennen. Auch die von der Regisseurin im Interview zitierte angebliche Analogie zwischen der Familiengeschichte Lucias mit dem Kennedy-Clan erschöpft sich in ein paar banalen Äußerlichkeiten: da gibt es einen cremefarbenen Chevy, mit dem James Dean alias Edgardo di Ravenswood vorfährt, ein kleines Mädchen mit Pistole, eine Menge dunkler Anzüge und Cocktailkleider (Kostüme: Julia Kornacka), ein paar Ampullen Theaterblut, ein paar verwackelte Videobilder und diverse Knarren, mit denen abendfüllend herumgefuchtelt wird, um den szenischen Leerlauf irgendwie zu verschleiern, so nach dem Motto „Ich und meine Magnum“… Einen irgendwie gearteten Mehrwert bringt das alles nicht. Wenigstens ist diese Produktion praktisch; das kriegt in Zukunft jeder einigermaßen routinierte Einspringer oder Gastsänger mit fünf Minuten Einweisung hin. Als Theaterereignis ist das natürlich viel zu dürftig, hier wurde die grandiose Chance auf eine echte Modellaufführung und Neuentdeckung des Werkes leider fulminant vergeben.