“St. Petersburg” – die neue CD von Cecilia Bartoli

Sagt Ihnen der Name Hermann Friedrich Raupach etwas? Nein? Und wie schaut es aus mit Francesco Domenico Araia oder Vincenzo Manfredini? Auch Fehlanzeige? Jetzt könnte man den Riemann aus dem Schrank holen oder die Suchmaschine seines Vertrauens anwerfen… Oder, noch besser, man legt sich einfach die neue CD von Cecilia Bartoli auf. Da werden Sie nämlich geholfen, um mal einen Klassiker der Reklameindustrie zu zitieren; denn natürlich handelt es sich bei den drei Herren um weitgehend unbekannte Barock-Komponisten. Diese und einige weitere Kollegen haben gemeinsam, dass sie sich zwischen 1730 und 1795 vom russischen Zarenhof haben anwerben lassen, zu der Zeit, als dort die kunstsinnigen Gospodinas Anna, Elisabeth und Katharina den Ton angaben und sich ein lebhaftes musikalisches Unterhaltungsprogramm leisteten, natürlich serviert von echten Maestri aus Italien, Deutschland und Frankreich. Großartig über die Wirkungsstätte St. Petersburg hinaus hat sich deren Fama eher nicht verbreitet und so versank ihre Musik langsam aber sicher in den Archiven.

Bartoli sp3

Allerdings konnte kein Komponist so tief dort versinken, als dass Cecilia Bartoli ihn nicht wieder zum Vorschein zaubern und auf Silberscheibe packen könnte. Denn die berühmte Mezzosopranistin und Salzburger Pfingstfestspiel-Leiterin ist zudem noch als Chefausgräberin musikalischer Trouvaillen aus Barock und Vorklassik tätig; 2012 landete sie mit der Wiederentdeckung des Händel-Zeitgenossen Agostino Steffani gar einen musikhistorischen wie künstlerischen Sensationsfund. Man durfte also gespannt sein wie Flitzebogen, was die Römerin nun aus den Tiefen und Untiefen der vormals zaristischen Haus- und Hofbibliotheken Petersburgs mitbringen würde, zu denen ihr Russlands Staatskünstler und musikalischer Lordsiegelbewahrer Valéry Gergiev freundlicherweise Zugang verschafft hat. Die Ausbeute besteht aus Werken der genannten Maestri sowie von Domenico Dall’Oglio, Luigi Madonis und Domenico Cimarosa, alle elf Nummern auf dieser CD sind, na klar, Weltersteinspielungen. Um es mal vorweg zu nehmen: ein vergleichbarer Kracher wie Steffani ist nicht darunter, bei aller Wertschätzung sei doch festgestellt, dass es offenbar eher die Kleinmeister waren, die dem Ruf in die Kälte Russlands gefolgt sind, signifikante klanglich-stilistische Unterschiede zwischen den einzelnen Komponisten herauszuhören, fällt mir auch bei wiederholtem Konsum des Albums schwer. Was natürlich nicht heißt, dass das keine gute Musik ist, aber verglichen mit den Barockgiganten wie Monteverdi, Händel oder auch Steffani, klingt das austauschbarer und konventioneller, die musikalischen wie die sprachlich-librettistischen Topoi sind eher barocker Mainstream.

Dass die CD dennoch ein Hit und ein grandioser Hörgenuss ist, liegt natürlich in erster Linie an Cecilia Bartoli selbst, der Zarin und Großmeisterin der alten Musik. Selbstverständlich erfüllt La Bartoli sämtliche Erwartungen ihres Publikums, wirft sich mit lodernder Begeisterung und Emphase in die Stücke hinein, brennt ein Feuerwerk an virtuosem Überschwang ab, dass es einem schwindelig werden kann und glänzt in bewährter Weise mit halsbrecherischen Koloraturen und Intervallsprüngen, Verzierungen und Trillern, vorgetragen auf ihre unverwechselbare Art. Zugleich ist sie aber auch die nahezu unerreichte Königin der Farben und Nuancen. Virtuos singen können in diesem Fach viele, schön singen auch und ein paar können tatsächlich beides gleichzeitig. Bartoli allerdings singt nicht nuzr virtuos und schön, sondern auch alles individuell. Da wird nichts pauschaliert oder maniriert, der Vortrag ist höchst artifiziell und künstlerisch, zugleich aber auch ungemein natürlich und wirkt beinahe spontan, wie gerade im Moment entstanden. Da klingt, auch in den Variationen und Wiederholungen, kein Takt wie der andere, subtil spielt die Künstlerin mit den Worten und Betonungen, unterlegt jede Phrase mit der entsprechenden Klangfarbe und verleiht der Musik so eine beeindruckende Sprachmächtigkeit. Da läßt sie die Blumen sprießen, die Bächlein murmeln, den Verliebten seufzen und die Sehnsucht fließen, dass es die pure Wonne ist und auch die formelhafteste Sprache plötzlich zu leben beginnt. Höhepunkt des Programms in dieser Hinsicht ist die Arie „Razverzi pyos gortani, laya“ aus Raupachs Siroe, Re di Persia; selbstredend auf Russisch gesungen! Wie Bartoli hier einen grimmig wütenden Hund imaginiert, ist eines der größten Kabinettstücke an stimmgestalterischer Charakterisierung, die man seit langem gehört hat. Aber auch für alle anderen Affekte, die im barocken Opernkosmos gemeinhin so vorkommen, findet sie immer genau den richtigen Ton, sei er schwelgerisch, kokett, melancholisch oder heroisch. Auch ohne Sprachkenntnis – bis auf zwei russische Stücke sind die Arien in italienischer Sprache – oder Textbuch teilen sich die Emotionen stets sinnfällig und eindringlich mit.

Wie schon bei Steffani assistiert auch diesmal Diego Fasolis mit seinem Ensemble I Barocchisti und sorgt für eine farbenreiche, temperamentvolle und dynamisch gut gestaffelte instrumentale Grundlage; besonders wichtig in der alten Musik, wo Solostimme und konzertierende Instrumente immer wieder in Dialog treten, musikalische Gedanken formulieren und weiterführen und ihre Affekte verschmelzen. Das ist hier wunderbar gelungen, die künstlerische Vertrautheit zwischen allen Beteiligten wird in jedem Takt spürbar und die Solisten fügen sich harmonisch in den Satz ein. In der letzten Nummer des Programms, „A noi vivi, donna eccelsa“ aus Carlo Magno von Vincenzo Manfredini, ist neben dem Coro della Radiotelevisione Svizzera auch Silvana Bazzoni mit einem Solo zu erleben; wie inzwischen die meisten wissen dürften, ist dies Bartolis Mutter und Lehrerin – die Musikwelt verneigt sich in Dankbarkeit!

Beinahe unnötig zu erwähnen, dass die CD auch diesmal ein aufwändig gestaltetes bibliophiles Prachtstück mit informativem und ausführlichem Beibuch und Bildmaterial geworden ist; einschließlich eines Frontcovers, auf dem Zaritsa Cecilia in weißem (Kunst)pelz-Outfit auf den Spuren Katherine Hepburns und Nathalie Woods wandelt… Anschaffen? Ja, was denn sonst?!

Gärtnerplatztheater: “Peter Grimes” – 23.10.2014

Des Meeres und der Psyche Wogen

München liegt bekanntlich eher weit entfernt von der Küste und auch die Fischer Vroni kommt nur einmal im Jahr, zur Wiesn, vorbei. Dennoch war die Einstimmung auf Benjamin Brittens Peter Grimes überzeugend, denn britischer als an diesem Donnerstag hätte sich das Wetter in der Landeshauptstadt kaum präsentieren können. Ob es daran lag, dass schon zur zweiten Vorstellung dieser ersten Neuinszenierung der Saison so wenige Münchner Opernbegeisterte den Weg ins Prinzregententheater gefunden hatten, wo das derzeit noch unbehauste Gärtnerplatztheater Brittens modernen Klassiker derzeit präsentiert? Oder liegt es vielleicht doch am Werk selbst, denn auch die damalige Inszenierung davon am Nationaltheater zwischen 1991 und 1998 war nicht gerade ein Kassenknüller gewesen, der Anheuerung so erstklassiger Skipper wie René Kollo, Philip Langridge oder Neil Shicoff zum Trotz. Dass sich das Haus nach den beiden Pausen weiter massiv leerte, war umso unverständlicher, auf die zweite hätte man wohl besser verzichten sollen.

Brittens Opern, der Peter Grimes macht da keine Ausnahme, sind eher sperrig, ohne die großen melodischen Kracher, ohne klare Identifikationsfiguren und nicht zuletzt durch die seltsame Verquickung von handfest realistischen Schauplätzen und Situationen mit mystischer Überhöhung auch ungemein schwierig zu inszenieren. Warum einem da die gerade fünf Tage zurückliegende Makropulos-Premiere an der Staatsoper einfiel? Dürfte wohl auf der Hand liegen. Allerdings, soviel sei gleich gesagt, hat man sich in diesem Fall am Gärtnerplatz ungleich besser und überzeugender aus der Affäre gezogen und eine insgesamt beeindruckende Demonstration vorgelegt.

Grimes2Ellen (Edith Haller) und Peter (Gerhard Siegel) sind außen vor – Foto: Thomas Dashuber

Regisseur Balázs Kovalik hat das Publikum und die Presse mit seiner Deutung offenbar kalt erwischt; zumindest die, die noch nie eine Inszenierung von ihm gesehen haben. Dass der Ungar kein maritimes Heimatmuseum auf die Bühne bringen würde, war eigentlich vorhersehbar, dementsprechend gibt es keine Fischerboote, Wellenbrecher oder windschiefe Häuschen, dem rauhen Naturalismus von Britten und seinem Librettisten Montagu Slater verweigert sich Kovalik total. Kann das gutgehen? Kann es schon, allerdings braucht der Regisseur dann eine wirklich tragfähige Idee, um diese Leerstellen sinnvoll und ästhetisch überzeugend zu füllen. Kovalik setzt ganz auf Psychologisierung und die im Stück ausgestellten Spannungsfelder und siedelt das Stück räumlich und zeitlich in einem nicht näher definierten Irgendwo an, vom ursprünglichen Setting bleiben nur noch einige wenige nautische Utensilien und Kleidungsstücke (Kostüme: Mari Benedek) sowie ein stilisiertes Segelboot aus Draht und Klarsichtfolie; beinahe schon etwas inkonsequent. Seinem Ruf als begnadeter Bilder-Erfinder wird Kovalik zweifellos gerecht, er taucht das Drama in eine Fülle wechselnder hochästhetischer, farbenfroher, beinahe psychadelischer und extrem artifizieller Bilder und Lichtstimmungen, meistens hart an der Kitschgrenze, zuweilen auch mal darüber hinaus; dass etwa am Schluß der tote Lehrbube auf(er)steht und Grimes an der Hand ins Boot und damit in die ewigen Fischgründe führt, hätte echt nicht sein müssen, da muss man schon ganz tief durchatmen. Hier hat der Lichtdesigner Michael Heidinger ganze Arbeit geleistet und variiert das Bühnenbild von Csaba Antal auf wirklich wundersame Art und Weise. Jenes Bühnenbild besteht im Wesentlichen aus zwei schwenk- und fahrbaren Metallbrücken links und rechts – Schwindelfreiheit gehört hier zum Jobprofil – sowie einem blaugestrichenen Container, der die Gebäude wie Pub oder Kirche darstellt und schließlich einem bühnenhohen und variabel schiebbaren Vorhang aus transparenter Folie, wie ein riesiger Duschvorhang, der je nach Beleuchtung Wasser, Wind oder Nebel imaginiert. Die Personenregie ist von einer gewissen Holzschnittartigkeit geprägt, hier wäre eine etwas detailiertere Ausarbeitung sicher denkbar gewesen, auch wenn die einzelnen Repräsentanten der Dorfgemeinschaft durchaus prägnant charakterisiert sind. Besonderes Augenmerk richtet Kovalik auf die Chorszenen, insbesondere die im zweiten und dritten Akt, in der sich der geballte Hass und die Hysterie der aufgehetzten Masse Bahn bricht: zunächst verwandelt sich die Dorfgemeinschaft zum Trommelschlag in wenigen Momenten in einen faschistischen Lynchmob in Schaftstiefeln, weißem Hemd und schwarzer Hasskappe, der im Takt den rechten Arm schwenkt bis kurz vor knapp… Ebenso beängstigend allerdings die Orgie des dritten Aktes, in der kollektiv Hemmungen und Oberbekleidung fallen, eine viehische Zurschaustellung von unterdrücktem Sex, Gewalt und animalischen Lüsten im Gewand einer Biedermannfantasie. Man kann das alles für übertrieben oder aufgesetzt halten, aber in diesen Szenen wird plötzlich etwas spürbar, was man zuvor vielleicht etwas vermisst hatte: eine knallharte Aussage, die nackte Wut des Regisseurs auf gesellschaftliche Borniertheit und Ausgrenzung. Indem er diese so als Zerrbilder inszeniert, macht Kovalik vielleicht auch seine eigene Erfahrung mit der Faschistenregierung seines Heimatlandes indirekt zum Thema. Trotz einiger kleinerer Übertreibungen oder Ungeschicklichkeiten – der Unfalltod des zweiten Lehrbuben etwa ist szenisch eher unbeholfen gelöst – ist das eine bildmächtige und durchaus originelle Inszenierung; das kann man so machen!

Grimes3Wehe, wenn sie losgelassen…! (Foto: Thomas Dashuber)

Vermutlich hätte zu dieser Regie ein etwas analytischeres, transparenteres Dirigat noch besser gepasst als die etwas romantisierende Lesart des jungen GMD Marco Comin. Das Gärtnerplatzorchester zeigte sich jedenfalls in bester Musizierlaune und nutzte die gegenüber dem Stammhaus deutlich verbesserten akustischen Möglichkeiten zur klanglichen Entfaltung; weich, nachgerade schwelgerisch, die Streicher, prägnant das Blech und mit irrlichterndem Witz die Holzbläser mit ihren zahlreichen karikierenden Effekten. Ein besonderes Lob auch für den spielfreudigen und musikalisch wie szenisch erfreulich präzisen Chor des Gärtnerplatztheaters in der Einstudierung von Jörn Hinnerk Andresen.

Gesungen wird, auch das Gärtnerplatztheater ist mittlerweile in dieser Hinsicht in der Jetztzeit angekommen, in der Originalsprache. Anders wäre das Stück auch kaum zu besetzen gewesen, zumindest nicht ansatzweise in dieser Qualität. So konnte mit Gerhard Siegel ein herausragender Sängerdarsteller für die Titelpartie gewonnen werden, der schon bei diesem Rollendebüt eine Vielzahl von Facetten zeigte und dem knorrigen Sonderling Profil gab. Optisch ist Siegel kein Seebär, mit Vollglatze und stiernackiger Präsenz erinnert sein Grimes eher an den unvergessenen Klaus Löwitsch, stimmlich nutzt er seine langjährige Wagner-Erfahrung zu einem stimmgewaltigen und doch differenzierten und immer vom Wort her gestalteten Vortrag. Die Momente schwärmerisch-emphatischer Visionen könnten im Idealfall vielleicht eine Spur weicher klingen und der Wahnsinn der Schlußszene etwas eindringlicher, aber das ist auf hohem Niveau gemeckert und wird sich mit zunehmender Rollenerfahrung sicher noch einstellen. Die am Ende noch anwesenden Zuschauer feierten Siegel zu Recht für eine famose Leistung.

Grimes1Gefeiert: Gerhard Siegel in der Titelrolle (Foto: Thomas Dashuber)

Fast noch einen Tick größere Akklamation erntete Edith Haller als Ellen Orford, die verwitwete Lehrerin und Objekt von Grimes‘ heimlicher Sehnsucht nach Liebe, Ehe und einer bürgerlichen Existenz. In der Dorfhierarchie ist diese Frau sozusagen eine Halbaußenseiterin; zwar unverzichtbar und nolens volens akzeptiert, aber immer noch suspekt. Das ambivalente Verhältnis zu Peter übersetzt sich in Hallers sparsam-eindringlichem Spiel jederzeit und auch gesanglich ist sie mit ihrem strahlkräftigen, etwas herb timbrierten und sich in der Höhe schön öffnenden Sopran eine erstklassige Besetzung. Den emeritierten Captain Balstrode gibt Ashley Holland als erratische, in sich ruhende Instanz, seine Erscheinung läßt allerdings eine etwas voluminösere Stimme erwarten. Unter den diversen kleineren Partien gibt es ein Wiedersehen mit bekannten und beliebten Mitgliedern des Gärtnerplatz-Ensembles wie Snejinka Avramova als Kneipenwirtin Auntie, Frances Lucey und Elaine Ortiz Arandes als ihre beiden Nichten, Ann-Katrin Naidu als ungewohnt jung und attraktiv besetzte Mrs. Sedley oder Holger Ohlmann als Ned Keene. Glänzend singt und agiert Juan Carlos Falcón als fanatischer Methodistenprediger Bob Boles, etwas dezenter István Kovács als Swallow und Stefan Thomas als Reverend Adams.

Eine absolut sehens- und hörenswerte Produktion, die definitiv mehr Interesse verdient hätte. Weitere Chancen gibt es noch am 27., 29., 31. Oktober und am 2. November.

Bayerische Staatsoper: “Več Makropulos” – 19.10.2014

Unverhofft kommt bekanntlich oft… eigentlich wollte ich diesen Artikel beginnen mit einer kurzen Eloge und Gratulation zum mehrfachen Titelgewinn der Bayerischen Staatsoper bei der diesjährigen Kritikerumfrage der „Opernwelt“ und dann elegant überleiten zur ersten Premiere der neuen Saison. Na gut, gratulieren kann man trotzdem, der BSO zur Auszeichnung Opernhaus des Jahres, dazu dem Staatsorchester als Orchester des Jahres, Kirill Petrenko als Dirigent des Jahres, Die Soldaten sind, unzweifelhaft,die Inszenierung des Jahres und Hanna-Elisabeth Müller die Nachwuchskünstlerin des Jahres. Ein kraftvolles Bravissimi tutti auch von dieser Stelle!

Mit der eleganten Überleitung freilich ist es so eine Sache, denn mit Premierenabenden wie diesem dürfte sich eine erfolgreiche Titelverteidigung eher schwierig gestalten. Die Skepsis, die einen bei Ansicht des Besetzungszettels beschleichen konnte, erwies sich am Ende des Tages leider als allzu berechtigt. Dabei ist Leoš Janáčeks Die Sache Makropulos ein faszinierendes Werk, ein abgefahrenes Fantasy-Drama um Zaubertränke, verschwundene Urkunden, vergangene Liebschaften und den Segen, bzw. den Fluch, ewigen Lebens. Elina Makropulos, Tochter eines kaiserlichen Hofalchemisten und in grauer Vorzeit vom Vater zum Versuchskaninchen für ein lebensverlängerndes Elixir mißbraucht, geistert nun als eine Art weiblicher fliegender Holländer durch die Weltgeschichte, ist zum Zeitpunkt der Opernhandlung schlappe 337 holde Lenze jung und wechselt, damit das nicht so auffällt, hin und wieder Name und Identität, bleiben tun nur die Initialen E.M., aktuell begegnet sie uns als gefeierte Opernsängerin Emilia Marty. Sowas nennt man dann wohl Lebenserfahrung… Dank jener kann sie, da den Vorfahren beider Kontrahenten persönlich wohlbekannt, einen seit Jahrzehnten schwelenden Erbschaftsstreit schlichten, ist aber selbst auf der Suche nach ebenjenem Geheimrezept, da die eigene verfluchte Existenz dringend einer neuen Dosis des wundersamen Mittels bedarf. Eine Handlung also, die sich geschickt von der Banalität hin zum hochphilosophischen Menschheitsdrama entwickelt und öffnet, bis hin zum großen Schlußmonolog, in dem Emilia Marty ihre Identität und Geschichte kundtut, sich der Unmöglichkeit ihres Seins bewußt wird und das Rezept an ihre junge Kollegin verschenkt, die es wohlweislich zerstört. Elina Makropulos alias undsoweiter geht hin in Frieden. Welch ein Opernstoff! Dramatisch, originell, geheimnisvoll. Ein echter Janáček eben, nicht umsonst gilt der kompositorische Sonderling aus Brno als besonders affin zu außergewöhnlichen Sujets und psychologisch komplexen Frauenfiguren.

DSM1Gesprächsbedarf mit Diva: Nadja Michael (Emilia Marty) mit den Herren v.l. Prus (John Lundgren), Gregor (Pavel Černoch) und Kolenáty (Gustáv Beláček ) . Foto: Wilfried Hösl

Das Problem ist, dass sich dieses Stück schwer realisieren läßt und alles andere als ein Selbstläufer ist. Hier ist wirklich erstklassiges Fachpersonal angesagt: ein Regisseur, der sich wirklich etwas einfallen lässt und die Geschichte psychologisch schlüssig zu erzählen versteht und zugleich den mystischen Überbau ernst nimmt, ein Dirigent, der Janáčeks speziellen Stil zwischen kammerspielhaftem Parlando und großer pathetischer Geste herausarbeitet und schließlich eine überragende Hauptdarstellerin mit entsprechender szenischer und vokaler Präsenz. All dieses war hier nicht gegeben, die Sache Makropulos stand in München daher auf verlorenem Posten. Ein Scheitern, das allerdings angesichts der früheren Arbeitsnachweise der Beteiligten durchaus vorhersehbar war…

Schon das viel zu schnell genommene und mit tranig-dickem Ton musizierte Vorspiel erwies sich als richtungsweisend und machte deutlich, dass dies kein großer Opernabend werden würde. Nicht zum ersten Mal widerlegt Tomáš Hanus am Pult das Klischee, ein Dirigent, der zufällig aus demselben Land – in diesem Fall sogar derselben Stadt – stammt wie der Komponist, müsse für dessen Musik ein besonderes Händchen haben. Das ist ohnehin Unsinn und war wohl selten falscher als an diesem Abend. Hanus taucht die Musik in einen wabernden, weichgespülten Einheitssound, ignoriert die dialogischen Pointierungen und ist in den dramatischen Momenten einfach nur laut und zwingt die Sänger zum Schreien; wirklich gute Dirigenten können eben auch ein Fortissimo erzeugen, das nicht nur knallt und in den Ohren wehtut. Wer das Glück hatte, das Stück 2011 bei den Salzburger Festspielen mit den Wiener Philharmonikern unter Esa-Pekka Salonen hören zu dürfen, wird die Musik streckenweise kaum wiedererkannt haben.

Ebenso unverständlich war auch das erneute Engagement von Árpád Schilling für die Regie; schließlich hat Schilling mit Verdis Rigoletto eine der schlechtesten und dilettantischsten Produktionen in der jüngeren Geschichte der BSO zu verantworten. Ganz so ein Debakel ist diese Več Makropulos nicht geworden, trägt aber auch nichts zum Verständnis, oder gar zur Deutung, der Geschichte bei. Wie aus dem Reklamheftchen inszeniert er brav, bieder und nichtssagend am Text entlang und verläßt sich auf seine Darsteller und das Bühnenbild von Márton Ágh. Dieses besteht aus zwei hohen Wänden, innen gekachelt und außen marmoriert, die einen nicht näher bestimmten, andeutungsweise dreieckigen Spielraum schaffen. Warum für die aseptisch grelle Beinahe-Einheitsbeleuchtung im Programm noch ein Lichtdesigner angegeben ist, erschließt sich ebensowenig wie der Sinn einer läppischen, angedeuteten Folterszene im Schlußmonolog und des sich am Ende herabsenkenden Gebirgspanoramas aus Papiermaché. Wollte Schilling hier, wenigstens zum Schluß, noch den Versuch machen, ein wenig Regie zu führen? Kapiert hat das vermutlich niemand, aber zwei Regieeinfälle waren wenigstens zwei mehr als in Rigoletto. Von den wirklich existenziellen Fragen und Emotionen des Stücks, der Vereinsamung, der Kälte, der Unfähigkeit zu kommunizieren etwa, erzählt die Inszenierung nichts, sie bleibt stets an der Oberfläche und bietet bestenfalls eine belanglose Bebilderung. Den einzigen deutenden Einfall hat Schilling am Schluß, wo Krista das Dokument nicht verbrennt, sondern es offenbar für eine ähnliche „Karriere“ zu nutzen gedenkt. Das ist viel zu wenig, zumal für ein Opernhaus des Jahres.

DSM2Bodenturnen auf weißem Flokkati: Emilia und Albert (Foto: Wilfried Hösl)

Womit wir bei der Besetzung, speziell jener der Hauptrolle, wären. Da muss ich eingestehen, nicht unvoreingenommen in die Vorstellung gegangen zu sein und vermutlich ist das einer Sängerin wie Nadja Michael gegenüber auch kaum möglich, zu sehr polarisiert sie von jeher das Publikum. Unter rein stimmlichen Gesichtspunkten habe ich sie schon wesentlich schlechter gehört, die vergleichsweise tiefe Tessitura kommt ihr entgegen und im Tschechischen fällt auch ihr berüchtigter S-Fehler nicht ganz so krass auf; bei ihr versteht man ohnehin nie ein Wort, und dann ist es auch egal, in welcher Sprache man das nicht tut. Erst in der letzten Viertelstunde baut sie vokal ab und verdirbt den Schlußmonolog mit den gewohnten scharf tremolierenden und schlecht fokussierten Höhen. Allerdings findet Michael auch darstellerisch den ganzen Abend keinen Zugriff auf den Charakter, trotz, oder gerade aufgrund, einer sehr extrovertierten Darstellung. Emilia Marty ist eine Verworfene, hat in über drei Jahrhunderten nichts Menschliches ausgelassen, sich schuldig gemacht, die Männer verführt und manipuliert wie sie es brauchte. Und doch hat sie Aura, Größe, Geheimnis. Die Ausstrahlung einer echten Diva und das Wesen einer Grenzgängerin zwischen den Welten. Michael dagegen spielt sie als blondes Popsternchen von der Stange, ordinär und überdreht, mit derselben aufgesetzten Pseudo-Intensität, mit der sie jeder Rolle zu Leibe rückt, ganz gleich, ob es jeweils passt oder nicht. Eine Karriere, die für mich persönlich, auch nach dieser Premiere, zu den größten Wunderlichkeiten des Musikbusiness zählt.

DSM3Alte Liebe rostet nicht: Reiner Goldberg als Hauk-Schendorf (links) – Foto: Wilfried Hösl

Die anderen Rollen bleiben werkgemäß eine reine supporting cast, individuelle Profilierungsmöglichkeiten hat der Komponist eher schwach dosiert. Am ehesten bieten sich solche noch für die beiden Prozessgegner Albert Gregor und Jaroslav Prus, beide der Wiedergängerin erotisch verfallen bis zur Selbstaufgabe. Prus gelingt es schließlich, die Primadonna mittels Erpressung – denn er ist im Besitz des Rezeptes – ins Bett zu kriegen; dass er dann nach vollzogenem Akt rumjammert, wie kalt und teilnahmslos die Begehrte realiter doch gewesen sei, wirft schon ein gewisses Licht auf diesen großbürgerlichen Wichtigtuer und Haustyrannen… John Lundgren verkörpert ihn stimmgewaltig, wenn auch mit etwas nasalem Timbre. Seinen juristisch wie erotisch unterlegenen Widersacher Gregor singt Pavel Černoch mit schlankem und höhensicherem, wenn auch nicht wirklich individuell timbrierten Tenor; mit einigem Geschick hat sich der Künstler mittlerweile einen Namen gemacht als Spezialist für etwas undankbare slawische Partien, die sonst kaum jemand singen möchte. Tara Erraught singt ausgesprochen schön und überzeugt als Krista in ihrer Mischung aus Ehrgeiz und Bewunderung für Emilia Marty, Gustáv Beláček singt einen kernigen Anwalt Kolenáty, während die beiden Tenöre Kevin Conners (Vitek) und Dean Power (Janek) eher im Hintergrund bleiben. Für einen kurzen Höhepunkt sorgt der Auftritt des debilen Ex-Liebhabers Hauk-Schendorf, eine der wenigen männlichen Kameo-Rollen der Operngeschichte. Reiner Goldberg spielt ihn völlig abgehoben und liebenswert vertrottelt, mit ungebrochener Bühnenpräsenz und noch immer erstaunlich strahlkräftigem Tenor.

Buh-Rufe blieben diesmal komplett aus, das Publikum bedachte alle Mitwirkenden, einschließlich Regieteam, mit durchschnittlichem Höflichkeitsapplaus. Im Sport gibt es den schönen Begriff „Streichergebnis“; darunter versteht man, dass der schlechteste Versuch eines Athleten im Wettkampf nicht in die Wertung einfließt. Was die Neuinszenierungen betrifft, hat die Bayerische Staatsoper ihr diesjähriges damit voraussichtlich eingefahren.

 

Staatsoper Berlin: “Tosca” – 12.10.2014

Und sie springt… nicht! Scarpias letzter Betrug ist enthüllt, der amante mausetot und das Hauptquartier in Aufruhr, die Oper auf der Zielgeraden zum blutigen Kehraus. Und sie springt nicht! Generationen von Opernfans sind sozialisiert worden mit dem finalen Sprung Toscas von der Engelsburg, bzw. von der Kulisse nach hinten unten, in die Tiefe. Einer der pathetischsten, aber auch heikelsten Momente der Opernliteratur, an kaum einer anderen Stelle ist der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen, zur unfreiwilligen Komik, so klein wie hier. In der Neuinszenierung der Berliner Staatsoper entfällt dieser Moment. Stattdessen schreitet Tosca mit weit ausgereckten Armen nach vorne, auf Orchester und Publikum zu, wird immer heller angeleuchtet, während die Kulisse zunehmend im Dunkel versinkt, bis hin zum letzten, gespannt wie die berühmte Bogensehne… „O Scarpia, avanti a Dio!“, ein letztes Aufleuchten, nochmal Cavaradossis Liebesthema aus dem Orchester und Blackout. Das wars. Wie toll ist das denn? Sekunden später schallen, auch noch in der dritten Vorstellung, laute Buhs durch den Saal. Die gelten, so darf man vermuten, nicht dem überraschenden Ende, sondern dem, was zuvor über die Bühne ging.

Denn mit dieser neuen Hauptstadt-Tosca ist kein Staat zu machen, besagter Nicht-Sprung ist der erste und letzte, der einzige wirklich starke Einfall. Dabei hatte das von der Papierform her durchaus verheißungsvoll angemutet, entsprechend groß die Enttäuschung. Angefangen mit der Inszenierung von Alvis Hermanis. Vor gerade mal gut drei Jahren und mit reichlich Theatererfahrung versehen, war der lettische Regisseur und Theaterleiter auch im Opernbereich richtig durchgestartet, hatte mit Zimmermanns Soldaten und Birtwistles Gawain in Salzburg für Furore gesorgt. Leider hat es den Anschein, als habe Hermanis seine Geistesblitze bereits gezündet und sein Regiepulver verschossen. Die Handlung von Tosca lässt er auf zwei räumlich getrennten Ebenen ablaufen, zum einen als relativ reduziertes, sparsam agiertes Spiel der Darsteller, zum anderen auf einer erhöht gebauten Leinwand (Bühne und Kostüme: Kristine Jurjane) in Form eines Comics; die Edelfedern vom Großfeuilleton benutzten natürlich lieber das vornehmere Wort graphic novels… Das klingt erstmal spannend, ist es aber nicht. Denn dafür hätte Hermanis durch die Aufspaltung einen wie auch immer gearteten Mehrwert kreiieren müssen, indem er zwei Geschichten, bzw. die eine Geschichte aus zwei verschiedenen Blickwinkeln, und damit zwei konträren Deutungen, erzählt oder das eigentliche Bühnengeschehen kommentiert, verfremdet oder überhöht. Nichts von dem findet statt. Die Bilder erzählen exakt dieselbe Handlung, eine reine Illustration und Verdoppelung; wenn wenigstens noch die Übertitel als Sprechblasen in die Zeichnungen integriert worden wären! So aber bringt das gar nichts, es nervt nur. Lediglich in zwei Momenten weichen beide Ebenen kurzzeitig etwas ab, nämlich bei „Vissi d’arte“ und am Schluß, wo man zur beschriebenen Finallösung als Comicbild Tosca in einer Blutlache auf dem Pflaster liegen sieht. Die Bilder sind zudem ebenso schlecht und grobkörnig gezeichnet, wie die Personenführung langweilig und nichtssagend ist. Letztere findet eigentlich kaum statt, die Sänger wirken phasenweise so unbeholfen und wenig eingespielt, als habe man sie zwei Stunden vor der Aufführung wahllos am Alexanderplatz eingesammelt und ins Kostüm gesteckt, jeder für sich und alle gegen einander. Diese Inszenierung ist eine Bankrotterklärung. Hauptsache, am Bayreuther Festspielhügel hat man sich die künftigen Dienste des Regisseurs bereits gesichert…

2MB_0831Mord & Totschlag mal zwei (Foto: Hermann & Clärchen Baus)

Aber auch die, auf dem Papier durchaus namhafte, Besetzung hinterließ einen wenig homogenen und in sich unstimmigen Eindruck. So gab Anja Kampe bei ihrem Rollendebüt die erwartet intensive und leidenschaftliche Tosca und wurde schon dank ihrer starken individuellen Präsenz zum Mittelpunkt des Abends. Obwohl sie seit Jahren praktisch ausschließlich im deutschen Fach unterwegs ist, verfügt Kampe über eine fundierte italienische Stimmschulung, was auch unüberhörbar war; Phrasierung, Artikulation und Gesangslinie sind jederzeit idiomatisch und klangvoll, dazu sang sie äußerst gut fokussiert und ohne Übertreibungen. Ein herausragendes Rollenporträt, das leider kaum Entsprechungen fand. Denn im Gegensatz zur Vollblutinterpretin Kampe gehört Fabio Sartori zu denjenigen Tenören, die primär mit ihren accuti verheiratet sind und die zwischen zwei spektakulären Phrasen am Stück selbst weder geistig noch emotional teilnehmen. Selbst ohne Hilfe eines Regisseurs sollte ein erfahrener Sänger eigentlich in der Lage sein, zumindest ein rudimentäres Grundrepertoire an Gesten und Körperhaltungen zu entwickeln und dieses adäquat einzusetzen… dann würde er sich vielleicht nicht im Verhör durch den gefürchteten Polizeichef saftlos an dessen Schreibtischkante lümmeln wie ein gelangweilter Pennäler vor den Ferien; und natürlich fehlte auch der Klassiker „Der überglückliche Tenor kurz vor seiner Hinrichtung“ nicht. Gesanglich lieferte Sartori das, was von einem Cavaradossi verlangt wird, mühelos ab, ohne dass seine Darbietung sich sonderlich eingeprägt hätte. Bitte: beide Künstler sind bekannt und seit Jahren feste Größen in der Branche; da darf man beim Castingdirektor schonmal nachfragen, wie man auf die Idee kommt, zwei Sänger von so diametral verschiedenem Temperament und künstlerischem Ethos zusammen zu besetzen?!

DSC_6041Pose der Diva: Anja Kampe als Tosca (Foto: Hermann & Clärchen Baus)

Gespannt durfte man auf das Rollendebüt von Michael Volle als Scarpia sein, schließlich kennen und schätzen wir ihn als ausstrahlungsstarken Bühnenmenschen, dessen Stimme sich zuletzt immer mehr ins dramatische Fahrwasser entwickelt, nicht umsonst wurde er kürzlich von der Fachjury der „Opernwelt“ zum „Sänger des Jahres“ gekürt. Nun ist Scarpia gestalterisch eine der schwierigsten Rollen des baritonalen Standardrepertoires, ein Charakter von so abgrundtiefer und menschenverachtender Schlechtigkeit und Brutalität, dass alles zu spät ist. Zynisch, neurotisch und pervers, dabei aber gesellschaftlich geschliffen und hochintelligent; librettistisch zusammengefasst in dem Begriff bigotto satiro. Das glaubwürdig und ohne Outrage zu gestalten, erfordert ein Höchstmaß an Persönlichkeit, Intelligenz und Erfahrung. Alles Qualitäten, über die Volle bekanntlich verfügt. Schlecht war sein Scarpia auch nicht, dennoch hätte ich mir noch mehr erwartet, die Rollengestaltung blieb insgesamt eine Nummer zu eindimensional und zu behäbig, statt des gnadenlosen Neurotikers agierte hier ein Bürokrat mit gelegentlichen cholerischen Anfällen. Auch stimmlich setzt Volle leider in erster Linie auf Kraftmeierei und lässt sich dadurch einiges an Möglichkeiten entgehen, in einem von mir aufgeschnappten Pausengespräch fiel sogar das häßliche Wort „Brüllbariton“. Was die Besetzung der kleineren Partien aus dem hauseigenen Ensemble betrifft, ist man als Gast aus der Landeshauptstadt halt durchaus verwöhnt, hier waren vor allem bei den beiden Bässen Tobias Schabel (Angelotti) und Jan Martiník (Sagrestano) erhebliche Abstriche zu machen, letzterer konnte sich schon dem Kinderchor gegenüber nur mit Mühe behaupten. Etwas besser schnitten Florian Hoffmann als Spoletta und Maximilian Krummen als Sciarrone ab, der Chor (Einstudierung Martin Wright) absolvierte seinen kurzen Auftritt angemessen.

DSC_5998Unheilige Gedanken: Michael Volle (Scarpia) – Foto: Hermann & Clärchen Baus

Die größte Enttäuschung des Abends aber war das Dirigat von Daniel Barenboim. Schwer zu glauben: bis dato hatte Barenboim in seiner gigantischen Karriere wirklich noch nie eine Puccini-Oper dirigiert, und ob Maestro Daniel und Maestro Giacomo wirklich Freunde werden, darf nach diesem Abend bezweifelt werden. Natürlich stellt die Partitur für Barenboim schlagtechnisch nicht wirklich eine Herausforderung dar, die entscheidenden Anforderungen bei Puccini liegen eher auf stilistischem Gebiet, in der Balance zwischen Effekt und Affekt. Hier kann jede Falschdosierung die Sache zum Absturz bringen, bei zuviel Schmackes und Sentiment landet man schnell im Kitsch, bei zuwenig in der Banalität. Es spricht durchaus für ihn, dass er bemüht ist, Schmalz und Effekthascherei zu vermeiden und die lyrisch-empfindsamen Seiten der Musik zu betonen, nur leider gerät er dabei zu oft ins andere Extrem und verliert vor lauter Detailarbeit den Blick für das Ganze, die Musik zerfranst und zerfällt zunehmend in niedliche Stückchen Kleinkunst. Was fehlt, ist die innere Dynamik der Musik, der „Drive“, die Farben der kompromisslosen Leidenschaft, die Dialektik von Eros und Thanatos. Warum ihm dies im Tristan oder in anderen Wagner-Opern so grandios gelingt und hier so gar nicht? Keine Ahnung. Man kann weder Barenboim noch seiner Staatskapelle den Vorwurf machen, Puccini nicht ernst genommen zu haben; vielleicht haben sie ihn im Gegenzug zu ernst genommen, zu sehr in Watte gepackt? Das Te Deum des ersten Aktes ist nunmal keine Motette von Schubert, hier klang es aber beinahe so. Es gibt sie gelegentlich schon, die „schönen Stellen“, die Momente schwelgerischen Klanges, aber wenn es drauf ankommt, bremst Barenboim wieder ab, nimmt zurückt, würgt den Motor ab. So tritt nicht nur die Inszenierung auf der Stelle, sondern auch die musikalische Realisierung.

Immerhin: man hat eine der faszinierendsten Sängerinnen der Gegenwart in einer tollen neuen Partie erlebt. Der Rest allerdings ist Themaverfehlung erster Ordnung.

 

Staatsoper Berlin: “Tristan und Isolde” – 11.10.2014

Seit den Zeiten E.T.A. Hoffmanns gilt ja Mozarts Don Giovanni als die „opera assoluta“, die Oper aller Opern… Ein Diktum, dem die Spezies der Hardcore-Wagnerianer – gibt es eigentlich auch andere? – mit aller Entschiedenheit widersprechen dürfte, um stattdessen den Tristan auf den Schild der „absoluten“ Oper zu erheben. Aber ist dieser überhaupt noch eine Oper im herkömmlichen Sinne? Vielleicht könnte man dieses affektgesättigte Hohelied der Nacht, der allesverzehrenden Leidenschaft und des Liebeleids ja künftig das „Dramma musicale asssoluto“, das absolute Musikdrama, nennen? Aber auch unabhängig von Ettiketten ist der Tristan eine der größten musikalischen Schöpfungen überhaupt; ein Bekenntniswerk, das sich einem konsumistischen Zugriff entzieht, allen Beteiligten Höchstes abverlangt und sie gleichzeitig mit fundamentalen Emotionen belohnt. Das sieht wohl auch Daniel Barenboim so, denn von allen Opern, die er im Repertoire hat – und das sind ja nicht wenige! – besitzt er für diese eine ganz besondere Affinität, die an jedem Tristan-Abend in jedem Takt spürbar wird. Als radikaler Emotional-Dirigent lässt sich Barenboim schonungslos und ohne Kompromisse auf die Vorgaben des Komponisten ein und taucht ganz tief hinein in die Welt der dunklen Seite der Liebe, der Weltennacht, des Urvergessens. Vielleicht dirigiert er das Werk heute eine Spur weniger vulkanisch als noch vor einigen Jahren, fächert den Orchestersatz stärker in die einzelnen Instrumentengruppen und –farben auf und wirkt, insbesondere im zweiten Akt, eine Spur kontrollierter, beinahe schon abgeklärter, als früher. Was nicht heißt, dass hier auf Sparflamme gekocht würde, im Gegenteil, die Musik ist vom einleitenden Tristan-Akkord bis in den Schlußgesang erotisch durchglüht und vibriert förmlich vor Leidenschaft, in den wahnhaft-visionären Monologen Tristans im dritten Akt rührt Barenboim flüssiges Erz an, ohne dass der Klang je wabernd oder triefend wird. Aber auch die leisen und intimen Momente gelingen mit aller schmerzlich-süßen Poesie, die man sich nur wünschen kann, das Erwachen aus der nächtlichen Extase klingt so schneidend, so desillusioniert traurig wie bei kaum einem anderen Dirigenten; dass hier der öde Tag zum letzten Mal anbricht, wird geradezu körperlich spürbar.

Tristan BerlinLiebesszene vor Engel – Foto: Monika Rittershaus

Solches umzusetzen benötigt man natürlich die entsprechenden Sänger; und hier konnte sich Barenboim auf seine erfahrene und hochrangige Besetzung absolut verlassen, mit einer Ausnahme waren nur Interpreten aus seinem inner circle aufgeboten, die jeden noch so kleinen Akzent, jede Tempoverschiebung und jede Farbnuance im Ansatz erkennen und mitgestalten. Das galt ganz besonders für die beiden Protagonisten Waltraud Meier und Peter Seiffert. Mißgünstige Menschen könnten natürlich ketzerisch anmerken, dass beide nicht mehr die frischsten Stimmen besitzen und ihr Vortrag von gewissen Brüchen, Schwankungen und Rissen nicht mehr gänzlich frei ist… Das mag in bestimmten Momenten auch so sein, doch was die beiden an Ausdruck und musikdramatischer Vergegenwärtigung aufrufen, fasziniert und läßt einen die viereinhalb Stunden auf der Stuhlkante zubringen. Dass Waltraud Meier als genuiner Mezzosopran sich mit Isoldes dramatischen Ausbrüchen und ihren aufpeitschenden Spitzentönen im ersten Akt nie leicht getan hat, ist nicht neu, dank ihrer Erfahrung und Technik versteht sie es aber meisterhaft, solche Punkte zu kaschieren und den Akzent auf die schwelgerische, immer noch sinnlich funkelnde Mittellage zu setzen. Hier punktet die Künstlerin mit gestalterischer Reife und Charisma, der Schlußgesang verströmte glutvolle Erotik und entrückte Selbstentäußerung gleichermaßen. Da erlebt man, was Musik mit einem machen kann. Aber auch Peter Seiffert demonstrierte, dem einen oder anderen Aussetzer zum Trotz, dass und warum er nach wie vor zu den Branchenführern im Heldenfach gehört: er brüllt und stemmt die Partie nicht, sondern singt mit vollmundigem, schön abgerundeten Ton und kultivierter Linie und verfügt über immense Kraftreserven für den strapaziösen dritten Akt, der für den bedauernswerten Tenor ja fast schon eine Oper innerhalb der Oper darstellt; eine vollkommen mühelose Interpretation würde angesichts der emotionalen Grenzerfahrung dieser Szenen vermutlich auch am Kern der Dinge vorbeigehen. Viel Routine bringt auch Ekaterina Gubanova mit, die sich in den letzten Jahren schon den Status einer Brangäne vom Dienst erworben hat. Leider merkt man ihr dies inzwischen auch etwas an, trotz einer gesanglich tadellosen Darbietung vermisste man etwas die Lebendigkeit und innige Zuneigung der treuen Gefährtin. Da wusste Tristan mit dem Kurwenal von Roman Trekel einen aktiveren und profilierteren Paladin hinter sich, der kultivierte und wortdeutliche Vortrag des Liedersängers kommt der Partie durchaus zugute. Ein Gewinn für den Abend war auch der optisch wie stimmlich respekteinflößende Stephen Milling als Marke, der seinen langen Monolog mit vielen Schattierungen und dynamisch sehr differenziert und bewegend gestaltete. Wenig zu sagen ist dagegen über die szenische Seite des Abends, denn die ist kaum noch vorhanden. Tosca stand erst am nächsten Abend auf dem Programm, aber der Engel ist offenbar schon einen Tag früher von der Burg gefallen und bildet nun, als leicht gedätschter geflügelter Torso das Bühnenbild von Hans Schavernoch, auf dem die Solisten herumstehen, -klettern, -rutschen und –stolpern. Da das Ganze ursprünglich mal von Harry Kupfer war, ist davon auszugehen, dass es auch mal einen Sinn gehabt hat, aber nix Genaues kann man nicht mehr wissen… Da wäre eine konzertante Aufführung eigentlich ehrlicher und eine baldige Neuinszenierung wünschenswert.

Theaterhaus Stuttgart: “Così fan tutte” – 5.10.2014

Regisseure, die ach so bösen und schauderhaft modernen, was haben die sich nicht schon alles einfallen lassen! Und jetzt schickt einer doch glatt Mozart in die Wüste, Così fan tutte goes Syria steht schwarz auf gelborange auf der Eintrittskarte… Oder was gibt das? Ganz so ist es natürlich nicht und der Hintergrund ein leider gar nicht lustiger. Es handelt sich nämlich, der aufmerksame Leser hat es längst erraten, um das von der Sängerin Cornelia Lanz und ihrem Verein Zuflucht Kultur e.V. veranstaltete integrative Opernprojekt unter Mitwirkung von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien, von dem hier vor kurzem im Interview bereits die Rede war (siehe Archiv 24. September 2014). Nun also hat für Initiatoren und Mitwirkende die Stunde der Wahrheit geschlagen, denn entscheidend ist bekanntlich immer aufm Platz, bzw. auf den Bühnenbrettern, das ist in der Welt der Kultur nicht grundsätzlich anders. Hier geht es aufs Ganze, hier muss es sich beweisen, kann es sich mit Leben füllen und einen großen Sieg feiern. An jenem konnte nach anregenden dreieinhalb Stunden denn auch kein Zweifel bestehen, das internationale und auch altersmäßig erfreulich gemischte Premierenpublikum im Stuttgarter Theaterhaus, einschließlich einer echten Landesministerin und mehrerer TV-Teams, zeigte sich begeistert.

Cosi4Erste Annäherung: v.l. Cornelia Lanz (Dorabella), Florian Götz (Guglielmo), Yongkeun Kim (Ferrando) und Anne Wieben (Fiordiligi) – Foto: Baden-Wpürttemberg Stiftung/Sebastian Marincolo 

Dabei war das Eis, auf das sich Lanz und ihre vielen Mitstreiter und Unterstützer hier begeben haben, bekanntermaßen ganz schön dünn, der Grat zwischen Integration und Zurschaustellung ist schmal und der Jahrmarkt des Betroffenheitskitsches gefährlich nahe. Wir kennen solche Dilemmata aus der Kunst zur Genüge, Barenboims West Estern Divan Orchestra ist eines der bekanntesten davon. Muss man ein Stück weit die gute Absicht für das Werk nehmen? Transportiert das eine das andere oder umgekehrt? Oder frägt sichs wirklich nach der Kunst allein? Kann die Synthese gelingen?

Die Antwort ist: Ja, sie kann. Bedenken oder Vorbehalte in die besagte Richtung, so sie denn bestanden haben, lösten sich bereits nach wenigen Minuten auf, denn diese Così ist nicht nur eine überzeugende humanitäre Aktion und politisches Statement, sondern auch eine Lektion in interkulturellem Austausch und nicht zuletzt eine packende Aufführung voller Witz, Esprit und berührender Innigkeit. Hier wirkt nichts aufgesetzt oder fühlt sich fragwürdig an, trotz der von den Flüchtlingen selbst gestalteten Einlagen ist es ein Abend aus einem Guss, die zwangsläufig vorhandenen Reibungsenergien geben dem Stück zusätzliche Kraft. Regisseur Bernd Schmitt siedelt die Handlung in einem Flüchtlingswohnheim an und schafft damit nicht nur einen Anknüpfungspunkt für die syrischen Mitwirkenden, sondern auch eine ebenso originelle wie sinnfällige Inszenierungsidee; schließlich entsteht die fatale Wette um die Treue der Frauen, so Schmitt im Interview, aus bodenloser Langeweile, wie sie in einem solchen Wohnheim nunmal dominiert… Dieses Konzept geht jederzeit überzeugend auf, die Geschichte wird weder verfälscht, noch grundlegend neu erzählt, erscheint durch das Ambiente – Thomas Pfaus Bühnenbild bildet Flur und Zimmer mit Stockbetten und –flecken liebevoll und detailrealistisch ab – und die hier herrschenden sozialen Kodizes aber in einem neuen Licht. Die beiden Paare sind Heiminsassen, Despina und Alfonso gehören zum Aufsichtspersonal, dementsprechend wählen die cavalieri als Verkleidung die Uniformen der deutschen Security, Bullenbärte und XXL-Sonnenbrillen inklusive. Die Fallhöhe der Geschichte wird dadurch sogar größer, schließlich geht es für die Flüchtlingsfrauen plötzlich auch um sozialen Aufstieg, Ehe und Aufenthaltsgenehmigung, bzw. die Illusion davon. Da ist es kaum überraschend, dass im interkulturellen Opernprojekt auch bilingual gesungen wird: das italienische Libretto steht für die syrische Sprache, die Arien und die Rezitative untereinander sind italienisch, während die Dialoge zwischen Alfonso und Despina und deren Ansprache ans Publikum auf deutsch gesungen werden, in einer leicht modernisierten und durchaus pfiffigen Übersetzung; statt „turchi“ und „valacchi“ ist da von Ostfriesen und Schweizern die Rede… Ein wirklich brillanter Einfall! Überhaupt verrät Schmitts Inszenierung den routinierten Bühnenprofi, der die Geschichte anschaulich und auf den Punkt erzählt, sich trotz großen Detailreichtums nicht verheddert und die Charaktere präzise herausarbeitet. Auch Zusammenspiel und Timing funktionieren, was umso bemerkenswerter ist, da alle sechs Protagonisten ihre Rollen zum ersten Mal szenisch verkörpern. Die Spielfreude und Natürlichkeit des Ensembles übertragen sich und reissen mit, hier wird in jedem Moment mit Herz, Verstand und Leidenschaft agiert. Dass die Komik, auch im Hinblick auf ein nicht unbedingt opernerfahrenes Publikum, etwas dicker aufgetragen wird und zuweilen die Grenze zum Klamauk touchiert wird, ist geschenkt, zumal die Sänger für ihre großen kontemplativen Arien stets den nötigen Freiraum finden. Einzig das Ende fällt vielleicht ein wenig ab: Schmitt lässt den Stückschluß und die Zukunft der Paare bewußt offen, die Geschichte könne hier noch nicht zuende sein… Kann man so sehen, aber ein etwas prägnanteres Schlußbild als das hier praktizierte an-einander-vorbei- Gehen, Anschauen und Rumschieben hätte man sich schon vorstellen können.

Und die Syrer? Von den 73 in Oggelsbeuren untergebrachten Flüchtlingen sind knapp dreißig aktiv an der Aufführung beteiligt. Neben kleineren Komparsenauftritten und viel Mitarbeit hinter den Kulissen gehört ihnen in zwei großen Momenten die Bühne: vier von ihnen eröffnen den Abend mit selbstverfassten Gedichten, deren Grundaffekte – Furcht, Trauer, Zuversicht und Zorn – sich auch ohne wortgetreue Übersetzung nachvollziehen lassen. Später, an der Stelle, wo normalerweise der Chorsatz „Bella vita militar“ steht, treten sie als Chor auf und singen, gemeinsam mit den Solisten der Oper, das syrische Friedenslied „Janna“, ein absoluter Gänsehautmoment, der Genregrenzen sprengt und Leben und Kunst vereint. Irritierend ist es allerdings, das sie als Kollektiv danach nicht mehr vorkommen; sind die Solisten jetzt plötzlich allein im Haus? Sicherlich gibt es proben- und dispositionstechnische Gründe dafür, aber seltsam ist es schon…

Die Besetzung erweist sich, unter diesen Voraussetzungen zumal, als Glücksfall, nicht nur hinsichtlich der Typisierung und szenischen Verve, sondern auch musikalisch; eine auf bemerkenswertem Niveau homogene Ensembleleistung, die durchaus auch in größerem Rahmen und in einer konventionellen Produktion überzeugen würde. Da fällt es beinahe schwer, jemanden herauszustellen, aber als Initiatorin, Organisatorin und treibende Kraft gebührt doch Cornelia Lanz dieses Privileg. Man mag sich gar nicht im Einzelnen ausmalen, welche Anstrengung allein mit der Organisation verbunden gewesen sein muss, und dann noch eine Hauptpartie zu übernehmen, ist schon eine Ansage. Lanz verfügt in reichem Maße über alles, was die Rolle der Dorabella erfordert: einen samtig glühenden, aber stets schlank und kultiviert geführten Mezzosopran von großer Geschmeidigkeit und Eleganz in allen Lagen, eine Vielzahl vokaler Schattierungen und nicht zuletzt eine lebendige szenische Präsenz. Sie ist von Beginn an auf weiblicher Seite die Antreiberin des Spiels und gestaltet viel mehr als nur eine Abfolge von Arien und Rezitativen, sondern das doppelbödige Drama einer radikalen Selbstfindung. Mit ihrem eindringlichen Spiel macht sie etwa Ferrandos zweite Arie fast zu einem Duett, wie sie den Wut- und Trauerausbruch ihres früheren Partners vom Lotterbett aus beobachtet, in einer Mischung aus Glücksgefühl, Unglauben, Scham und beinahe diabolischer Freude, das ist einfach ein ganz großer Theatermoment. Daneben läuft die ernsthaftere und standfestere Schwester Fiordiligi nicht selten Gefahr, etwas blass und arg seriös rüberzukommen, obwohl sie eigentlich eine durchaus vergleichbare Entwicklung durchmacht. Diese gestaltet Anne Wieben sehr differenziert, ganz famos gelingt ihr das latent komische Pathos ihrer beiden großen Solonummern, mit ihrem metallisch grundierten Sopran meistert sie die gefürchteten Höhen der „Come scoglio“-Arie problemlos, ihr stehen aber auch die gedämpfteren Farben zu Gebote. Die Despina von Julia Chalfin ist ein echter Hingucker, ein Temperamentsbündel von unwiderstehlich frechem, proletarisch-bodenständigem Charme. Mit überschäumender Selbstironie serviert sie sämtliche Kammerkätzchen-Klischees, welche die Rolle hergibt, ohne ihnen wirklich auf den Leim zu gehen und lässt es richtig krachen. Auch stimmlich setzt sie sich angenehm von den oft anzutreffenden soubrettig-dünnen Vertreterinnen ab und gibt der Partie Gewicht.

Cosi2Jagdszenen in der Unterkunft – Foto: Baden-Württemberg Stiftung/ Sebastian Marincolo

Darstellerisch sind die beiden Herren Florian Götz (Guglielmo) und Yongkeun Kim (Ferrando) ein ebenso profiliertes Duo wie ihre Geliebten, die Charakterunterschiede zwischen dem handfest-narzistischen Lebemann Guglielmo und dem schwärmerischen Feingeist Ferrando übersetzen sich auf Anhieb, Kims sehnsuchtsvoller Vortrag von „Un’aura amorosa“ gehört zu den musikalischen Höhepunkten des Abends. Leider neigten beide im weiteren Verlauf gelegentlich dazu, die Lautstärke etwas zu übertreiben, wohl um die wachsende Verzweiflung der beiden Bilderbuch- Machos vor dem drohenden Verlust von Wette und Ehre auszudrücken. Der kühle Rationalist Don Alfonso, auf dessen Mist die ganze Schnapsidee gewachsen ist, ist sicherlich die gesanglich undankbarste Figur im Così-Kosmos, die keine der berühmten Arien abbekommen hat. Franz Xaver Schlecht spielt ihn denn auch nicht als alten Zyniker, sondern eher als übermütigen Macho, der es den naiven Kumpeln mit ihrem traditionellen Frauenbild mal so richtig zeigen will; mit markantem Bass-Bariton gibt er dessen Predigten Gewicht und macht deutlich, dass Süffisanz und Desillusionierung keine Frage des Alters, sondern der Wesensart sind.

Cosi3Das Ensemble, v.l.n.r.: C.Lanz, Y.Kim, A.Wieben, F.Götz, F.X.Schlecht, J.Chalfin (Foto: Baden-Württemberg Stiftung/ Sebastian Marincolo)

Passend zu Konzept und Sängerbesetzung huldigt auch Dirigent Garrett Keast einem modernen, auf Agogik und Transparenz setzenden, Mozart-Stil. Das aus Musikern des Kurpfälzischen Kammerorchesters Mannheim und der Stuttgarter Symphoniker gebildete Orchester folgt mit warmem und flexiblem Klang und ist den Sängern ein stets aufmerksamer Partner.

Cosi1Schlußapplaus mit Botschaft – Foto: Baden-Württemberg Stiftung/ Sebastian Marincolo

Die kommenden Aufführungen finden am 31. Oktober in der Stadthalle Biberach, am 2. November im Carl Orff-Saal-Saal im Münchner Gasteig, am 4. November im Theater Rüsselsheim, am 27. Dezember in der Stadthalle Balingen sowie am 28. Dezember im Roxy in Ulm statt.

Eine Besuchsempfehlung ist hiermit lautstark ausgesprochen!

“Stella di Napoli” – das neue Programm von Joyce di Donato auf CD und im Konzert

Die mit der Goldkante

Wow! – Diese CD mit ihrem Artwork ist eigentlich viel zu edel, um zwischen den billigen Pressholzbohlen eines Billy-Regals ihr Dasein zu fristen; da wäre doch eher die Anschaffung einer kleinen Zimmervitrine nebst Samtkissen zu dero Aufbewahrung angebracht… Denn die Firma Erato, inzwischen längst eine Nebenstelle des Warner Konzerns, hat der noblen Schwarz-Weiß-Optik der neuesten Einspielung ihres Vokal-Stars auch noch eine dezente Goldkante verpasst: Gülden schimmern Logo und Name, gülden aber auch die beeindruckende Helmbusch-Frisur der Sängerin und natürlich die Vorderseite der Scheibe selbst. cd-cover-joyce-didonato-stella-di-napoli-100~_v-image512_-6a0b0d9618fb94fd9ee05a84a1099a13ec9d3321 Aber nicht nur die Verpackung hat eine Goldkante, sondern auch der musikalische Inhalt. Oder sollte man besser sagen: einen Goldkern? Kostbar ist es auf jeden Fall, was die Künstlerin hier zu Gehör bringt. Schon als ich Joyce di Donato 2002 erstmals auf der Bühne erlebte, als Einspringerin Le nozze di Figaro im Münchner Nationaltheater, hatte sie ein überaus schönes, samtweiches Mezzo-Timbre zu bieten gehabt. Seitdem hat die Stimme an Farben und Akzenten, aber auch an Ausdruck und Präsenz erheblich hinzugewonnen, so dass sie heute längst in der ersten Liga ihres Stimmfaches angekommen und etabliert ist; als eine jener Sängerinnen, bei denen jedes neue Album und jedes Rollendebüt mit Hochspannung erwartet werden. Das galt ganz besonders für das neue, auf der CD Stella di Napoli widmet sich die Künstlerin der – na eben!- goldenen Epoche des neapolitanischen Belcanto im ersten Drittel de Ottocento. In ihren persönlichen Geleitworten im Booklet vergleicht di Donato die Atmoshäre Neapels mit seinen Opernhäusern, Salons, Soireen, Galas, aber auch Konservatorien und Musikakademien mit dem Paris der 1920er und dem New York der 1960er Jahre; eine vor Kreativität, Lebensfreude und Entdeckerlust vibrierende künstlerische Metropole. Aus dieser Schatzkammer hat sie zehn Titel ausgewählt, darunter Bewährtes wie Donizettis Maria Stuarda oder Bellinis I Capuleti, aber auch eine ganze Reihe von absoluten Raritäten. Dass Opern wie Saffo von Giovanni Pacini oder Le nozze di Lammermoor von Michele Caraffa existieren, hat man schon wo gelesen; aber wer konnte bislang schon von sich behaupten, jemals Musik daraus gehört zu haben? Voilà! Vermutlich muss man nicht alle diese Werke zur Gänze besitzen, aber in dieser komprimierten und großartig gesungenen Form lohnt die Entdeckung allemal und di Donato präsentiert diese Klangjuwelen mit einem innerlich leuchtenden, sinnlichen, virtuosen und hochmusikalischem Vortrag, unüberhörbarer Freude und breitem Ausdrucksspektrum. Bemerkenswert sind nicht nur Gesangskultur und die pure Schönheit des Tons, sondern vor allem die Sprachmächtigkeit ihres Singens, in keinem Moment hat man das Gefühl, einer reinen Bravournummer oder vokalen Schauturnerei zu lauschen, die Balance zwischen Effekt und Affekt bleibt stets sicher und definiert. So kommen auch die vielen erstaunlichen Details der Kompositionen zur Geltung, etwa die fast kichernden Koloraturketten in Pacinis Stella di Napoli oder die komplexen harmonischen Rückungen und das feine Klarinettensolo in der erwähnten Arie von Caraffa, ohnehin musikalisch eine der interessantesten Nummern. Nicht nur in den Soli, sondern auch im Gesamtklang liefert das Orchestre de l’Opéra National de Lyon unter dem temperamentvollen Dirigat von Riccardo Minasi weit mehr als nur simple Begleitfunktion; ein leichtes und durchhörbares, aber doch körperhaftes Orchesterspiel von großer Frische und dem nötigen Biss. Donato KonzertJoyce di Donato und Riccardo Minasi in der Essener Philharmonie (Foto: Sven Lorenz) Nun ist es ja auch bei Klassikstars inzwischen üblich, eine neue CD auf einer entsprechenden Konzerttournee vorzustellen und zu promoten. Zum Abschluß dieser Tour gastierte Joyce di Donato am 29. September in der Essener Philharmonie und hinterließ auch live einen glänzenden Eindruck; ja, einen beinahe noch besseren, da zur gesanglichen Bravour zusätzlich das Live-Erlebnis und die mitreißende persönliche Ausstrahlung kamen. Entgegen der heute gängigen Praxis kam sie mit Riccardo Minasi und seiner Truppe aus Lyon in den Ruhrpott, anstatt auf irgendeine slowenische oder rumänische Billig-Combo zurückzugreifen und die Kunstfreunde aus Frankreich ließen auch richtig die Puppen tanzen, angefeuert von Riccardo Minasi, der mit vollem Einsatz bei der Sache war, lediglich die zur Füllung des Programms eingeschobenen Ouvertüren und Ballettmusiken nahm er etwas sehr al fresco. Mit sieben von zehn Arien von der CD hatte sich auch di Donato einen durchaus zünftigen Arbeitstag verordnet, dazu kamen, nach einer längeren und sehr charmanten Ansprache ans Publikum, zwei weitere Rossini-Knaller, „Tanti affetti“ aus La donna del lago und „Quant’è grato all’alma mia“ aus Elisabetta, regina d’Inghilterra. Damit brachte sie dann endgültig das Haus hernieder, nicht nur die zahlende Kundschaft bejubelte einen wunderbaren Belcanto-Abend, auch die Geldigen vom Hauptsponsor in den ersten zehn Reihen tillten richtig aus.

Aaltotheater Essen: “Jenufa” – 28.9.2014

Janáček aus der Mikrowelle

Auf den ersten Blick halten sich die Gemeinsamkeiten zwischen dem kanadischen Theatermeister Robert Carsen und dem bayerischen Gemütsmenschen Alfons Schuhbeck und seinen Fernsehkochkollegen eher in Grenzen. Und doch arbeiten beide heute leider nach einem durchaus vergleichbaren Geschäftsprinzip: dem der künstlichen Omnipräsenz und Mehrfachverwurstung ihrer Ideen und ihres einstmals guten Namens. Jeder Supermarkt und jedes ICE-Bord“restaurant“ haben reihenweise fades Conveniance-Zeug im Angebot, dessen Rezeptur angeblich oder tatsächlich von der Hauben & Sternen-Fraktion stammt und die dem Urheber die Taschen füllen. Und auch Carsen scheint inzwischen gut davon zu leben, die ständig gleichen Inszenierungen, einmal erarbeitet und auf die Bühne gebracht, auf Tour zu schicken, weiter und weiter zu verkaufen, von einer Bühne zur nächsten, wo sie dann von mitreisendem Personal nochmal aufgewärmt und serviert wird; die Opernproduktion als Fertiggericht, Arien aus der Mikrowelle.  Inwieweit eine solche Praxis dem künstlerischen Renommée des Regisseurs und seinem Status als international gefragter Premium-Künstler wirklich zuträglich ist, darf zumindest mal nachgefragt werden.

Nun ist also auch das Essener Aalto-Theater in den “Genuß” einer solchen Inszenierungskonserve gekommen und hat zum Ende der vergangenen Spielzeit eine bereits 19 (!) Jahre alte und entsprechend weit gereiste Jenufa nochmal als NEUinszenierung verkauft… Dabei haben auch Inszenierungen ein Verfallsdatum und wo Robert Carsen drauf steht, muss deshalb nicht zwingenderweise welcher drin sein, jedenfalls nicht in relevanter Dosierung. Stattdessen erlebt man einen Abend voller szenischer Hilflosigkeit und Langeweile. Denn wirklich beurteilen lässt sich Carsens Arbeit und Interpretation naturgemäß nicht mehr, erst in der letzten halben Stunde ahnt man, was das alles ursprünglich vielleicht mal gesollt haben könnte. Ausstatter Patrick Kinmonth hat ein minimalistisches Einheitsbühnenbild aus einer erdig-braunen schräggestellten Spielfläche und ca. drei Dutzend verschiebbaren Türblättern und Fensterelementen entworfen und darin die unbedingt notwendigsten Versatzstücke wie Bett, Stuhl und Kartoffeleimer drappiert. Fürs Auge ist also schonmal nichts geboten. Das wäre im Prinzip auch nicht tragisch, wenn die sich bietenden Frei-Räume durch sinnstiftende Personenführung und intensives Spiel der Darsteller ausgefüllt würden. Doch gerade in diesem Punkt führt sich diese Art der Wiederaufbereitung ad absurdum, ganz offensichtlich wußte hier niemand mehr, wie das Ganze mal gedacht war. Den größten Teil des ersten Aktes hat derjenige, der gerade singt, einen Türpfosten oder einen Fensterladen vorm Gesicht und auch nachdem der Baumarkt endlich abgeräumt ist, bleibt der Durchblick aus. Die Solisten sind völlig allein gelassen und bieten kaum mehr als routinierte Verlegenheitsgestik, der Chor (Einstudierung: Alexander Eberle) schaltet von Stillstand nahtlos zu unmotiviertem Herumnhopsen und vice versa; wenn man weiß, was die Damen und Herren des Essener Opernchores darstellerisch drauf haben, sind sie hier schon weit unter Wert verkauft worden, immerhin ist musikalisch auch diesmal wieder absolut Verlass auf die Truppe. Von den Seelenzuständen, den Nöten und knallharten gesellschaftlichen Zwängen, die in diesem Stück verhandelt werden, bleibt kaum etwas übrig und der Schluß… Ich verwende das Wort wirklich ungern, aber das ist schlicht Kitsch. Billiger, esoterischer Kitsch. Die Sprinkleranlage dreht auf, Jenufa und Laca rennen vor goldgelb erleuchtetem Nirvana entrückt lächelnd durch den Regen und machen die Windmühle – Scientology lässt grüßen- Da bleibt einem doch noch die Luft weg. Nur anders als erhofft.

6540_7958_Jenufa_HP1_47_StoessBettinaMenschen hinter Türen – Foto: Bettina Stoess

Die Sänger bemühten sich, unter diesen Voraussetzungen etwas von ihren Charakteren zu realisieren, taten sich allerdings verständlicherweise schwer. Am besten gelang das dem Routinier Jeffrey Dowd als Laca. Dowd ist ja beinahe so etwas wie das Urgestein des Hauses, gehört seit 1994 dem Ensemble an und hat schon nahezu alles gesungen, von Pollione bis Pinkerton über Lady Macbeth von Mzensk, bis hin zu Trovatore und Tristan. Dank Erfahrung und genuiner Bühnenpräsenz schafft er auch hier ein eindringliches Porträt des neurotisch-zwanghaften, schlußendlich aber doch treuen Verehrers; bei dieser schwierigen Partie keine geringe Leistung. Auch stimmlich zeigt sich Dowd noch immer bemerkenswert strahlend und unverbraucht. Noch am Beginn einer hoffentlich ähnlich langlebigen Karriere steht Sandra Janušaitė. Ihre Jenufa nimmt durch ihre natürliche und warmherzige Ausstrahlung ebenso für sich ein wie durch den weichen, dunklen Schmelz ihres lyrischen Soprans. Dass ihre Interpretation noch nicht so in die Tiefe geht, ist ihr nicht vorzuwwerfen, da wird sie mit zunehmender Bühnenerfahrung sicherlich an Profil hinzugewinnen; auf jeden Fall eine Sängerin, deren Entwicklung zu verfolgen sich lohnen dürfte! Ihren ursprünglichen Bräutigam und Dorf-Casanova Stewa gab es diesmal gleich doppelt: der als unpäßlich angesagte Alexey Sayapin agierte stumm und wurde von Yves Saelent stimmlich gedoubelt, offenbar extrem kurzfristig… nachdem der Name bei der Ansage vorm Vorhang konsequent vernuschelt wurde, gelang es in der Pause nach längerer Fahndung, ein Zettelchen mit der korrekten Schreibweise aufzutreiben, so dass der Kunstfreund hiermit für seinen couragierten und musikalisch überzeugenden Einsatz gewürdigt werden kann… Ein großes Stück Maskenbildnerkunst hatte Marie-Helen Joël in die alte Burya verwandelt, während Almas Svilpa (Altgesell), Karin Strobos (Karolka), Christina Clark (Jano), Baurzhan Anderzhanov (Dorfrichter), Marion Thienel (Richtersfrau) und Uta Schwarzkopf (Barena) weitgehend naturbelassen auftraten und eine solide, geschlossene Ensembleleistung ablieferten. Leider gibt es in dieser Oper allerdings noch die zentrale Partie der Kostelnička Burya, der Küsterin. Und mit einer starken Besetzung dieser Monster-Partie steht und fällt nunmal jede Jenufa-Aufführung. Diese fiel. Und sie fiel tief und hart, denn was Susan MacLean bot, war geradezu bemitleidenswert und stimmte ratlos. Seit meiner letzten Live-Begegnung mit ihr sind gerade mal gute zwei Jahre vergangen, auf eine solche stimmliche Resteverwaltung war ich nicht gefasst. Da ist keine Höhe und keine Tiefe mehr und auch die Mittellage zeigt Auflösungserscheinungen, jeder Spitzenton wird zum unkontrollierten Schrei und die zerbröselnden Phrasen machen natürlich jegliche Autorität der Figur zunichte. Diese findet somit nicht statt, auch darstellerisch bleibt MacLean vollkommen unglaubwürdig. Da ereignete sich ein Trauerspiel; nur leider nicht das von Janáček und Gabriele Preissová.

6556_7990_Jenufa_HP2_141_StoessBettinaSinging in the rain: Jeffrey Dowd (Laca) und Sandra Janušaitė (Jenufa) – Foto: Bettina Stoess

Auch orchestral fand das Drama um Treue, Unterdrückung, Kindsmord und die zerstörerische Macht der Dorfgemeinschaft in eher abgeschwächter Form statt. Der musikalische Hausherr Tomáš Netopil setzte mit den Essener Philharmonikern auf einen vollmundig-erdigen, von den Streichern dominierten Mischklang, mithin eine eher ungebrochen romantische Lesart der Partitur. Bei Smetana oder Dvořák wäre dies das Gegebene gewesen, der Musik Janáčeks mit ihrer schroffen, kantigen Modernität wird diese Interpretation nur teilweise gerecht, das wirkte einfach zu sehr geglättet und ebenso unverbindlich wie man es leider von der gesamten Aufführung sagen muss. Da steckt doch wesentlich mehr drin in diesem Stück, als man hier erleben durfte!

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf: “Ariadne auf Naxos” – 27.9.2014

Die erste Überraschung dieses Premierenabends hielt schon der Besetzungszettel bereit: “Ariadne auf Naxos – Große Oper in zwei Aufzügen von Emanuel Schikaneder” stand da schwarz auf weiß… Ey hömma, stimmtdochganich, is doch vom Hofmannsthal! Was war denn da los, ein Schreibfehler? Restalkohol? Ein Akt geheimdienstlicher Desinformation? Oder womöglich ein Regieeinfall? Schließlich handelte es sich ja um eine Dietrich Hilsdorf-Inszenierung und da kann man nie wissen…

Gespielt wurde dann natürlich schon die Oper nebst einem Vorspiel von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Und zwar als Klassiker zum Wiedererkennen! Auch das war ja bei Dietrich W. Hilsdorf früher nicht selbstverständlich, wir Älteren im Publikum erinnern uns mit Freude an veritable Saalschlachten und genialisch-aufsässige Neudeutungen, mit denen Hilsdorf in den 80er und 90er Jahren die Opernszene aufgemischt hat. Doch auch der alte Theater-Rebell und Regie-Krawallo Hilsdorf ist müde geworden, regelrecht abgeklärt, wirklich auf den Nerv bohren tun seine Regiearbeiten schon seit Jahren nicht mehr. Das ist bei dieser Ariadne nicht anders; was nicht heißt, dass die Inszenierung langweilig oder misslungen wäre. Denn auch das ist Hilsdorf immer gewesen und ist es bis heute: ein kluger, hochprofessioneller und unglaublich genau arbeitender Theatermann und Geschichtenerzähler. Zusammen mit seinem bewährten Team, dem Bühnenbildner Dieter Richter und der Kostümdesignerin Renate Schmitzer, ist Hilsdorf hier ein szenisch virtuoser, amüsanter und mit leichter Hand hingezauberter Theaterabend gelungen. Gerade bei diesem stilistisch eigentümlichen und dramaturgisch verschachtelten Stück ist das eine Leistung! Das gilt insbesondere für den ersten Teil, das turbulente Vorspiel auf dem Theater. Hilsdorf inszeniert das sehr virtuos als liebevoll-burleske Theatersatire in mitreißendem Tempo und angereichert mit einer Fülle von Details. Das Orchester sitzt mitten auf der Bühne, der Saal ist hell erleuchtet und es wird bei Einlass munter geprobt, das Personal des Stückes kommt aus allen Ecken von Bühne und Zuschauerraum und verbreitet authentisch hektische Theateratmosphäre; die ominöse “Vierte Wand” wird nicht nur aufgeweicht, sondern mit dem Hammer eingeschlagen, der ganze Raum ist Bühne. Und zwar die beiden Bühnen der Deutschen Oper am Rhein, das Bühnenbild kombiniert geschickt die Einrichtungen der beiden Partnerhäuser Düsseldorf und Duisburg, ergänzt mit Paravents, Kantinenmöbeln, Versatzstücken und Plunder. Im Hintergrund ist als gefilmtes Live-Bild der Zuschauerraum in Echtzeit zu sehen; also nicht in der Nase bohren, liebe Opernfreunde, das kriegt heute jeder mit! Der Anfang der Vorstellung entwickelt sich aus dem ganzen Gewusel, wenn das Orchester irgendwann ernst macht, nach ein paar Minuten hat es dann jeder mitgekriegt… Natürlich hat das Chaos Methode, ist präzise und mit Liebe zum Detail organisiert und inszeniert; herrlich etwa wie sich der wuchtige Haushofmeister für jeden seiner Auftritte zweimal durch die vollbesetzte sechste Parkettreihe wurschtelt um von dort seine Gehässigkeiten abzufeuern, und auch die Rastafari-Perücke, die dem Tenor offeriert wird, ist ein Hingucker. Soweit alles glanzvoll gelungen und eine großartige Umsetzung! Dass sich die Begeisterung am Ende des Tages dann etwas verflüchtigt und es nicht zu einem Platz unter den großen Ariadne-Inszenierungen der jüngeren Vergangenheit reicht, liegt am zweiten Teil, der eigentlichen Oper. Denn das ist die entscheidende Frage für jeden Regisseur: wie hält man es mit dem Verhältnis der beiden Handlungen, wieweit verschmelzt oder separiert man diese? Man kann, wie es etwa Robert Carsen in seiner grandiosen Version in München und Berlin gemacht hat, die Handlung der Oper als autonomes Theaterereignis inszenieren und szenisch noch einen draufsetzen, oder aber man verzahnt beide Handlungen, lässt sie konsequent simultan ablaufen und einander kommentieren; ein Ansatz, den etwa Michael Sturminger 2012 am Essener Aaltotheater beeindruckend umgesetzt hat. Hilsdorf dagegen wirkt hier zu indifferent, strebt zwar prinzipiell letztere Option an, bleibt aber in Ansätzen stecken. Die Oper ist hier nur die reduzierte Weiterführung des Vorspiels, die Handlung um Ariadne und Bacchus wie die Einlagen der Komödiantentruppe läuft halt so durch, die Personen des Vorspiels scheinen sich mit der eigentlich unmöglichen Lösung des Konfliktes arrangiert zu haben, wer gerade singt, wirkt häufig im Stich gelassen. Das wirkt, je länger der Abend dauert, immer beliebiger und konventioneller. Keine Frage: das ist eine gut gemachte und teilweise originelle Inszenierung und wird als solche hoffentlich auch im Repertoirebetrieb ihr Publikum finden. Der große Wurf, das außergewöhnliche Konzept, die radikale Deutung der Fabel und der Struktur ist es leider nicht geworden. Es gab mal Zeiten, da hätte sich Hilsdorf damit nicht begnügt, aber siehe oben.

Ariadne2 Skeptischer Blick auf die Welt: Maria Kataeva (Komponist) – Foto: Hans Jörg Michel

Eine Ausnahmestellung innerhalb von Strauss’ Musiktheater nimmt die Ariadne aber nicht nur dramaturgisch, sondern auch musikalisch ein. Da ist nicht nur das fröhliche, fast anarchische Nebeneinander der großen tragischen Geste und des virtuosen Frohsinns, sondern auch die mit nur 36 Musikern ungewohnt komprimierte Orchesterbesetzung; ein Hinweis, dass der Komponist hier eher an kammermusikalische Transparenz dachte als an die übliche instrumentale Überwältigungsstrategie. Dennoch gibt es sie auch in Ariadne, die großbogigen Steigerungen und schwelgerischen Klangbäder, hier die Balance zu finden, ist für den Dirigenten schon eine Prüfung. GMD Axel Kober neigt bekanntlich durchaus zu klanglicher und dynamischer Überdosierung zu Lasten der Sänger, so gesehen erwies sich die kleine Besetzung als segensreich. Das Vorspiel nahm Kober mit viel Schwung, Witz und musikantischer Frische und machte die quirlige Bühnenatmosphäre musikalisch hörbar. Leider verfiel er im zweiten Teil wieder in seinen Schlepp- & Dehnmodus und walzte die Ariadne-Monologe und das Schlußduett in epische Breite aus, jene “gefährlichen Längen”, die der Tanzmeister eingangs so schön süffisant diagnostiziert hat, fanden tatsächlich statt.

Ariadne3Ariadne (Karine Babajanyan) mit gleichnamigem Faden – Foto: Hans Jörg Michel

Sängerisch ist die Ariadne, mehr noch als die meisten Strauss-Opern ein Ensemblestück und damit an einem Theater wie der Rheinoper, das traditionell stark dem Ensemblegedanken verpflichtet ist, gut aufgehoben. Das wird auch und gerade bei den kleinen und mittleren Partien deutlich, wo es an diesem Abend einige Glanzlichter zu bewundern gab: solche Vollblutdarsteller wie der aasig-sadistische und durchaus hintergründige Haushofmeister von Peter Nikolaus Kante, der markante Musiklehrer von Stefan Heidemann, der scharf pointierte, jede Silbe zelebrierende Tanzmeister von Florian Simson oder der schönstimmige Dimitri Vargin als Harlekin sind ein beeindruckendes künstlerisches Kapital für jedes Opernhaus. Das zieht sich durch den gesamten Besetzungszettel einschließlich des Nymphenterzetts, der Komödianten und Kleinstpartien. Ensemblepflege at his best! Star des Abends und zu Recht ganz oben in der Publikumsgunst war die junge spanische Sopranistin Elena Sancho Pereg als Zerbinetta, die einen glänzenden Einstand als neues Ensemblemitglied feierte. Die Höhen- und Koloraturanforderungen erfüllt sie virtuos und ohne Mühe, vor allem aber ist sie der reinste Wirbelwind und steht immer im Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn sie gerade nichts zu singen hat, ist sie immer in der Rolle, agiert weiter, nimmt Impulse auf und kommuniziert mit den Partnern. Da ist der Rheinoper offenbar einmal mehr ein echter Fang gelungen.

Ariadne1Zerbinetta (Elena Sancho Pereg) und ihre erprobten Freunde (von links: Bruce Rankin, Cornel Frey und Bogdan Talos-Sandor) – Foto: Hans Jörg Michel

In Sachen Darstellung und szenischer Präsenz am nächsten kam ihr Maria Kataeva als Komponist, was ihr an purer Stimmschönheit abgeht, macht sie durch ihren Einsatz und faszinierend androgyne Ausstrahlung wett, dieser Komponist ist nicht nur ein Seufzer auf zwei Beinen und ein larmoyantes Etwas, sondern eine durchaus selbstbewußte Person. Der kurze Dialog und der Moment fragiler Annäherung zwischen Komponist und Zerbinetta am Ende des ersten Teils, eh einer der aufregendsten Momente der Oper, gelang ungemein intensiv. Genau damit tat sich Karine Babajanyan in der Titelpartie am Premierenabend schwer. Sie macht optisch eine glänzende Figur und verfügt über einen dunkel timbrierten, durchaus sinnlichen Sopran, offenbart in der Höhe allerdings auch schon die eine oder andere Schramme. Vor allem aber vermag sie der eher statisch angelegten und charakterlich ohnehin nicht besonders differenzierten Partie nicht genügend Profil zu geben; bei aller Klangschönheit war das auf die Dauer zu monoton, zu wenig gestaltet und durchdrungen und damit zu blass. Schließlich noch Roberto Saccà in der extrem undankbaren Partie des Bacchus… Klar ist die Auswahl an wirklich rollendeckenden und zudem bezahlbaren Interpreten beschränkt, von daher sind von vornherein gewisse Abstriche zu machen. Gut war er trotzdem nicht, ich bin und werde ich kein Fan dieser eng und gepresst klingenden Stimme mit ihren unschön gestemmten Höhen. Dazu kam in dieser kurzen, aber strapaziösen Partie noch ein ermüdendes Einheits-Fortissimo; dieser „jugendliche Gott“ klang weder nach dem einen noch nach dem anderen.

Trotz solcher Einwände im Detail: die Rheinoper hat nach langer Absenz wieder eine Ariadne; und zwar eine, die man sich auch des Öfteren gut anschauen und -hören kann.