Einer für die Ewigkeit
Sieh da, es gibt es ja doch noch an der Bayerischen Staatsoper… Das barocke und vorklassische Repertoire nämlich. Nachdem es so ausgesehen hatte, als habe Sir Peter bei seiner Demission diesen Spielplanzweig eingepackt und auf Nimmerwiedersehen mit in die Rente genommen, sprießt mit dieser packenden Monteverdi-Produktion nun wieder ein zartes Barock-Pflänzchen im bayerischen Operngarten. Man muss es bekanntlich nicht übertreiben, aber diese Repertoireerweiterung ist mehr als willkommen; noch dazu im intimen Rahmen des Prinzregententheaters, dessen Akustik und Raummaße die kleinen Besetzungen und die auf Transparenz und Durchhörbarkeit geeichten Partituren der Epoche umso besser zur Geltung bringt.
Szenisch wie musikalisch vermag diese Aufführung, die im Vorjahr Premiere hatte und nun, punktuell neu besetzt, wieder aufgenommen wurde, nahtlos an die besten Barock-Produktionen der Jonas-Ära anzuknüpfen; auch im prominent besetzten Festspielkalender 2015 erweist sich dieser Abend als echter Höhepunkt.
Den Rahmen dafür bietet die ungemein phantasievolle und atmosphärisch dicht gearbeitete Inszenierung von David Bösch, den man mittlerweile sicherlich zu den spannendsten Regie-Entdeckungen der letzten Spielzeiten zählen darf. Bösch und sein Bühnenbildner Patrick Bannwart sind ausgezeichnete Bilder-Erfinder, die mit Licht und Räumen eine ganz eigene, surreal-phantastische Atmosphäre von eigenwillig-verschrobener Poesie zu kreieren verstehen. Optisch erinnert das durchaus an die vom selben Team produzierte Inszenierung von L’elisir d’amore und offenbart eine erkennbare szenische Handschrift, zugleich wird Bösch aber auch der jeweiligen Fabel und ihren Eigenheiten gerecht; schließlich ist L’Orfeo, dem heiteren, ungezwungenen Beginn zum Trotz, eine Tragödie und geradezu DIE theatrale Parabel über das Thema Verlust schlechthin und damit inhaltlich diametral zu Donizettis märchenhaft-melancholischer Komödie. Auch L’Orfeo siedelt der Regisseur in einer relativ kahlen und latent ungemütlichen Landschaft an, in der die von Falko Herold kostümierten Protagonisten ihre Kontrastpunkte setzen, etwa „La Musica“, die personifizierte Muse und Ratgeberin des Orpheus, als geflügelter Engel mit blondem Wallehaar und Notenköfferchen, der Unterweltwächter Caronte im schwarzen Zottelmantel oder die Höllenfürstin Proserpina im spektakulären Sternenfummel; Göttergatte Pluto muss sich dagegen mit einem Feinripp-Unterhemd begnügen… Mit wenigen optischen Zeichen und gezielten filmischen Anspielungen – die Schatten der Unterwelt etwa erinnern an die Aliens aus Independence Day – charakterisiert das Regieteam Personen und Situationen sinnfällig, originell und deutlich. Auch wenn einige wenige Details vielleicht etwas platt wirken; da gibt es insgesamt nichts zu Meckern, das ist sinnliches und suggestives Musiktheater. Auf Böschs Sicht auf die Meistersinger kommende Spielzeit darf man schon gespannt sein!
Gleich passierts! – Orfeo (Christian Gerhaher) und Euridice (Elsa Benoit) kurz vor dem verhängnisvollen Rück-Blick – (Foto: Wilfried Hösl)
Die Titelfigur ist bei Monteverdi und seinem Librettisten Alessandro Striggio noch stärker akzentuiert und in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt als etwa in der späteren Orpheus-Oper von Gluck; dieses Werk steht und fällt folglich mit der Besetzung des Protagonisten. In diesem Fall stieg es sogar in ungeahnte Höhen, denn was der phänomenale Ton- und Wortgestalter Christian Gerhaher hier in pausenlosen zwei Stunden abrief, war schlicht eine Demonstration, in der Tat ein Orpheus für die Ewigkeit. Gänzlich verleugnen kann Gerhaher seine Existenz als Liedsänger auch auf der Opernbühne nicht und pflegt seine – im Übrigen sehr sorgsam und klug ausgewählten – Opernrollen mit eher sparsam dosiertem Körpereinsatz zu gestalten. Das hat sich der Regisseur auf äußerst sensible und kluge Art und Weise zunutze gemacht, indem er den mythologischen Wunderbarden von Anfang an als einen freundlichen Außenseiter zeichnet, der sich zwar bestens mit den etwas hippiehaft ausstaffierten Freunden seiner Braut Euridice amüsiert, eine gewisse Kluft in Habitus und Körperhaltung aber spürbar werden läßt. Gerhaher verzichtet zwar auf die große Geste, spielt aber mit großer physischer Spannung und Präzision. Die überbordenden Gefühlswelten, die Monteverdis Musik so farbig abbildet, die Verliebtheit, den Schmerz, die Klage, den Kampf und schließlich Entsagung und Leid, läßt der Künstler mit einem solchen vokalen Farbenreichtum in seine Stimme fließen, dass man sich als Zuhörer zwei Stunden lang wie in einem Bann befindet. Die Theaterwissenschaft hat für solche Momente das schöne Wort „Identifikationsangebot“ erfunden. Was es damit wirklich auf sich hat, dürfte selten so kenntlich werden, das ist ein Angebot, das man einfach nicht ablehnen kann; wenn Gerhaher das singt, sind wir eigentlich alle ein wenig Orpheus…
Gefeierter Barde im Kreise der Kollegen (Foto: Wilfried Hösl)
Weniger profiliert sind die anderen Figuren der Oper entworfen, selbst Euridice ist hier nur ein kleines Sternchen, das um den großen sängerischen Fixstern Orpheus kreist, die ganze Rolle umfasst gerademal ca. zehn Sätze Text. Die freilich singt Elsa Benoit mit apart timbriertem, jugendlich-frischen Sopran so hingebungsvoll, dass man gerne mehr davon gehört hätte. Prominentere Aufgaben hatten die beiden Mezzi Anna Bonitatibus als La Messagiera und Proserpina unnd Anna Stéphany als La Musica und La Speranza. Großartig, wie Bonitatibus zunächst mit flammend dunklem Leidenston die Nachricht vom Tode Euridices verkündet, um sich im weiteren Verlauf des Abends in eine virtuos zickende Unterweltkönigin zu verwandeln. Stéphany verfügt nicht ganz über das klangvolle Material wie die Kollegin, steht ihr aber in Artikulation und Stilkompetenz nicht nach. Ganz ausgezeichnet waren auch die aus dem Hausensemble besetzten Episodenrollen wie Tareq Nazmi als unnachgiebig strenger Caronte, Goran Jurić als stimmgewaltiger und hinreißend selbstironischer Plutone und Dean Power als tenoral strahlender Apollo, der hier optisch auf ganz ungöttliche Art unter die Räder gekommen scheint. Stimmen und Erscheinungen der fröhlichen Hirten gehörten den Damen und Herren der Zürcher Singakademie sowie den Solisten Mathias Vidal, Jeroen de Vaal, James Hall, Simon Robinson und Lucy Knight.
Das Staatsorchester war in kleiner Besetzung und in Spielgemeinschaft mit einem ominösen „Monteverdi-Continuo-Ensemble“ angetreten und sorgte unter der Leitung von Christopher Moulds für den entsprechend saftigen Barock-Klang, wie er für die diversen Händel- und Monteverdi-Produktionen der letzten eineinhalb Dekaden hier am Haus charakteristisch war. Eine hübsche Idee war es, den Beginn des Stückes, die berühmte Entrata, gleich dreimal von verschiedenen Positionen im Haus spielen zu lassen; leider litt der Effekt etwas unter den arg langen Pausen dazwischen.