Bayerische Staatsoper: “L’Orfeo” – 18.7.2015

Einer für die Ewigkeit

Sieh da, es gibt es ja doch noch an der Bayerischen Staatsoper… Das barocke und vorklassische Repertoire nämlich. Nachdem es so ausgesehen hatte, als habe Sir Peter bei seiner Demission diesen Spielplanzweig eingepackt und auf Nimmerwiedersehen mit in die Rente genommen, sprießt mit dieser packenden Monteverdi-Produktion nun wieder ein zartes Barock-Pflänzchen im bayerischen Operngarten. Man muss es bekanntlich nicht übertreiben, aber diese Repertoireerweiterung ist mehr als willkommen; noch dazu im intimen Rahmen des Prinzregententheaters, dessen Akustik und Raummaße die kleinen Besetzungen und die auf Transparenz und Durchhörbarkeit geeichten Partituren der Epoche umso besser zur Geltung bringt.

Szenisch wie musikalisch vermag diese Aufführung, die im Vorjahr Premiere hatte und nun, punktuell neu besetzt, wieder aufgenommen wurde, nahtlos an die besten Barock-Produktionen der Jonas-Ära anzuknüpfen; auch im prominent besetzten Festspielkalender 2015 erweist sich dieser Abend als echter Höhepunkt.

Den Rahmen dafür bietet die ungemein phantasievolle und atmosphärisch dicht gearbeitete Inszenierung von David Bösch, den man mittlerweile sicherlich zu den spannendsten Regie-Entdeckungen der letzten Spielzeiten zählen darf. Bösch und sein Bühnenbildner Patrick Bannwart sind ausgezeichnete Bilder-Erfinder, die mit Licht und Räumen eine ganz eigene, surreal-phantastische Atmosphäre von eigenwillig-verschrobener Poesie zu kreieren verstehen. Optisch erinnert das durchaus an die vom selben Team produzierte Inszenierung von L’elisir d’amore und offenbart eine erkennbare szenische Handschrift, zugleich wird Bösch aber auch der jeweiligen Fabel und ihren Eigenheiten gerecht; schließlich ist L’Orfeo, dem heiteren, ungezwungenen Beginn zum Trotz, eine Tragödie und geradezu DIE theatrale Parabel über das Thema Verlust schlechthin und damit inhaltlich diametral zu Donizettis märchenhaft-melancholischer Komödie. Auch L’Orfeo siedelt der Regisseur in einer relativ kahlen und latent ungemütlichen Landschaft an, in der die von Falko Herold kostümierten Protagonisten ihre Kontrastpunkte setzen, etwa „La Musica“, die personifizierte Muse und Ratgeberin des Orpheus, als geflügelter Engel mit blondem Wallehaar und Notenköfferchen, der Unterweltwächter Caronte im schwarzen Zottelmantel oder die Höllenfürstin Proserpina im spektakulären Sternenfummel; Göttergatte Pluto muss sich dagegen mit einem Feinripp-Unterhemd begnügen… Mit wenigen optischen Zeichen und gezielten filmischen Anspielungen – die Schatten der Unterwelt etwa erinnern an die Aliens aus Independence Day – charakterisiert das Regieteam Personen und Situationen sinnfällig, originell und deutlich. Auch wenn einige wenige Details vielleicht etwas platt wirken; da gibt es insgesamt nichts zu Meckern, das ist sinnliches und suggestives Musiktheater. Auf Böschs Sicht auf die Meistersinger kommende Spielzeit darf man schon gespannt sein!

BSO Orfeo1Gleich passierts! – Orfeo (Christian Gerhaher) und Euridice (Elsa Benoit) kurz vor dem verhängnisvollen Rück-Blick – (Foto: Wilfried Hösl)

Die Titelfigur ist bei Monteverdi und seinem Librettisten Alessandro Striggio noch stärker akzentuiert und in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt als etwa in der späteren Orpheus-Oper von Gluck; dieses Werk steht und fällt folglich mit der Besetzung des Protagonisten. In diesem Fall stieg es sogar in ungeahnte Höhen, denn was der phänomenale Ton- und Wortgestalter Christian Gerhaher hier in pausenlosen zwei Stunden abrief, war schlicht eine Demonstration, in der Tat ein Orpheus für die Ewigkeit. Gänzlich verleugnen kann Gerhaher seine Existenz als Liedsänger auch auf der Opernbühne nicht und pflegt seine – im Übrigen sehr sorgsam und klug ausgewählten – Opernrollen mit eher sparsam dosiertem Körpereinsatz zu gestalten. Das hat sich der Regisseur auf äußerst sensible und kluge Art und Weise zunutze gemacht, indem er den mythologischen Wunderbarden von Anfang an als einen freundlichen Außenseiter zeichnet, der sich zwar bestens mit den etwas hippiehaft ausstaffierten Freunden seiner Braut Euridice amüsiert, eine gewisse Kluft in Habitus und Körperhaltung aber spürbar werden läßt. Gerhaher verzichtet zwar auf die große Geste, spielt aber mit großer physischer Spannung und Präzision. Die überbordenden Gefühlswelten, die Monteverdis Musik so farbig abbildet, die Verliebtheit, den Schmerz, die Klage, den Kampf und schließlich Entsagung und Leid, läßt der Künstler mit einem solchen vokalen Farbenreichtum in seine Stimme fließen, dass man sich als Zuhörer zwei Stunden lang wie in einem Bann befindet. Die Theaterwissenschaft hat für solche Momente das schöne Wort „Identifikationsangebot“ erfunden. Was es damit wirklich auf sich hat, dürfte selten so kenntlich werden, das ist ein Angebot, das man einfach nicht ablehnen kann; wenn Gerhaher das singt, sind wir eigentlich alle ein wenig Orpheus…

BSO Orfeo2Gefeierter Barde im Kreise der Kollegen (Foto: Wilfried Hösl)

Weniger profiliert sind die anderen Figuren der Oper entworfen, selbst Euridice ist hier nur ein kleines Sternchen, das um den großen sängerischen Fixstern Orpheus kreist, die ganze Rolle umfasst gerademal ca. zehn Sätze Text. Die freilich singt Elsa Benoit mit apart timbriertem, jugendlich-frischen Sopran so hingebungsvoll, dass man gerne mehr davon gehört hätte. Prominentere Aufgaben hatten die beiden Mezzi Anna Bonitatibus als La Messagiera und Proserpina unnd Anna Stéphany als La Musica und La Speranza. Großartig, wie Bonitatibus zunächst mit flammend dunklem Leidenston die Nachricht vom Tode Euridices verkündet, um sich im weiteren Verlauf des Abends in eine virtuos zickende Unterweltkönigin zu verwandeln. Stéphany verfügt nicht ganz über das klangvolle Material wie die Kollegin, steht ihr aber in Artikulation und Stilkompetenz nicht nach. Ganz ausgezeichnet waren auch die aus dem Hausensemble besetzten Episodenrollen wie Tareq Nazmi als unnachgiebig strenger Caronte, Goran Jurić als stimmgewaltiger und hinreißend selbstironischer Plutone und Dean Power als tenoral strahlender Apollo, der hier optisch auf ganz ungöttliche Art unter die Räder gekommen scheint. Stimmen und Erscheinungen der fröhlichen Hirten gehörten den Damen und Herren der Zürcher Singakademie sowie den Solisten Mathias Vidal, Jeroen de Vaal, James Hall, Simon Robinson und Lucy Knight.

Das Staatsorchester war in kleiner Besetzung und in Spielgemeinschaft mit einem ominösen „Monteverdi-Continuo-Ensemble“ angetreten und sorgte unter der Leitung von Christopher Moulds für den entsprechend saftigen Barock-Klang, wie er für die diversen Händel- und Monteverdi-Produktionen der letzten eineinhalb Dekaden hier am Haus charakteristisch war. Eine hübsche Idee war es, den Beginn des Stückes, die berühmte Entrata, gleich dreimal von verschiedenen Positionen im Haus spielen zu lassen; leider litt der Effekt etwas unter den arg langen Pausen dazwischen.

Bayerische Staatsoper: “Tristan und Isolde” – 8./12.7.2015

“Mild und leise”, zum letzten Mal…

Da stand sie nun. Alleine vor einer gigantischen Menge schweren rot-goldenen Stoffes, vor dem Vorhang, umtost vom schier grenzenlosen Jubel des bis unters Dach ausverkauften Nationaltheaters. Hier wurde nicht einfach eine Sängerin gefeiert für die Leistung der vorangegangenen fünf Stunden, hier verabschiedete sich eine Hohepriesterin von ihrer Gemeinde. So jedenfalls der Eindruck; ganz verabschiedet hat sich Waltraud Meier zum Glück noch nicht, aber es waren, seit Monaten angekündigt, ihre letzten beiden Isolden. Große Emotionen, Bravi, Blumen und frenetischen Jubel, das ist man alles gewohnt, wenn Wagners Tristan und Isolde auf dem Spielplan steht, doch an diesen beiden Abenden gab es noch einen Gefühlszuschlag oben drauf. Denn Waltraud Meier ist schließlich nicht irgendeine Isolden-Interpretin, sie hat die Wahrnehmung dieser Rolle in den 22 Jahren seit ihrem Bayreuther Rollendebüt 1993 in einer Weise künstlerisch geprägt wie keine andere lebende Kollegin. Dass Meier als genuiner Mezzosopran nie über die stählerne Sopran-Power und den klassischen Heroinenton einer Varnay, einer Nilsson oder zuletzt einer Schnaut oder Herlitzius verfügt hat, versteht sich eigentlich von selbst und wurde dennoch über die Jahre immer wieder kontrovers diskutiert. Meiers Isolde war anders als die meisten Vorgängerinnen und Weggefährtinnen; hatte rotglühendes Mezzofeuer, eine geradezu unverschämt sinnlich-erotische Stimmfarbe und vor allem eine ungemein wandelbare, in jedem Augenblick betörend menschliche Aura. Furie, stolze Prinzessin, der Weltenwonne Walterin; aber auch bis zur Raserei liebende Frau und schließlich Seelenextase, losgelöst von irdischen Zwängen und Affekten, die Auflösung der eigenen Existenz im Kosmos. Um nichts anderes geht es im Tristan, das ist eine larger-than-life-Vergegenwärtigung, die hier gefragt ist und die mich, wie viele Opernfreunde meiner und der folgenden Generation immer wieder künstlerisch wie emotional geprägt hat.

Meier IsoldeFoto: Wilfried Hösl

Bekanntlich soll man ja aufhören, wenn es am Schönsten ist und auch Staatsintendant Nikolaus Bachler benannte in seiner wie immer sehr charmanten und beziehungsreichen Ansprache nach der letzten Vorstellung die Fähigkeit, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, wann man sich einer Rolle nähern und wann man sie wieder verlassen sollte, als das Signum der großen Künstlerpersönlichkeiten. Und, nimmt man diese beiden Abende zum Maßstab, so hat Waltraud Meier „ihre“ Isolde im Zenith abgelegt; so fulminant gesungen, so deutlich, so stimmstark und so fokussiert hat man sie in dieser Rolle seit einiger Zeit nicht mehr hören dürfen, aber hier stimmte wieder alles, die Stimme blühte in der Mittellage wunderbar, saß perfekt auf dem Atem und schien fast die Zeit anzuhalten. Da erklang keine beiläufige Phrase, die gesamte Partie war durchgestaltet und vokal erfasst bis ins Letzte, “süß in Düften sich verhauchend”. „Mild und leise…“, ein letztes Mal. Da blieb kaum ein Auge trocken.

Aber auch die anderen Sänger, bzw. die allermeisten davon, hatten großen Anteil daran, dass sich zwei denkwürdige Wagner-Abende ereignen konnte. So war etwa René Pape, wie schon so oft in all den Jahren, Meiers König Marke; gekriegt hat er sie natürlich auch zum Abschied nicht. Da hatte der Komponist was dagegen und ließ den hintergangenen König am Schluß des zweiten Aktes umso ergreifender und wehmütiger klagen. Eine Szene, die nicht umsonst zu den Höhepunkten dieser Oper, wenn nicht des Wagner-Repertoires überhaupt, gehört und die in zwanzig Minuten ein Schicksal resümmieren kann. Zumindest dann, wenn ein so ausdrucksstark und balsamisch schön singender Interpret wie Pape auf der Bühne steht, vor dieser Demonstration von Bassfülle, Gesangskultur und Intensität kann man sich nur verneigen.

Was die männliche Titelrolle und deren Besetzungsproblem angeht, sind schon Bände geschrieben worden. Wohl dem Opernhaus, das nach der Absage von Peter Seiffert in kürzester Zeit einen Tristan wie Robert Dean Smith präsentieren kann! Mit Partnern und Inszenierung bereits von früheren Gastspielen vertraut, fügte er sich völlig reibungslos ins Geschehen ein und zog seine gesammelten stimmlichen Trumpfkarten. Das sind nun nicht wenige, eine kluge Einteilung der sängerischen Kräfte und Stehvermögen gehören ebenso dazu wie die präzise Intonation und technische Sicherheit, die gute Textverständlichkeit und der elegante, kultivierte Vortrag. Dieser Tristan beherrscht seine Partie anstatt, wie leider viele Kollegen, von ihr beherrscht zu werden. Wenn ich dennoch nicht restlos glücklich bin mit seinem Tristan – und man geniert sich heutzutage ja beinahe, das zugeben zu müssen – so liegt das an einer gewissen Blässe, die der Künstler ausstrahlt, einer latenten Monotonie, einem nicht eben ausgeprägten Spektrum an Farben und Affekten. Smith‘ Tristan kommt stets sehr kontrolliert und korrekt rüber, die Extase blieb allerdings seiner Partnerin und dem Orchester vorbehalten.

Meier Smith“O sink hernieder, Nacht der Liebe…”: Waltraud Meier und Robert Dean Smith im 2.Akt (Foto: Wilfried Hösl)

Als Brangäne und Kurwenal haben wir in München sicherlich schon überzeugendere Besetzungen erlebt als diese hier. Das große Bedauern über den Bühnenabschied von Elisabeth Kulman bekam hier nochmal einen Schub; allerdings hätte man an der BSO, Festspielsommer hin oder her, eine bessere Sängerin als Michelle Breedt finden müssen, da war kaum eine wirklich sauber gesungene Phrase ohne brüchige, gestemmte oder unschön in den Hals gesungene Töne dabei und auch darstellerisch bot sie kaum mehr als Klischees. Nicht in Bestform zeigte sich, vor allemin der ersten Vorstellung, auch Alan Held, der hörbar um Stimmkontrolle und präzise Tongebung zu kämpfen hatte. Dringend neu besetzt werden sollte der Melot, den jetzt wieder Francesco Petrozzi in seiner bekannten Art und Weise gab, während Dean Power als junger Seemann sehr positiv auf sich aufmerksam machte und Kevin Conners als Hirte und Christian Rieger als Steuermann das Ensemble ergänzten.

Einen großen Aktivposten und musikalischen Brennpunkt bildete das famos spielende Staatsorchester unter der Leitung von Philippe Jordan. Nun hat ja die kürzlich erfolgte und mittelfristig zu vollziehende Ernennung Petrenkos beim Hauptstadtorchester bereits zu wüsten Spekulationen über die Nachfolge geführt und jeder halbwegs namhafte Dirigent, der in diesen Wochen und Monaten am Pult der BSO aufkreuzt, sieht sich verschärfter Beobachtung ausgesetzt, ob er womöglich zu den „Papabili“, den aussichtsreichen Kandidaten, gehören könnte… Zunächst konnte man sich aber mal über ein Tristan-Dirigat freuen, das sich stilistisch vollkommen von den bisherigen Interpretationen von Mehta und Nagano unterscheidet. Zwischen dem nicht immer präzisen Bauchmusiker Mehta und dem glasharten Analytiker Nagano findet Jordan einen sehr persönlichen und durchaus überzeugenden eigenen Weg, den man vielleicht mit „traditionell, aber aufgeklärt“ beschreiben könnte. Der Orchesterklang ist schwerer und dunkler als zuletzt gewohnt, durch konsequente Farbenmischung kompakt und eher theatral denn kontemplativ. Für Jordan ist der Tristan eine Oper, ein musikalisch erzähltes Drama, das aber zuweilen über die erzählte Geschichte hinausweist. Gerade im Vorspiel und über weite Strecken des zweiten Aktes erzielt der Dirigent eine große innere Ruhe der Musik, ein Klangkontinuum von großer Sogwirkung. Die starke emotionale Wirkung des Dirigates ging nie auf Kosten der Genauigkeit, die erzählerischen Höhepunkte der Partitur waren mustergültig in den orchestralen Fluß eingebunden, so dass die Interpretation bei aller Differenzierung sehr homogen und in sich geschlossen wirkt. Ganz unabhängig von der Nachfolgefrage würde man diesen Musiker in Zukunft gerne öfter hier am Pult sehen.

Diese beiden Tristane waren wahrlich unvergessliche Opernabende und Festspielhöhepunkte. Glücklich, wer dabei sein durfte! Der Abschied von Peter Konwitschnys Inszenierung ist das angeblich noch nicht gewesen, dem Vernehmen nach soll sie, mit neuer Isolde am Start, in der übernächsten Saison in den Spielplan zurückkehren.

Bayerische Staatsoper: “Arabella” – 6.7.2015

Auf und nieder, immer wieder…

Gibt es irgendwo in der Musikgeschichte eine Oper, die noch dümmer, noch reaktionärer und noch frauenfeindlicher ist als Arabella? Mal scharf nachdenken… Also, hmmm… Nein, eigentlich fällt mir gerade keine ein. Das ist schon ein übles Gebräu, was Strauss und vor allem sein Librettist Hugo von Hofmannsthal einem da vorsetzen. Das Stück geht nämlich so: ein verarmtes Adelspaar hat zwei Töchter, von denen eine aus Kostengründen als Junge gehalten wird und die andere gewinnbringend an einen solventen alten Bock verscherbelt werden soll. Da der dazu Ausersehene mittlerweile verblichen ist, steht plötzlich ein singender Karpatenbär im Reisepelz (!) auf der Matte; der Neffe und Erbe des alten Kommisskopfes nämlich und derzeit „der einzige Mandryka“. Der ist reich und von nicht nachzuahmender Männlichkeit, Glück gehabt! Zwischen Kolchosenmacho und kapriziöser Adelszicke funkt es sofort, sie säuselt, er solle ihr Gebieter sein und sie werde folgen wie ein Kind… Happy End, Vorhang und gut ist? Leider nicht. Hugo von musste sich nämlich noch einen dritten Akt aus den Rippen schneiden… Dafür setzt eine Operetten-Intrige à la bonheur ein, ein plattes Mißverständnis und ein Tenor, der am Morgen nach erfolgter Verrichtung nicht weiß, welche der beiden Damen er nächtens beglückt hat, sorgen für viel dramaturgischen Klimbim, bis sich in der Früh im Stiegenhaus alles in Wohlgefallen auflöst. Die Testosteronbombe Mandryka ist da längst explodiert, hat Arabella, ihre Familie und sich selbst blamiert bis auf die Knochen. Und? Ja, was schon? Sie kommt angeschlichen und serviert nach Altväter Sitte ein Glas Wasser als Zeichen hündischer, äh häuslicher, Devotion… Charakter? Kommt hier nicht vor. Diese Oper, und dieses Ende zumal, sind einfach abscheulich. Da kann mich jetzt von mir aus die Strauss-Anhängerschaft prügeln und verdammen, aber dieses Machwerk ist sowas von daneben, abgeschmackter geht es kaum. Das läßt sich auch mit Musik nicht retten.

Wie – und vor allem warum – bringt man so etwas im 21. Jahrhundert noch auf die Bühne? Am besten gar nicht, klar. Aber wenn schon… Dann eigentlich nur, weil man für die Titelrolle eine Sängerin hat, die solches Dilemma auflöst und sublimiert, vor deren Vokalreichtum und Ausdrucksstärke der größte Arabella-Verächter am Ende des Tages die Waffen streckt und phasenweise so etwas wie Sympathie für das Frauenzimmer empfindet. Oder einen Regisseur, der sich das Teil mal ganz gepflegt vornimmt, auseinanderhaut und schaut, was man aus den Teilen machen könnte. Erstere ist in dieser Festspiel-Produktion der BSO vorhanden, letzterer nicht.

Arabella_Harteros_Müller c) W Hösl 5M1A4285“Wir Schwestern zwei, wir Schönen…”: Anja Harteros (Arabella) und Hanna-Elisabeth Müller (Zdenka) – Foto: Wilfried Hösl

So, das musste jetzt einfach mal gesagt werden. Davon abgesehen gestaltete sich die Premiere zu einem rauschenden Sänger- und Orchesterfest, wie man es nur an den ersten Adressen der Musikwelt erleben kann, ein vielköpfiges Ensemble ohne jedwede Schwachstelle, getragen und animiert von einem Staatsorchester in Hochform. Dafür sorgte am Pult Philippe Jordan, der hier genau die richtige Balance zwischen Sentiment und Würze findet; mit voller orchestraler Süffigkeit, aber erfrischend unschwülstig, fein auf Linie gespielt und doch mit körperhafter Fülle und Gewicht. Mehr Qualität und Originalität als drin ist kann auch er der Partitur naturgemäß nicht entlocken, aber der schöne Schein ist wenigstens wirklich ein solcher und das Orchester kann unter seiner straffen, aber doch flexiblen Führung zeigen, was es drauf hat. Das kann dann auch schonmal klanglich massiv und dominant werden, der sensibelste Sänger-Dirigent ist er nicht unbedingt. Mit einiger Dankbarkeit nahm man den Einsatz des Rotstiftes zur Kenntnis, vor allem im zweiten und dritten Akt hatte Jordan einige beherzte Striche vorgenommen.

In der Arabella-Partie ist viel die Rede vom „Richtigen“, heute im Sex and the City-Zeitalter täte man sagen „Mr. Right“, der irgendwie und plötzlich dann dasteht und alles wird gut. Sieht jedenfalls Madame Arabella so; für uns andere ist es wohl eher „die Richtige“ auf die wir gewartet haben und die plötzlich auf der Bühne steht und nichts weniger als ein Gesangswunder vollbringt. Und das kann niemand anderes sein als die wunderbare Anja Harteros, diese Sopran-Magierin verwandelt nicht nur den infamsten Librettoschmus in pures Klanggold, sie gibt der Figur sogar ein menschlich berührendes Gesicht; gerade indem sie die Zickigkeit, den Standesdünkel und die mangelnde Selbstsicherheit Arabellas nicht mit meterdickem vokalen Zuckerguss zukleistert, sondern ungeniert stattfinden läßt, formt sie diesen für uns heute kaum noch nachvollziehbaren Charakter zu einer blutvollen Theaterfigur. Dies weiß sie im präzise artikulierten Parlando ebenso prägnant in Töne zu bannen wie in den berühmten Strauss-Kantilenen, die bei ihr zu Exzessen gesanglicher Leuchtkraft und Intensität werden und immer wieder eine Ahnung davon vermitteln, was Musik über Worte und gesellschaftlichen Kontext hinaus ausdrücken kann. Hier erleben wir den Triumph einer Sängerin über die Rolle, eine Transformation durch die Meisterschaft der menschlichen Stimme. Mehr kann Oper, kann Interpretation eigentlich nicht leisten!

Arabella_Harteros c) W. Hösl 5M1A5848Der Magierin zu Füßen: Anja Harteros in der Titelrolle (Foto: Wilfried Hösl)

Dass der Rest des hier versammelten Sängerhimmels neben diesem Zentralgestirn nicht vollends verblasst, zeigt schon, wie gut und kennerhaft auch diese Premierenbesetzung wieder zusammengestellt ist; die zumeist wahl- und lieblos zusammengestopselten Besetzungslisten früherer Zeiten gehören am Max Joseph-Platz zum Glück der Vergangenheit an. Merke: das ist keine Allerweltsbesetzung, auch wenn Mayer, Müller und Kaiser mitwirken…! Schon optisch bietet der großgewachsene Thomas J. Mayer ein überzeugendes Gegenstück zu Harteros und punktet mit gewohnt prägender Bühnenpräsenz, obwohl die Kostümbildnerin Sabine Greunig ihn in eine eher an den fliegenden Holländer erinnernde schwarze Schlabberkluft gesteckt hat. Mit kultivierter Linienführung, sicherer Höhe und schöner großbogiger Phrasierung kann dieser Mandryka relativ lange verbergen, dass er „ein halber Bauer“ sein möchte, da wäre ab und an vielleicht sogar ein wenig mehr vokales Taiga-Feeling vorstellbar gewesen. Die große Sympathieträgerin in den meisten Arabella-Aufführungen ist die kleine Schwester Zdenka, die keine Schwester sein darf, die Hosenrolle wider Willen. Das war hier nicht anders, Hanna-Elisabeth Müller macht daraus ein – soweit überhaupt möglich – stimmiges Rollenporträt und eine faszinierend androgyne Bühnengestalt. Zugleich verströmt sie soviel an lyrischer Emphase und vokalem Glanz, dass ein paar wenige, möglicherweise hitzebedingt, etwas unstete Spitzentöne nicht ins Gewicht fallen. Tenöre waren bekanntlich nicht gerade die Freunde des Komponisten und kaum ein Tonsetzer hat die Herren vom hohen C mit ähnlich nickligen und zudem noch äußerst undankbaren Partien gepiesackt wie der Garmischer. In Arabella gibt es gleich zwei davon, beide hochtönig angelegt und vergeblich schmachtend hinter der Protagonistin her, für den einen, Matteo, gibt’s am Ende immerhin noch das Schwesterchen zu erben, das nun endlich eines sein darf… Joseph Kaiser müht sich wacker mit der fiesen Tessitura und erreicht immerhin ein gutes Unentschieden; man sollte tunlichst vergessen, dass der Matteo in der Vor-Vorgängerinszenierung mal Peter Seiffert hieß… Der andere, Graf Elemer, ist Bestandteil einer operettenhaften Freier-Trias von unstrittigem Trashpotenzial und Dean Power, in dieser Saison als tenorale Allzweckwaffe im Dauereinsatz, singt ihn so fulminant, dass das Wort „Rollentausch“ am Bühnenportal aufzuleuchten scheint. Die beiden Mitbewerber, Andrea Borghini (Dominik) und Steven Humes (Lamoral) agieren deutlich unauffälliger. Heike Grötzinger als etwas grell tönende Kartenaufschlägerin hatte den Abend eröffnet und Eir Inderhaug nutzte ihren Episodenauftritt als etwas aufgesetzt zeitgeistig zur Leder-Domina gemachte Fiakermilli, um eine Extraportion koloraturenseligen Frohsinns zu verbreiten.

Zwei besondere Besetzungsschmankerl waren für das Elternpaar reserviert, mit Doris Soffel als Gräfin Adelaide und Kurt Rydl als Waldner waren diese beiden relativ kleinen, aber nicht unwichtigen Partien geradezu luxuriös besetzt. Während sich Rydl in breitestem „Weanerisch“ und zuweilen arg polternder Attitüde an einigen Stellen schon hart an der Geschmacksgrenze, wenn auch noch nicht darüber hinaus, bewegt, ist der Auftritt von Doris Soffel die Schau an sich. Insbesondere im ersten Akt fegt sie durch die Zimmerfluchten wie eine Lady Macbeth im Nachtpolter und versteht es dazu noch, ihren hochdramatischen Gestus mit feiner Selbstironie abzuschmecken. Die Stimme des langjährigen Münchner Publikumslieblings ist vollkommen intakt und substanzreich wie eh und je, der frenetische Applaus sicherlich auch eine Aufforderung, bald in einer größeren Partie wiederzukommen.

Arabella c) W. Hösl5M1A5794Treiben im Treppenhaus… Vorne rechts Thomas J. Mayer als Mandryka (Foto: Wilfried Hösl)

War noch was? Ach ja, inszeniert war der Abend – angeblich – auch noch. Das freilich muss sich um einen Irrtum gehandelt haben, denn was der in seinem Metier durchaus geschätzte Filmregisseur Andreas Dresen hier arrangiert hat, ist allenfalls harmlose Konventionalität. Wenn man etwas Positives darüber sagen kann, dann nur, dass diese Visualisierung nicht weiter stört. Und das ist, ich sagte es eingangs, gerade für ein so problematisches Stück einfach nicht genug. Von der Kostümierung her versetzt Dresen die Handlung ohne semantischen Mehrwert in die Entstehungszeit der Oper, das Bühnenbild von Matthias Fischer-Dieskau – der neben Jordan und Dresen das Trio der Söhne namhafter Väter komplett macht – besteht aus vier sternförmig ineinander gesteckten drehbaren Treppen. Diese werden, vor allem im zweiten Akt, von Personal in elegantem Schwarz-Weiß mit einigen roten Farbtupfern bespielt, Gestalten gehen von unten nach oben und vice versa, auf und nieder, immer wieder… Soll ja so aussehen, als sei hier etwas inszeniert. Eine kleine Orgie wird angedeutet und irgendwo im Hintergrund flanieren ein paar NS-Uniformen vorbei; vielleicht hat Dresen sich erzählen lassen, man sei ohne kein richtiger Opernregisseur? Den einzigen echten Regieeinfall hat er sich bis zum Schluß aufgespart, wenn nämlich Arabella dem Grobian das ominöse Glas Wasser nicht serviert, sondern es ihm mit Aplomb in die Goaschn kippt, woraufhin beide sich einen drolligen Treppen-Wettlauf in Richtung Schlafgemach liefern. Wirklich was aussagen tut das eigentlich auch nicht, aber man wird irgendwann selbst für so etwas dankbar.

Nennenswerte Opposition gegen das Gebotene artikulierte sich nicht; das Konzept, die Kundschaft durch musikalische Großtaten in Feierlaune zu singen und zu spielen, war offenbar aufgegangen. Für die kommende Saison ist im Bereich Regie allerdings sehr viel Luft nach oben und eine sorgfältigere Auswahl der Regieteams dringend geboten. Denn vier (!) von sechs Premieren szenisch so zu vergeigen wie in dieser Saison geschehen, das läßt sich mit dem Anspruch des Hauses wohl kaum vereinbaren…!

Prinzregententheater München: Liederabend Pavol Breslik – 30.6.2015

„Heiß hier!“ – Mit diesem Stoßseufzer wandte sich Pavol Breslik halb entschuldigend ans Publikum, nachdem er nach einer außerplanmäßigen (Trink?)pause im ersten Teil wieder aufs Podium zurückgekommen war. Und auch vor der letzten Zugabe meinte er „Einen gibt’s noch, dann gehen wir ein Eis essen!“. In der Tat war der Sommereinbruch in der Landeshauptstadt mit Temperaturen um die dreißig Grad auch bei diesem ersten Festspiel-Liederabend im gut besuchten Prinzregententheater ein Thema; da ist kein Sänger zu beneiden, der in diesem stickig-heiß aufgeladenen Saal performen muss. Doch Publikumsliebling Breslik zeigte sich den ganzen Abend nicht nur sympathisch menschelnd, sondern auch bestens bei Stimme und als seriöser, ausdrucksstarker Liedinterpret. Dabei hielt der Sänger sich nicht mit Abseitigem auf, sondern feuerte eine volle Breitseite populäres Liedgut in zwei Sprachen ab. Der erste Teil war zur Gänze Franz Schubert gewidmet, vom Musensohn bis zum Erlkönig, da wurde Silvia ebenso besungen wie die Nachtviolen und der „alliebende Vater“Ganymed, ein Klassiker nach dem anderen. Bresliks Vortrag verschmilzt jugendlichen, zuweilen fast burschikosen, Charme mit schwebenden romantischen Sehnsuchtstönen, immer poetisch und nie in der Gefahr die Kitschgrenze zu touchieren. Das kam vor allem den ausgesprochenen Nachtstücken wie Nacht und Träume, Im Abendrot oder Ständchen zugute, wo Breslik mit exzellenter Technik, stupender messa di voce und farbenreichem Vortrag wunderschöne musikalische Miniaturen kreiierte. Opernhafte Attitüde und Pathos versagt sich der Künstler fast durchweg, lediglich im Erlkönig zeichnet er die dialogische Struktur mit gesteigerter Espressivität nach; ohne jedoch so ins Extrem zu gehen wie manche anderen Kollegen und wirklich mit vier Stimmen zu singen. Nach dem letzten, fast nur noch in den Saal gesprochenen, „das Kind… war tot“ war erstmal Durchschnaufen und dann Pause angesagt. Breslik LiederabendFoto: Wilfried Hösl Der zweite Teil begann mit der Ankündigung, die Liedgruppen umzustellen, „wenn das für Sie in Ordnung ist“. War es, null Problemo. Wie ausgedruckt begann es mit einer kleinen Auswahl von Tchaikovskij-Liedern, natürlich angeführt von der Serenade des Don Juan; ein Bravourstück sämtlicher russischen bzw. slawischen Bässe und Baritone, hier in der ungleich selteneren Tenorfassung und mit verführerischem Schmelz serviert. Auch die anderen Titel gehörten wiederum zu den bekannteren des Komponisten, ebenso wie im darauffolgenden Strauss-Block die notorischen Dauerbrenner wie die Heimliche Aufforderung, Zueignung und Morgen nicht fehlen durften. So angenehm unpretenziös, schlank und viril gesungen entfalteten auch diese einen unbezwingbaren Reiz, zumal hier auch die große Stunde des Pianisten Amir Katz schlug; kein Lied“begleiter“ im eigentlichen Sinne, sondern ein wunderbar suggestiver Musiker, der hörbar von der großen Solo-Literatur herkommt und dieses pianistisch anspruchsvolle Programm traumwandlerisch sicher und mit großer stilistischer Bandbreite meisterte. Das gilt auch für die abschließenden drei Romanzen von Sergej Rachmaninov, in den Breslik und Katz trotz der überwiegend elegisch breiten Tempi keinen Moment der Monotonie aufkommen ließen und für eine perfekte Klang-Wort-Balance sorgten. Mit drei Zugaben – einem Lied von Dvořák, Strauss‘ Ich trage meine Minne und einer hinreißenden Widmung von Schumann – wurde man am Ende eines wunderbaren Konzertes schließlich in den Sommerabend entlassen, sei es zum Konsum von Eis oder hopfenhaltigen Erfrischungsgetränken… Auf weitere Liederabende mit Pavol Breslik und Amir Katz darf man sich freuen. Nur eine kleine Bitte, wenn das in Ordnung ist, hätte ich doch: vielleicht ein wenig mehr Mut in der Programmgestaltung und gerne ein paar uns noch unbekannte Lieder aus Bresliks Heimat?

Dieser Beitrag sowie derjenige zu “Pelléas et Mélisande” sind auch bei den geschätzten Kollegen von http://www.operalounge.de verfügbar.