Bayerische Staatsoper: “Karl V.” – 10.2.2019

Kaiserdämmerung im Plantschbecken

Die BSO geht mit Krenek baden

What is dead may never die, Was tot ist, kann niemals sterben; Fans der Kultserie Game of Thrones kennen natürlich die Losung des Hauses Graufreud. Und irgendwie kam dem Kulturschock besagte Parole während der tatsächlichen gut zwei, gefühlt aber mindestens fünf, Premierenstunden von Ernst Kreneks monumentaler Geschichts- und Ideenoper Karl V. immer wieder in den Sinn. Kaum zu glauben, das Stück war 1938 die Speerspitze der Avantgarde, eine der ersten rein auf der Zwölftontechnik komponierten Opern überhaupt, nur Großmeister Schönberg war mit seinem Einakter Von heute auf morgen noch etwas früher dran… Mittlerweile ist der Karl von den Spielplänen praktisch verschwunden und mehr oder weniger eine Fußnote der Operngeschichte geblieben. Das hat Gründe, und diese sind beim vielleicht ehrenwerten, aber auf ganzer Linie gescheiterten, Versuch der BSO, diese Archivleiche zu reanimieren, auch deutlich zu erkennen. Was schon tot ist… siehe oben.

Das Stück als „sperrig“ oder „langatmig“ zu bezeichnen, wäre ein Euphemismus. Dabei lassen sich in der „Handlung“ – wenn man den Inhalt so nennen will – durchaus Bezugspunkte zur politischen Entwicklung der Entstehungszeit zu Beginn der 1930er Jahre und zum Hier und Heute finden, wenn der deutsche Mob aufbegehrt und im Pegida-Stil zu stampfenden Rhythmen anstimmt „Deutsche wollen wir sein, keine Weltbürger!“ dann muss man schonmal schlucken.

Foto: Wilfried Hösl

Im Zentrum der Oper steht der spanische Kaiser Carlos, eingedeutscht Karl, der fünfte seines Namens, ein Monarch von West nach Ost, der, in dessen Reich „die Sonne nie unterging“. Das war mal, jetzt ist Ende Gelände. Ka(r)hschlag. Kaiserdämmerung. In der Oper begegnen wir nur noch dem Wrack eines absoluten Herrschers, einem müden und resignierten Polit-Junkie am Ende seines Lebens, der nun einsehen muss, mit seinem Vorhaben, die gesamte Welt im Zeichen des Christentums zu vereinen und zu beherrschen, gescheitert zu sein. Sein Reich und sein Lebenswerk befinden sich in Auflösung; Nationalismus, religiöse und gesellschaftliche Konflikte, Krieg, Intrigen und Neid haben das Imperium sturmreif geschossen, die politische Vision zerfällt von Tag zu Tag. Der Kaiser hat der weltlichen Macht entsagt, man könnte neudeutsch auch sagen er hat sich verköhlerisiert, und zwar direkt ins Kloster Sant Yuste; da war doch was? Ja, richtig, liebe Opernfreunde, es handelt sich um den Opa von Don Carlo… Im Kloster führt er nun gelehrte Gespräche mit seinem Beichtvater Juan de Regla und legt eine Art Lebensbeichte ab. Wie in einer Traumwelt oder Kaleidoskop erscheinem ihm seine Familie – Mutter, Schwester, Bruder und Ehefrau – sowie seine diversen politischen Weggefährten und Widersacher: Martin Luther, Franz I. von Frankreich oder Sultan Soliman. Klingt theoretisch nicht mal unspannend… Leider wirklich nur in der Theorie. Denn das vom Komponisten selbst verfasste Libretto holpert und stolpert hilflos durch die Geschichte, in ausufernden Texten, teils gesprochen und teils gesungen, führt das Personal einen ermüdenden akademisch-trockenen Disput über Herrschaft, Geschichte und Glauben, den auch die zahlreichen Episodenrollen nicht aufweichen oder interessanter machen. Das ist eine Geschichtsstunde der ganz drögen Sorte, langatmiges katholisches Erbauungsgeschwätz ohne jedweden Ironiefilter. Wofür der gegenwärtige Hausherr ja ohnehin eine gewisse Afinität an den Tag legt, siehe Dialogues de Carmelites, Saint Francois d’Assise oder Palestrina… In diese Phalanx des Schreckens gesellt sich Karl V. wie die Klosterfrau zum Melissengeist. Dabei erweist sich nicht nur der ständige Wechsel zwischen Singen und Sprechen als überaus ermüdend – zumal die Tontechnik der BSO beim Verstärken der Sprechpassagen alles andere als einen guten Job macht – auch die Musik ist zwar hochkomplex, wirkt für heute Ohren aber dennoch überraschend angestaubt und wenig suggestiv; da hat jeder einzelne Takt des Wozzeck zehnmal mehr Substanz und Kraft.

Foto: Wilfried Hösl

Um diesem Mürbemacher wenigstens szenisch beizukommen und von der Musik abzulenken, hat man mal wieder La Fura dels Baus drauf losgelassen; immer ein probates Mittel, um musikalischen Leerlauf publikumswirksam in überbordender Bilderflut zu ertränken und zu kaschieren; hat ja auch bei Widmanns Babylon „funktioniert“. Ich bin nie ein Fan von Carlus Padrissa und seiner Show-Truppe gewesen und werde es in diesem Leben auch nicht mehr. Den Auftrag haben Padrissa und sein Team Lita Cabellut (Bühne, Kostüme und Videos), Michael Bauer (Lichtdesign) und Thomas Bautenbacher (Spezialeffekte) gründlich erledigt: ein Spektakel abzufeiern, dass alles zu spät ist und keiner mehr merkt, wie dünn die Sauce darunter wirklich ist. Immer wieder unglaublich, wie öde Bildgewalt sein kann…! Den Boden bildet ein riesiges Plantschbecken mit richtigem Wasser; das steht den Darstellern zwar nicht Unterkante Oberlippe, sondern nur Oberkante Sprunggelenk, macht aber trotzdem viele Wellen und plitscht und platscht immer schön rein in die Pianokultur. Es sei denn, sie fliegen an Seilen und Geschirren durch die Lüfte, um dort irgendwelche Kirchentagschoreos zu performen oder sie hocken auf merkwürdigen Piedestalen, die aussehen wie von Aliens im Chrystal-Rausch designed. Dazu gibt es noch die obligatorischen verspiegelten Stellwände und Hintergrundprojektionen, von denen man allerdings auf den erschwinglichen Plätzen nur verschwommene Spiegelungen im Wasser sieht. Das ist ein Schlag in selbiges, Theaterverhinderung durch visuellen Overkill. Für die Sänger bleibt ein schmaler Catwalk an der Rampe, den sie entlangtrotten können auf der Suche nach einer Anspielstation, der Chor darf auch die freigehaltene erste Parkettreihe nutzen und einmal lurcht die Akrobaten-Crew von Stuhllehne zu Stuhllehne durchs Publikum wie Gollum im Dutzend… Kann man mal machen? Klar. Aber kann man auch richtig doof finden.

Und damit zur Musik! Denn der einzige echte Lichtblick des Abends ist das Dirigat des BSO-Debütanten Erik Nielsen, der mit dem Staatsorchester wahre Wunder an Präzision und Transparenz vollbringt und die ebenso anspruchsvolle wie spröde Partitur zum Klingen bringt, als sei das von Puccini. Mit ganz viel Gespür für die Sänger und die Bühne dosiert er die Dynamik und spürt Klangräume auch dort auf, wo es eigentlich keine gibt. Das ist richtig gut, bitte unbedingt wiederkommen! Dann bitte mit einem anderen Stück, es würden mir ein paar einfallen.

Dass sich der Abend so hinzieht liegt leider auch an einem gewissen Vakuum in der strapaziös langen Titelpartie, mit welcher der unermüdliche Bo Skovhus wieder eine neue Herkulesarbeit gestemmt hat. Ich bin, wie meiner Leserschaft mittlerweile sicher bekannt ist, bekennender Fan dieses intelligenten und so unglaublich vielseitigen Künstlers. Und doch ist dies die erste Rolle, die ich ihm nicht abgekauft habe. Zunächst ist diese für einen ausgewachsenen Baßbariton geschrieben, für einen Wotan im Escorial. Das ist Skovhus nicht, das untere Register ist – zumindest an diesem Premierenabend – aspiriert, dünn, oft kaum zu hören, das Timbre zu hell und der Vortrag ungewohnt matt. Gebrochenheit, Resignation, Zorn, Hybris, vielleicht eine Spur Verrücktheit; all das könnte man in diesen Charakter legen. Bei Skovhus ist von alldem wenig zu spüren, das klingt alles seltsam verhalten. Bei allem Respekt, sich eine solche Monsterpartie mit dieser Textmenge „draufgeschafft“ zu haben, hatte ich nicht den Eindruck, dass er sich einen Gefallen getan hat.

Als einzige reine Sprechrolle sticht Karls Beichtvater, der junge Mönch Juan de Regla, aus dem Ensemble heraus, was wohl bedeutet, dass er als einziger noch irgendwie geerdet ist und außerhalb der Konflikte steht. Leider spielt und spricht Janus Torp die Rolle so affektiert und aufgesetzt, dass man eher peinlich als emotional berührt ist und seine Szenen sich noch mehr ziehen als ohnehin schon; hat man denn wirklich in einer Theater- und Film-Metropole wie München keinen besseren Schauspieler gefunden? Kann doch nicht sein?!

Insgesamt zählt die Besetzungsliste 26 Solopartien, von denen allerdings einige zusammengefasst werden können oder nur als zugespielte Stimmen vorkommen. Die meisten der Figuren tauchen nur mehr oder weniger schlaglichtartig auf und verschwinden nach einer kurzen Szene wieder aus der Handlung, relativ undankbare Aufgaben also. Doch die BSO wäre nicht die BSO, wenn sie nicht auch dafür wieder einige geradezu luxuriöse Besetzungen zu bieten hätte: so haben Okka von der Damerau als Juana und Anne Schwanewilms als Isabella mit ihren jeweils vielleicht fünf oder sechs Sätzen einen ganz kurzen Arbeitstag, den sie aber beide mit Intensität und Stimmfülle absolvieren. Die einzige etwas größere Frauenrolle ist Karls Schwester Eleonora, Gun-Brit Barkmin nutzt die Gelegenheit, mit ihrem metallisch-sandgestrahlten Soprantimbre einige Salome-Töne ins Auditorium zu feuern, die man durchaus als entsprechende Bewerbung verstehen kann. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke gibt den latent dandyhaften französischen König Franz I. mit einer wohldosierten Mischung aus charaktertenoraler Schärfe, genüßlicher Artikulation und abgerundeter Tongebung; eine der besten Leistungen des Abends! Da können seine Fachkollegen nur bedingt mithalten: Dean Power kann als Karls Bruder Ferdinand wenig zeigen, Kevin Conners hat gleich drei verschiedene Rollen – Pizarro, Frangipani und den Astrologen des Sultans – und macht aus allen dieselbe Knallcharge, während der Auftritt von Scott MacAllister als Francisco Borgia mit seinen gepressten, essigsauren Tönen und seinem penetranten Akzent eine Zumutung ist. Kraftvoll, wenn auch wenig kultiviert im Vortrag präsentieren sich Michael Kraus als Luther und Peter Lobert als Sultan. Als die allegorischen Geistererscheinungen und Stimmen der Uhren verkünden Mirjam Mesak, Anaïs Mejias, Natalia Kutateladze und Noa Beinart aus dem Opernstudio, was es dem Kaiser geschlagen hat.

Und dann ist da noch Mechthild Großmann. Ja, genau – DIE Mechthild Großmann. Zwar nicht persönlich, live und in Farbe, aber immerhin ihre nachtschwarze, luftgetrocknete und geräucherte Naturgewalten-Stimme vom Band. Papst Clemens VII., Kardinal Alba, ein Hauptmann… Und schon vorab einen langen Prolog, indem sie in die noch gespannte Stille sämtliche Titel und Besitztümer Karls aufzählt. Was schonmal dauert, man hatte noch auf die Ehrenämter als Hilfssheriff von Heringsdorf und als Vorsitzender der Prinzengarde von Düsseldorf-Hubbelrath gewartet. Kam aber nicht. Dafür ganz am Ende, nach der letzten Schwarzblende, noch mal der kaiserliche Wahlspruch: „Plus Ultra! – Immer weiter!“ Och nö, bitte nicht!

Damit genug für heute, gehabt Euch wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

Wer Lust hat, kann sich Karl V. am Samstag, den 23.2. ab 19.00 Uhr per Live-Übertragung auf www.staatsoper.de reinziehen.

Schloß Nymphenburg: Konzert der Kulturen – 7.2.2019

Wenn sich syrische und afghanische Klänge mit französischen Chanson-Klassikern und deutsch-romantischen Opernarien zu einem Konzertprogramm verbinden, dann weiss mittlerweile wohl jeder, was es es geschlagen hat; nämlich dass man in einer Veranstaltung der Mezzosopranistin Cornelia Lanz und ihrem, vor kurzem in Zukunft Kultur umbenannten, Ensemble sitzt. Und wenn so ein Konzert der Kulturen auch noch im feudalen Biedermeier-Ambiente des Hubertussaales in Schloß Nymphenburg stattfindet und dieser sich mit ungewohntem Instrumentarium füllt, sind schon von vornherein kreative Reibungsenergien zu erhoffen…

Bisher waren es in erster Linie Opernproduktionen, in denen klassische Hörgewohnheiten und Inszenierungstopoi durch die Auftritte geflüchteter Künstler ergänzt und durchbrochen wurden. Mit diesem Abend gingen die Macher, neben Zukunft Kultur auch das Deutsche Forum für Musik- und Theaterkultur e.V. und StudentInnen der Kulturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität, noch einen Schritt weiter, indem die Opernarien nicht mehr die maßgebliche Bezugsgröße, sondern eine – dramaturgisch gleichberechtigte – Komponente bilden. Dass sich diese, sei es Fatimas „Arabien, mein Heimatland“ aus Oberon oder Rossinis L’Italiana in Algeri, auf melodramatische oder humorvolle – in jedem Fall aber eurozentristische – Weise mit dem Thema Exotismus und Migration beschäftigen, rückt beide Programmsphären bis zur Verschmelzung zusammen.

Foto: Julia Dreisbach

Durchgehend präsent ist ein Instrumentalensemble aus fünf klassischen Streichinstrumenten, gebildet aus Musikern des Gärtnerplatztheaters, allen voran Konzertmeister Albert Ginthör. Gärtnerplatz-Kapellmeister Andreas Kowalewitz besetzt nicht nur am Piano die musikalische Schaltzentrale des Abends, sondern hat auch die kunstvollen und farbenreichen Arrangements geschaffen, in denen die traditionell westlichen und die orientalischen Instrumente Oud und Tabla zu einem erstaunlich homogenen Orchestersatz zusammengeführt werden, in Sachen Harmonien, Tonarten und Klangfarbe ein spannendes und durchweg geglücktes Experiment, zumal alle Beteiligten wie Herzblut und Virtuosität bei der Sache sind.

Unter dem Titel „Sehnsucht. Musik. Ankunft.“ wird ein breites Spektrum an Emotionen und Gedankenwelten formuliert; Flucht und Vertreibung sind zwar auch Thema, vor allem aber stehen Sehnsüchte und Phantasien aller Art im Vordergrund, die Frage nach Herkunft und Zukunft, der Verortung im geographischen wie im seelischen. Nimmt man dies zum Leitfaden durch den Abend, löst sich mancher stilistische Kontrast fast von selbst; ein irreal-todessehnsüchtiger Dialog wie in Schuberts „Der Leiermann“ kann auch dort stattfinden, wo kein Schnee liegt… Hier hören wir ihn entsprechend zweimal, erst über Streicherbegleitung in persischer Sprache rezitiert von Pouya Raufyan und dann gesungen von Cornelia Lanz. Auffallend ist den ganzen Abend, dass in den orientalischen Liedern Musik und Text für unsere europäischen Ohren nur selten wirklich korrelieren, oftmals und gerade in den selbst komponierten Liedern von Pouya Raufyan, bilden Texte um Heimweh und Zukunftsangst einen erstaunlichen Kontrast zur vitalen und kraftvollen Musik. In jeder Hinsicht zählten seine Auftritte zu den Höhepunkten des Abends, Musik und performance, die richtig ins Blut gehen. Aber auch die anderen Künstlerinnen und Künstler stehen dem nicht nach, so brennt etwa Abathar Kmash auf der Oud – einer arabischen Kurzhals-Laute – ein wahres Feuerwerk an tänzerischen Rhythmen und gefühlvollen Kadenzen ab und liefert sich mit dem Streichquintett immer wieder geistreich inspirierte Dialoge. Mit unwiderstehlichem Charme und gefühlvollem Vortrag begeistern die beiden, dem regelmäßigen Besucher der Zukunft Kultur-Produktionen bereits bestens bekannten syrischen Schwestern Walaa und Wissam Kanaieh, sowohl im Duett „Aatini al nay“ nach Khalil Gibran als auch solistisch und Liedern von Enrico Macias in französischer und spanischer Sprache.

Die zentrale Rolle des Abend nahm – bei aller künstlerischen Geschlossenheit – einmal mehr Cornelia Lanz ein, auch wenn sie die Zahl ihrer Gesangsauftritte aufgrund eines noch nicht ganz ausgeheilten Infektes kurzfristig etwas reduzieren musste und leider auf die Schwergewichte Verdi und Wagner verzichtete… Mit Weber und Rossini sowie dem erwähnten, ebenso todes- wie schönheitstrunkenen Leiermann war sie auf der sicheren Seite, mit Mezzoglut und Bühnentemperament wickelt sie das Publikum um jeden Finger einzeln. Zusätzlich hatte sie auch die Confèrence überbommen und führte durch den Abend, Kurzinterviews mit den Mitwirkenden eingeschlossen. Dass sich zum krönenden Abschluß alle MusikerInnen, der Badida-Chor der Musikpädagogik an der LMU und auch zumindest ein Teil des Publiukums zum Vortrag des tunesischen Liedes „Lamouni li rarou mini“ (Die Beider haben mich beschuldigt) vereinigten, hatte zwar einen leicht erlebnispädagogischen Touch, rundete das im besten Sinne multikulturelle Konzept aber nochmal stimmungsvoll ab.

Vom großen Geiger Gidon Kremer stammt der Ausspruch „Ein Musiker ist nur dann faszinierend, wenn ich nach zehn Sekunden vergessen habe, welches Instrument er spielt“. Diese Forderung wurde den ganzen, beinahe drei Stunden langen Abend umgesetzt; man hatte keine Nationen oder Instrumente erlebt, sondern schlicht und einfach Musik und Emotion. Mehr geht nicht.

Gehabt Euch also wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius

Bayerische Staatsoper: “Fidelio” – 27.1.2019

O welch ein Augenblick!“ – Beethovens Fidelio in einer festspielwürdigen Wiederaufnahme

Ja, ist denn heute immer noch Weihnachten? – So mag sich in Anlehnung an einen bekannten Slogan manch ein Opernfreund gefragt haben beim Anblick dieses Besetzungszettels. Schon rein nominell eine nachgeschobene Bescherung à la bonheur und wenn es, nach konventioneller Schätzung, etwa 30 Millionen verkappte Bundestrainer in diesem Land gibt, so sind es zumindest ein paar Tausend verkappte Opernintendanten, die ganz genau wissen, wen sie in der Mannschaft, bzw. der Besetzungsliste sehen wollen… Ganz klar: wenn ich eine Besetzung für Fidelio zusammenstellen und engagieren dürfte, es wäre dieselbe, die an diesem Abend realiter auf der Bühne stand. Das läßt sich nun wirklich selten genug sagen!

Fidelio an der BSO, das ist im nunmehr neunten Jahr die bildmächtige, hochambitionierte und immer noch ebenso bewunderte wie umstrittene Inszenierung von Calixto Bieto. Das Gefängnis nicht als Ort, sondern als Zustand, als die innere und zum Großteil selbst geschaffene Unfreiheit des Menschen; eine Interpretation im Sinne eines Jean-Paul Sartre und von Bieto und der Bühnenbildnerin Rebecca Ringst in nach wie vor spektakuläre, bestechend klare und zugleich seltsam poetische Bilder übersetzt. Dem Regiekonzept entsprechend gibt es hier keine Mauern, sondern das bekannte bühnenfüllende Labyrinth aus blankem Metall und Plexiglasböden und -wänden; offen und transparent, aber zugleich auch klaustrophobisch und ausweglos. Eine der besten und spannendsten Inszenierungen im aktuellen Repertoire.

Im gläsernen Knast des Selbst (Foto: Wilfried Hösl)

Mit besonderer Spannung erwartet war natürlich Kirill Petrenko mit seinem ersten Münchner Fidelio-Dirigat. Das Werk ist heikel, auch und gerade für den Mann – oder die Frau – am Pult, gilt es doch, das ungeheute Drama, den Furor und die überschwängliche Menschheitsutopie, die larger-than-lifeDemonstration für Freiheit und Humanität, hörbar zu machen und zugleich eine dramaturgisch nicht wirklich geglückte Handlung mit ihren stilistischen Divergenzen so weit wie nur möglich zu einer musikdramatischen Einheit zu verschmelzen. Was den ersten Punkt betrifft, triumphiert Petrenko mit einer unglaublich dynamischen und spannungsgeladenen Deutung, die sich vor allem auf starke Tempokontraste und überwältigende Steigerungen stützt. Sowohl in der Leonore III-Ouvertüre, die Bieto und der Premierendirigent zur Eröffnung des Abends ausgewählt hatten, wie auch im berühmten Gefangenenchor und in der sonst oft oratorienhaft steif angegangenen Finalszene entwickelt Petrenko die Spannung aus einem sehr langsamen, extrem ausgekosteten Anfang und zieht dann Tempo und Ausdruck gewaltig an. Aber auch in vielen kontemplativen Momenten erzielt der Dirigent mit dem grandiosen Staatsorchester wunderbar innige und hochemotionale Wirkungen – „O welch ein Augenblick“ stand als Motto über dem gesamten Abend. Wenn es überhaupt etwas auszusetzen gab, dann höchstens beim zweiten Punkt; nicht immer schienen sich die orchestralen Edelsteine auch zur Kette zu fügen, manchmal dominierte die Detailarbeit etwas über den großen erzählerischen Bogen, so daß der Gesamteindruck vielleicht weniger geschlossen und harmonisch war als bei Petrenkos Dirigaten gewohnt. Aber das ist, unnötig zu erwähnen, Jammern auf allerhöchstem Niveau…!

Den Joker gezogen: Tareq Nazmi (Minister), Jonas Kaufmann (Florestan) und Anja Kampe (Leonore) im Finale – Foto: Wilfried Hösl

Absolut nichts auszusetzen, egal auf welchem Niveau, gab es bei den Sängern, abgesehen davon, dass Wolfgang Koch als Pizarro unter einer zwar nicht angesagten, aber unüberhörbaren Indisposition litt und sein prachtvoller Baßbariton in der tiefen Lage daher schmal und angeraut klang, im Laufe des Abends sang er sich allerdings immer mehr frei und war in der Kerkerszene beinahe wieder auf gewohntem Level. Dort war Anja Kampe als Leonore sowieso, als Einzige hat sie – meines Wissens – bisher sämtliche Aufführungen dieser Produktion gesungen und ist daraus auch nicht wegzudenken. Mag sein, dass die Vollhöhe und die Koloraturen der „Abscheulicher!“-Arie seinerzeit etwas sicherer und strahlender geklungen haben, aber mit ihrer unglaublichen gestalterischen Intensität, ihrem schonungslosen Körpereinsatz und ihrem farbenreichen und in jedem Augenblick emotional bewegenden Vortrag ist sie Seele und Kraftquelle dieses Fidelio. Ihren festen Platz in der glanzvollen Ahnenreihe der großen Leonoren hat Kampe seit Jahr und Tag sicher! Dagegen kehrte Jonas Kaufmann nach längerer Rollenabstinenz zum Florestan zurück und präsentierte sich in ausgezeichneter Verfassung. Die Stimme klang ausgeruht und in allen Lagen stressfrei, Phrasierung und Ausdruck überzeugten – ganz besonders im Terzett mit Leonore und Rocco – und auch den höllischen Aufstieg zum „himmlischen Reich“ meisterte er erfreulich mühelos. Nur das halbstimmig gesäuselte „Gott!“ zu Beginn seiner Arie… Das wird er sich vermutlich nicht mehr abgewöhnen und es wird immer Geschmackssache bleiben. Eine längere Sitzung in der Maske hatte Günther Groissböck für den Rocco zu absolvieren, um so grau und zottelig auszusehen, wie von der Regie gewünscht; stimmlich schöpfte er auch an diesem Abend wieder aus dem Vollen, sein opulenter und stets kultivierter Schwarzbaß klang alles andere als grau oder abgenutzt; das war Vitalität und Klangpracht pur.

Eine regelrechte Luxusbesetzung war einmal mehr Hanna-Elisabeth Müller als Marzelline; mit ihrem quellfrischen, silbrig schimmernden Sopran zeichnet die Künstlerin in ihren wenigen Szenen das faszinierende Porträt einer verliebten jungen Frau zwischen Liebeshoffnung und gesellschaftlicher Einengung. Selten hat man den so völlig desillusionierten Schluß ihrer Arie so tieftraurig und emotional gestaltet gehört wie hier durch Müller und Petrenko. Dean Power legte in die undankbare Partie des Jaquino alles, was man nur hineinlegen kann und Tareq Nazmi gab den rettenden Minister – der bei Bieto allerdings eher das Gegenteil darstellt – mit warmen, souverän fließenden Baßtönen.

Großen Anteil an einem absolut festspielwürdigen Abend hatte auch der in diesem Stück so wichtige Staatsopernchor in der Einstudierung von Stellario Fagone. Großer Jubel im – selbstverständlich ausverkauften – Rund; so darf das Opernjahr 2019 gerne weitergehen…!

Gehabt Euch wohl und hört was Schönes,

Euer Fabius