Bayerische Staatsoper: Filmpremiere “Orphea in Love” von Axel Ranisch – 17.9.2022

Der Hades beginnt in Bogenhausen

Es gab sogar einen roten Teppich zu Beginn dieser ungewöhnlichen Spielzeitpremiere und drei oder vier echte Paparazzi, darunter der BSO-Haus- und Hof-Fotograph Wilfried Hösl, umschwärmten die eintreffenden Stars. Staatsoper goes to the movies hieß die Devise und Intendant Serge Dorny hatte das Haus geöffnet für die Premiere eines Films, den er selbst mit-initiiert hat. Ein Novum in der langen Geschichte des Hauses.

Oper und Film, die beiden ungleichen Zwillinge des story tellings, können sich inspirieren und von einander lernen, sich aber auch fürchterlich mißverstehen. Regisseure, die beide Klaviaturen virtuos und sinnstiftend zu bespielen verstehen, waren immer selten und nach dem Tod von Patrice Chéreau ist es nur noch ein einziger: der 39jährige Berliner Axel Ranisch. Mehrere große Kinofilme hat er gedreht, dazu zwei „Tatort“-Episoden, mittlerweile eine Reihe von Operninszenierungen und verschiedene Mischformen… dazu ist er auch als Schauspieler und Romanautor hervorgetreten.

Mit Orphea in Love geht er nun all in und inszeniert ein sinnlich überbordendes Meisterwerk, das tatsächlich beide Genres zusammenführt und mit spielerischer Leichtigkeit stilistische Grenzen überwindet. Was ist real, was ist Traum und was undefiniert? So entsteht ein zugleich in sich ruhendes wie ständig fließendes Kontinuum von Raum, Zeit und Handlung. Letztere folgt im Großen und Ganzen dem antiken Orpheus-Mythos, allerdings in die Gegenwart geholt und mit vertauschten Geschlechterrollen: hier ist es die Frau, die es mit den Mächten der Unterwelt aufnimmt, um ihren tödlich verunglückten Geliebten aus dem Schattenreich zu befreien. Dass der Herrscher der Unterwelt – hier ein großkotziger Künstleragent namens Höllberg – den Geliebten nicht einfach aufgrund gesanglicher Rührung frei gibt, sondern als Ergebnis eines Tauschhandels „Sein Leben gegen Deine Singstimme“, webt dem Drehbuch, welches Ranisch gemeinsam mit Sönke Andresen verfasst hat, noch einen ironischen Faust-Moment ein. Entsprechend gerät der Gang in den Hades, hier in Höllbergs Büro am Prinzregentenplatz verortet und mit Flammen, Rauch und dem Geisterchor aus dem Freischütz illustriert, zum traumatischen Trip in die eigene Vergangenheit. Wie das im Einzelnen aussieht und wie es ausgeht, sei hier nicht gespoilert; auf jeden Fall anders als gewohnt.

Vor allem ist Orphea in Love die Liebesgeschichte zweier Außenseiter, die sich singend, tanzend und irgendwie schwebend durch eine ihnen fremde Welt bewegen und ihre eigene Realität erschaffen: die junge Nele, gesegnet mit einer fantastischen Opernstimme, aber verfolgt von Dämonen der Vergangenheit und gefangen in einem miesen Callcenter-Job und der charmante Kleinganove und Taschendieb Kolya, der im ganzen Film nur ein einziges Wort sagt und seine Emotionen ausschließlich in Bewegung und Tanz ausdrückt. Mit welcher Natürlichkeit, Emotionalität und Ausdrucksstärke die Opernsängerin Mirjam Mesak, Ensemblemitglied der BSO, und der Tänzer Guido Badalamenti vom Gärtnerplatztheater die Protagonisten verkörpern, ist schlicht sensationell. Mesaks faszinierende Mimik und Körpersprache, ihr Wechselspiel von Verletzlichkeit, Verzagtheit, Sehnsucht und Stärke bewegt ebenso wie ihr gesanglicher Vortrag, der Arien, z.B. aus Madama Butterfly oder La Wally, zu emotionalen Brennpunkten macht. In seiner schillernden, chamälionartigen Präsenz steht Badalamenti ihr nicht nach, ein irrlichternder Geist, geheimnisvoll und wie nicht von dieser Welt, dessen lausbubenhafter Charme, je nach Licht und Kameraeinstellung auch durchaus dämonische Züge annehmen kann.

Gemeinsam mit seinem Kameramann Dennis Pauls gelingt Ranisch ein knapp zweistündiger veritabler Bilderrausch voller Poesie und melancholischem Zauber, durchbrochen von surrealen und absurd komischen Momenten am Rande der Trashigkeit. Ansichten des Münchner Nobelviertels Bogenhausen wechseln mit geheimnisvollen graffitistrotzenden Unterführungen und lost places wie einem stilgelegten Eisenbahndepot, wo Kolya und seine geheimnisvolle Komplizin hausen; die Schauplätze gewinnen ein Eigenleben. Grandios auch die Musik von Martina Eisenreich, der es gelingt, intensive atmosphärische Dichte zu schaffen und die Opernarien sinnstiftend zu ergänzen.

Neben Mesak und Badalamenti sind wieder zahlreiche Darstellerinnen und Darsteller aus dem Ranisch-Kosmos aufgeboten: Heiko Pinkowski gibt den Höllenfürsten und Agenten mit wunderbar widerwärtiger Schnoddrigkeit und virtuosem Zynismus, Ursina Landi seine skurril überdrehte Partnerin und Operndiva mit Stimmproblemen, Christina Große Neles despotische Chefin und Ursula Werner eine Mutter Couragehafte Diebin. Der gefeierte Rossini-Tenor Levy Sekgapane feuert als namenloser Straßensänger furiose Koloraturketten ab und auch die Gäste aus dem BSO-Ensemble, Tenor Galeano Salas und Bariton Konstantin Krimmel, begeistern mit ihren Einlagearien. Außerdem sind als special guests u.a. Serge Dorny in einem selbstironischen Cameo-Auftritt als Opernintendant, Schlagerbarde Christian Steiffen – doch, den gibt es wirklich und er heißt auch so! – und die Berliner Elektro Punk-Ikone Rummelsnuff zu erleben.

Orphea in Love ist ein cineastischer Cocktail, wie ihn wohl wirklich nur Axel Ranisch zu mixen versteht, ein hochpoetischer, berührender und zugleich saukomischer Film, eine einzige Liebeserklärung an die Oper, die Liebe und alle, die ihre Träume leben. Das muss man gesehen haben!

Wie hatte Ranisch in seiner Einführung so schön gesagt: „Lachen Sie! Weinen Sie! Benehmen Sie sich daneben! Wonach Ihnen auch immer sein mag“. Man soll es ja nicht verschreien… aber möglicherweise haben wir das Regie-Highlight der BSO-Saison ja bereits gesehen?

Gehabt Euch wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius