Bayerische Theaterakademie: “4.48 Psychose” – 25.10.2023

Die Stunde der Klarheit

Den diesjährigen World Opera Day hätte man theoretisch auch anders zelebrieren können. Etwa mit einem Besuch der neuen Zauberflöte im Gärtnerplatztheater oder gar der prähistorischen Madama Butterfly an der Bayerischen Staatsoper. Also irgendwie genießerisch und leicht konsumierbar, das geht doch immer. Theoretisch. Oder man wählte, wie der Kulturschock, mit der Kammeroper 4.48 Psychose von Philip Venables auf ein Drama von Sarah Kane an der Bayerischen Theaterakademie August Everding das totale Kontrastprogramm und damit einen Abend, der nicht nur das Nervenkostüm des Zuschauers, sondern auch die Grenzen der Gattung Oper durchaus strapaziert.

Schon die Vorlage, der gleichnamige Theatertext der britischen Skandal-Dramatikerin und Hauptvertreterin des sogenannten In-ye-face ( sinngemäß übersetzt:„auf die Zwölf“ )-Theaters ist ganz harter Stoff: eine Geschichte im herkömmlichen Sinn wird nicht erzählt, es gibt keine Handlung, keine Charaktere und keine dialogischen Strukturen. Einziges Thema ist die aus einer psychischen Erkrankung erwachsende Verzweiflung eines anonymen Ichs, ein Selbstporträt der Autorin, die sich tragischerweise im Alter von nur 28 Jahren das Leben nahm. In anderthalb Stunden erleben wir eine wechselnde und doch immer wiederkehrende Reihe von Gedanken- und Gefühlsfetzen, Momentaufnahmen zwischen Dämmern, Träumen und Wachen, der Titel bezieht sich auf die Uhrzeit, zu der die Psyche zwischen zwei Medikamentendosen für eine Stunde und zwölf Minuten zur Klarheit findet. Diese Vorlage ist kein Theaterstück im eigentlichen Sinne, sondern ein komplexes Textfeld, bei dessen szenischer Umsetzung die Interpreten einen praktisch unbegrenzten Spielraum haben.

Fotos: Cordula Treml

Den hatte auch der Komponist Philip Venables bei der Komposition seiner Oper, abgesehen von der Auflage des Verlages, den kompletten Text bis zum letzten Komma ungekürzt und unbearbeitet übernehmen zu müssen. Als erstes entschied er, die anonyme Protagonistin auf sechs Frauenstimmen aufzuteilen, die aber, dem Text gemäß, nicht als dramatis personae, sondern als Facetten eines Ichs agieren; in der Londoner Uraufführung benannte er die Stimmen mit den Vornamen der Sängerinnen, hier wurde auch darauf verzichtet. Gegliedert ist das Werk in 24 Szenen, welche aber nur in der Partitur als Abschnitte vermerkt und nicht strukturell oder auditiv erfassbar sind. Der Text wird auf die Solistinnnen aufgeteilt, die teilweise live singen – aber auch schreien, atmen, wispern, stöhnen – zwischendurch verstärkt oder in Form von vorproduzierten Aufnahmen darüber gelegt werden; das Sounddesign von Christian Späth und Ememkut Zaotschnyj gelingt spektakulär harmonisch. Das kammermusikalisch besetzte Orchester beinhaltet drei Saxophone und jede Menge Percussion, darunter auch zahlreiche Alltagsgegenstände, einmal wird sogar live an einem Baumstamm gesägt… Ein Klangarsenal, das trotzdem relativ bald an seine Grenzen stößt. Überhaupt ist Venables’ Musik nicht wirklich imaginativ und dreht im Laufe des Abends zunehmend leer, so dass die letzte halbe Stunde sich doch ziemlich zieht… Auch fällt mit zunehmender Spieldauer eine Diskrepanz zwischen der Verzweiflungsprosa des Textes und der eher auf Effekt gepolten Komposition störend ins Gewicht.

Wie inszeniert man ein Werk, bei dem sich eine Illustration eigentlich verbietet und das nur im eigenen Kopf und in der eigenen Psyche stattfindet? Regisseur Balász Kovalik und sein Bühnenbildner Sebastian Ellrich haben eine abgesenkte, an allen Seiten verspiegelte Spielfläche in den umfunktionierten Industriebau der Reaktorhalle der TU München implantiert, die Zuschauer sitzen im Rechteck rings herum und schauen wie in eine Arena oder ein Freigehege auf die Darstellerinnen. Stimmen und Zuspieler kommen dazu aus den Deckenlautsprechern und einem altmodischen Kassettenrekorder, auf die Längswände werden zudem noch Arztberichte, Testreihen und Gesprächsprotokolle projeziert. Kovalik ist sichtbar, und zumeist auch mit Erfolg, um Konzentration und Versachlichung bemüht, entgeht der Klischeefalle allerdings nicht durchgehend; neben vielen ruhigen und bewegenden Momenten unterlaufen auch manche arg plakative und etwas aufgesetzte Einfälle, z.B. wenn sich eine der Sängerinnen am Flugwerk Königin-der-Nacht-gleich in die Höhe ziehen läßt und aus einer Papiertüte mit vollen Händen Pillen hinunter wirft wie Kamelle beim Rosenmontagszug. Auch die schlabbrigen Jogginghosen und Oversize- Pullis und Hemdchen hat man als Chiffre doch schon das eine oder andere Mal zuvor gesehen.

Nicht genug bewundern kann man die Leistung der sechs jungen Sängerinnen Elisabeth Freyhoff, Laura Mayer, Tamara Obermayr, Harpa Ósk Björndóttir, Julia Pfänder und Katya Semenisty, die diese ungewöhnliche Herausforderung musikalisch und in ihrem eindrucksvoll variablen Spiel mit größter Souveranität bewältigten und der eher akademischen Komposition Leben einhauchten soweit wie eben möglich.

Für die instrumentale Grundlage sorgten die zwölf Musikerinnen und Musiker des Ensembles der/gelbe/klang unter der Leitung von Maria Fitzgerald. Dabei sind alle Ausführenden an eine technische Vorrichtung angeschlossen, die ihnen das vom Komponisten vorgesehene Tempo und Beat permanent per Ohrhörer vorgibt. Interpretation, ein Anziehen oder Auskosten, ist also nicht, prinzipiell klingt die Musik in jeder Aufführung irgendwo auf der Welt immer genau gleich. Ein Gedanke, den man durchaus befremdlich finden darf. Nur an einer Stelle relativ kurz vor Schluß, wenn zum einzigen Mal ein Moment kompletter Stille stattfindet, obliegt es einer der Sängerinnen, zu entscheiden, wann es mit ihrem nächsten Einsatz weitergeht.

Am Ende des Abends bleiben durchaus Fragen und ein gewisses Unbehagen. Das Projekt will die Theaterakademie ausdrücklich als Diskussionsbeitrag verstanden wissen mit dem Ziel, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren und die immer noch bestehende gesellschaftliche Ignoranz zu überwinden. Das ist selbstverständlich sehr zu begrüßen; ob 4.48 Psychose dazu das geeignete Vehikel ist, darüber darf man sicherlich geteilter Meinung sein.

Gehabt Euch also wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

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