BR-Symphonieorchester: Simon Rattle dirigiert “Idomeneo” – 17.12.2023

Es sind keine zweihundert Meter Wegstrecke – nur einmal den Kaiserhof der Münchner Residenz durchqueren! – um vom Ort der Uraufführung von Mozarts Idomeneo, dem Cuviliéstheater, zum Herkulessaal zu gelangen, wo der titelgebende unglückselige Kreterkönig samt seiner Entourage den nächsten Versuch unternahm, auch das heutige Münchner Publikum zu erobern. Das war, auch nicht viel weiter entfernt, im Nationaltheater, zumindest bei den letzten drei Anläufen nicht gelungen.

Offiziell zählt das 1781 uraufgeführte Werk zwar zum Kanon der sieben großen Mozart-Opern, in Sachen Popularität und Aufführungszahlen bleibt es allerdings deutlich hinter seinen Nachfolgern zurück. Nicht nur, dass es fast so lange dauert, wie nach landläufig bajuwarischem Verständnis nur Wagner-Opern dauern dürfen, es ist und bleibt nunmal eine klassische opera seria ganz altertümlichen Zuschnitts: ein holzschnittartiges Libretto, eine Dramaturgie nach Schema F, eindimensionale Charaktere und schließlich ein drangeklebtes, beim besten Willen nicht verargumentierbares Happy End durch Orakelspruch… Das kann sich schon gewaltig ziehen und ist alles andere als ein Selbstläufer; hier müssen die Profis ran, echte Überzeugungstäter, die wirklich etwas dazu zu sagen haben.

Ein solcher ist bekanntlich Sir Simon Rattle, der den Idomeneo bisher an nahezu sämtlichen Karrierestationen dirigiert hat und ihn nun auch im Triumph auf das Podium der Residenz bringt. Konzertant und ohne szenische Hilfsmittel, Diashows, Lichtspiele oder V-Effekte – eine seltsame Traverse aus Metallrohren und Leinwand für die Übertitel ist der einzige Einbau im Saal – entfaltet Rattle mit den einmal mehgr großartigen Musikerinnen und Musikern des BR-Symphonieorchesters ein fulminantes Klang-Theater von maximaler Imagination, Tiefenschärfe und aus der Musik entwickelter Dramatik. „Kontrollierter Klangrausch“ heißt einmal mehr Sir Simons Devise und eine auch nur im Ansatz vergleichbar suggestive und farbenreiche Interpretation ist dem Kulturschock in nunmehr auch schon gut vierzig Jahren aktiven Opernerlebens noch nicht zu Ohren gekommen. Das ist nicht einfach nur phänomenal dirigiert und musiziert, das verwandelt die singenden Papiertiger der Vorlage mit einem Mal zu Menschen aus Fleisch und Blut und dröge akademische Gefühlsbehauptungen in pure Leidenschaft; und das, ohne jemals den stilistischen Rahmen der opera seria zu überdehnen oder gar zu sprengen. Natürlich kann nichtmal Rattle jede musikalische Redundanz der Partitur wegzaubern und jeden dramaturgischen Durchhänger auffüllen, aber er macht deutlich, wo der junge Mozart die Konventionen des Genres erfüllt und wo er sie aufgebrochen und neu definiert hat. Das ist so spannend wie die Aufführung als imaginäres Theatererlebnis. So machen konzertante Aufführungen Sinn, bitte mehr davon!

Großer Jubel für Linard Vrielink, Andrew Staples, Sir Simon Rattle, Magdalena Kožená, Elsa Dreisig und Sabine Deveilhe (Foto: Bayerischer Rundfunk)

Das funktioniert natürlich nur mit einem so grandiosen und perfekt aufeinander abgestimmten Sängerensemble wie es an diesen drei bejubelten Abenden versammelt war: Wo Sir Simon ist, da ist zumeist auch seine holde Gemahlin, Mezzosopranistin Magdalena Kožená, nicht weit; eine Konstellation, die nicht immer und bei jedem Jubel auslöst. Diesmal allerdings wars ein Glücksfall, denn Kožená gestaltet den tugendhaften Prinzen und schließlichen Thronfolger Idamante mit purem, sinnlich strömendem Mezzo-Klang, sehr nuanciert und mit echter Noblesse, zugleich aber auch ungemein eindringlich in seinen emotionalen Zwiespalten. Ihr Timbre harmoniert zudem perfekt mit dem von Sabine Deveilhe als Ilia, die nicht nur über exquisite lyrische Qualitäten und berührende Stimmschönheit verfügt, sondern der trojanischen Prinzessin im griechischen Luxusgefängnis auch starkes gestalterisches Profil und königliches Selbstbewußtsein verleiht; ihre Duette mit Kožená markierten besondere klanglich-emotionale Glanzpunkte des Abends. Für die große vokale Geste und dramatischen Furor ist im Stück die unterlegene Rivalin Elettra zuständig, und Elsa Dreisig läßt sich keine Gelegenheit entgehen, mit Spitzentönen und Koloraturketten gehörig aufzutrumpfen; endlich mal eine Sängerin, bei der man die Furien, die sie permanent besingt, auch stimmlich hört, ohne dass sie in pseudo-romantische Effekthascherei verfällt. Dreisig räumt mit ihrem virtuosen, schlank geführten und eher kühl timbrierten Sopran richtig ab, insbesondere in ihrer finalen Bravourarie D’Oreste, d’Ajace le furie ho in seno.

Dass der Titel“held“ sich gegenüber dieser geballten Frauenpower zu behaupten wusste, spricht für die überragenden stimmgestalterischen Fähigkeiten von Andrew Staples. Der visuell eher rustikal als royal wirkende Sänger verfügt über einen hellen Tenorklang mit metallischer Grundierung und einem im ersten Moment eher mittelmäßig attraktivem Timbre, besticht aber durch präzisen, stilsicheren Vortrag, stimmliche Beweglichkeit und brillante Koloraturen; die gefürchtete Arie Fuor del mar un mar ho in seno meistert er mit maximaler Souveranität und Virtuosität. Vor allem zeichnet er den Herrscher als eine zwischen menschlicher Schwäche und machtpolitischem Anspruch zerrissene Figur und gibt der Rolle ein Profil, welches das Lbretto eigentlich gar nicht hergibt.

Auch die drei kleineren Partien halten das überragende Niveau der Protagonisten: Linard Vrielink schraubt als zwielichtiger Berater Arbace seinen Vortrag in fast countertenorale Höhen, der kurzfristig eingesprungene Allan Clayton ist für die paar Sätze des Oberpriesters beinahe eine Luxusbesetzung und Tareq Nazmi orgelt den Orakelspruch bassgewaltig und klangsatt von der Empore. Und von der Klangkultur und Sprachmächtigkeit des, hier relativ klein besetzten, BR-Chors in der Einstudierung von Peter Dijkstra zu schwärmen, hieße einmal mehr, Olivenöl nach Kreta zu importieren…

Gehabt Euch also wohl, kommt gut rüber und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

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