Bayerische Staatsoper: “Pique Dame” – 4.2.2024

Düster, düsterer, am düstersten… Wer jetzt noch einen Super-Superlativ on top braucht, kann getrost anfügen: Pique Dame. Denn die Novelle von Puschkin gehört vermutlich zu den dystopischsten und nihilistischsten Texten der russischen Literatur, eine durch und durch hoffnungslose Bestandsaufnahme einer materialistischen, verrohten und egoistischen Gesellschaft, in der jeder gegen jeden agiert und die nur mühsam von einer überholten Ständeordnung zusammengehalten wird. Der Protagonist, der von Haus aus unterpriviligierte Offizier Gherman, begehrt nicht gegen die Ordnung an sich auf, sondern zerstört in seinem wahnhaften Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg sich und alle, die ihm in die Nähe kommen; ein russischer Bruder im Geiste von Wozzeck und Rigoletto. Um Spielsucht geht es in Pique Dame nur sehr am Rande und auch die amour fou zwischen Gherman und Lisa entpuppt sich schnell als Besessenheit und Projektion besagter Phantasien. Auch wenn Tchaikovskijs Oper der Vorlage von Puschkin schon den einen oder anderen gesellschaftskritischen Zahn gezogen und die Geschichte etwas romantisiert hat, so hat sie dennoch das Zeug zu einem echten Psycho-Thriller. Man muss es nur umsetzen.

Allein auf weiter Flur: Gherman (Brandon Jovanovich) und Lisa (Asmik Grigorian) – Foto: Wilfried Hösl

Düster im Sinne von dunkel ist es auch in Benedict Andrews’ Inszenierung der BSO. Viel mehr aber auch nicht. Der Regisseur, dem in der Vorsaison mit Così fan tutte ein originelles und präzises Regie-Debüt am Haus gelungen war, enttäuscht diesmal auf der ganzen Linie und bleibt alles schuldig, was diese Oper ausmacht: Atmosphäre, Interaktion und selbst eine Andeutung davon, was er zu erzählen gedachte. Auf der weitestgehend leeren, von schwärzlichgrauen Wänden eingefassten und von Jon Clark diffus ausgeleuchteten Bühne bleiben die Darsteller fast dreieinhalb Stunden lang sich selbst überlassen. Wenn man sich einen so namhaften Bühnenbildner wie Rufus Didwiszus leistet, warum hat man ihn dann nichts bauen lassen? Dass dieses Nichts an Bühne auch noch zwischen den Szenen minutenlange Umbaupausen erfordert, ist noch weniger nachvollziehbar. Die währenddessen auf den Zwischenvorhang projezierten schwarz-weißen Videosequenzen mit Close-ups der Protagonisten sind zwar stylish und verraten den Filmregisseur, einen echten Erkenntnisgewinn haben sie allerdings nicht. Die Personenführung ist von geradezu peinlicher Unbeholfenheit, insbesondere vor der Führung des Chores hat Andrews kapitiuliert, indem er den Chor im Ballbild auf eine Tribüne setzt oder ansonsten gerne ins Off verbannt; sofern die betreffenden Passagen nicht ohnehin gestrichen sind. Den Kinderchor zu Beginn, der Soldaten spielt und die Vernichtung der Feinde Russlands besingt, so unreflektiert und unkommentiert stehen zu lassen, ist in diesen Tagen ein komplettes No Go und hinterlässt einen extrem unangenehmen Beigeschmack… Lediglich zwischen den beiden Protagonisten entwickelt sich gelegentlich so etwas wie Spannung und Präsenz; diese allerdings dürften die Sänger dank ihrer Persönlichkeit wohl eher in Eigen-Regie kreiert haben. Ansonsten wird die Leere der Inszenierung mit ein paar platten Russen-Mafia-Klischees mit fetten Autos und Aufmachungen aus dem Rotlicht-Milieu (Kostüme: Victoria Behr) notdürftig kaschiert. Ein szenisches Armutszeugnis erster Ordnung, am Premierenabend zu Recht mit lautstarken Buh-Rufen quittiert.

Was noch zu retten war, rettete die grandiose Asmik Grigorian als Lisa fast im Alleingang. Die armenische Sopranistin ist, neben Barbara Hannigan, die charismatischte, aufregendste und vielschichtigste Singdarstellerin der Gegenwart, jeder ihrer Auftritte ist ein Ereignis für sich. Fach- oder Repertoiregrenzen scheinen für sie nicht zu existieren, mit ihr ist, egal in welcher Rolle, eine Vollgasveranstaltung garantiert. Ob ihre Stimme im landläufigen Sinne „schön“ ist oder nicht, darüber kann man durchaus geteilter Meinung sein, doch macht die Künstlerin mit ihrer Energie und Intensität solche Kategorien ohnehin obsolet; jeder Ton ist, bei maximaler technischer Sicherheit und Kontrolle, voller Emotion und Gestaltungswillen, Nebensächlichkeiten und Vordergründe kommen bei ihr nicht vor. Wundersamerweise erweckt auch ihr eher metallisch grundiertes Timbre nie den Eindruck von Kälte, sondern gibt die gesamte emotionale Bandbreite her. So gelingt es ihr als Einziger, den Charakter ihrer Rolle erfahrbar zu machen und eine entsprechende Fallhöhe aufzubauen.

Einsames Zentralgestirn des Abends: Asmik Grigorian als Lisa (Foto: Wilfried Hösl)

Neben ihr verblassten die Kollegen nahezu zu einer supporting cast; eine größtenteils solide Besetzung, wenn auch unter dem Goldstandard, den man in einer Premiere an einem Champions League-Haus erwartet. Vor allem Brandon Jovanovich in der zentralen Partie des Gherman bot eine eher durchwachsene Leistung; zwar konnte er sich nach einem desolaten Beginn mit belegtem, brüchigen und wacklig intonierten Vortrag und einem geschmissenen Spitzenton gesanglich im Verlauf des Abends konsolidieren, hatte aber bis zum Schluß mit Höhenproblemen zu kämpfen und wirkte gesanglich nie wirklich souverän. Wenn hier eine Indisposition vorlag, wäre eine Ansage unabdingbar gewesen. Steigerungspotenzial ist für den, im Normalfall ja durchaus zuverlässigen, Sänger im Laufe der Serie also gegeben.

Ein glatter Ausfall war die kleine, aber äußerst wichtige Partie der Gräfin; der Regie war nichts dazu eingefallen und auch Violeta Urmana gelang es nicht, dies zu kompensieren. Die Figur ist mit der Vorgeschichte wie mit der Opernhandlung schicksalhaft verknüpft, eine bizarre, geisterhafte und bedrohliche Gestalt aus einer anderen Zeit, bei Urmana leider nur eine etwas mürrische ältere Dame, deren Funktion sich einem Zuschauer, der das Stück nicht kennt, nichtmal ansatzweise übersetzt haben dürfte. Einen kurzen Glanzpunkt setzte Boris Pinchasovich mit der Arie des Fürsten Yeletzkij im zweiten Akt, eine Demonstration sämig strömenden Baritonschmelzes von melancholischem Zauber und Hingabe; so wunderbar gesungen hat der Kulturschock die Arie zuletzt vom unvergessenen Dmitri Hvorostovskij gehört. Schade, dass Pinkhasovichs bekanntes Potenzial als Darsteller ebenfalls von der Regie verschenkt wurde. Auf jeden Fall hat er den Wettstreit der baritonalen Salonlöwen gegen den stimmlich sehr viel grobkörnigeren Kollegen Roman Burdenko als Graf Tomskij haushoch gewonnen.

Hoch die Hände, Wochenende! (Foto: Wilfried Hösl)

Victoria Karkacheva macht in der Romanze der Polina mit schönem Mezzotimbre und Stilgefühl auf sich aufmerksam, Kevin Conners (Tchekalinskij) und Bálint Szábo (Surin) liefern routinierte Mafioso-Klischees und Tansel Akzeybek (Tchaplitzkij), Bogdan Volkov (Narumov), Daria Proszek (Mascha) und Nathalie Lewis (Gouvernante) ergänzen das Ensemble.

Eine durchaus couragierte Entscheidung war es, das Dirigat dieser Premiere einem Debütanten, dem erst 35jährigen usbekischen Dirigenten Aziz Shokhakimov, anzuvertrauen. Dieser war hörbar bestrebt, mit dem Staatsorchester die düstere Atmosphäre der Szene aufzunehmen und zu doppeln, was in einigen Momenten, etwa in der Szene im Schlafgemach der Gräfin, auch durchaus aufging. Die Balance zwischen den Instrumentengruppen hingegen war nicht durchgehend optimal und im Laufe des Abends schlich sich eine gewisse Tendenz zum Plakativen ein. Sicherlich eine Talentprobe, der Kulturschock hätte dem jungen Maestro allerdings ein etwas weniger exponiertes Debüt gewünscht…

Fazit: eine weitere enttäuschende Neuproduktion dieser, freundlich formuliert, glücklosen Intendanz.

Gehabt Euch also wohl und hört noch was Schönes,

Euer Fabius

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