Franz Schrekers Die Gezeichneten – da war doch mal was? Und wie! Am 18. Dezember 1987 hatte das Werk an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf Premiere… Sorry, liebe Kölner, daß ich das gleich eingangs erwähnen muss, aber jene Produktion, und ich bin in jede mir zeitlich mögliche Aufführung davon gegangen, hat mich künstlerisch, emotional und überhaupt begeistert und geprägt wie nur wenige Opernabende überhaupt. Das Orchester unter Hans Wallat, die atemberaubende Musik Schrekers, die Inszenierung von Günter Krämer und nicht zuletzt Trudeliese Schmidt, William Cochran und Sigmund Cowan in den Hauptrollen… eingebrannt auf der seelischen Matrix bis zum jüngsten Tag. Oder anders ausgedrückt: bei diesem Stück liegt die Messlatte sehr, sehr hoch. Und, ja, ich bin süchtig nach Schreker.
Die Oper spielt offiziell im Genua der Renaissance. Das muss man nicht zwingend so inszenieren, sollte es aber im Hinterkopf haben. Um was es wirklich geht? Um den zerstörerischen Dualismus von Schönheit und Häßlichkeit, um Kunst, Sehnsucht, Begehren, Obsessionen, Triebe und sexuelle Gier. Aber auch übersteigerte Sensibilitäten, Wahn, Psychosen und Komplexe, um Selbstverwirklichung und -zerstörung, Lebens- und Todestrieb, das Vitale, das Kranke und das Abartige. Oder wie es im Stück als Motto formuliert wird: “Die Schönheit sei Beute des Starken!”. Na, wenn es weiter nichts ist… damit kann man doch schon mal einen Abend verbringen. Dazu eine Musik, die affektgesättigt ist bis zum Geht-nicht-mehr, die glüht und funkelt, perlt und dräut, die zwar sämtliche zeitgenössischen Idiome der Jahrhundertwende kennt und doch eine ganz eigene und unverwechselbare Klangsprache und -struktur entwickelt, in allen Farben malt und in jedem Takt ins Zentrum geht. Hier kommt alles zur Sprache, die Schönheit und der Schrecken, die tiefsten Abgründe der Existenz; dazu entfaltet die Partitur eine schwüle Sinnlichkeit, neben der sich Strauss’ Salome ausnimmt wie ein Kindergeburtstag. “Schreker-Zauber” eben, die Faszination des Absonderlichen. Das muss man erstmal so realisieren und dirigieren können…! Und die szenischen Anforderungen sind kaum geringer, nicht nur das zerstörerisch-obsessive Dreiecksverhältnis der Protagonisten Alviano, Carlotta und Tamare muss zwingend herausgearbeitet werden, auch das schönheitstrunkene künstliche Eiland “Elysium”, das der hässliche Krüppel Alviano erdacht und errichtet hat, muss optisch Gestalt annehmen und neben der musikalischen Imagination bestehen können. Auch wenn am Ende zwei der drei Hauptpersonen tot und die dritte wahnsinnig sind, darf man das Stück nicht auf einen shabby little shocker reduzieren, hier geht es auch für den Regisseur um alles.
Nun ist die Kölner Oper wegen Grundsanierung des Stammhauses derzeit ausgelagert und an diversen Ausweichspielstätten im ganzen Stadtgebiet unterwegs; ein Handicap und eine Chance zugleich. Die Gezeichneten finden im “Palladium” statt, einer renovierten Fabrikhalle in einem nördlichen Vorort, in Bauweise und Grundriss der Bochumer Jahrhunderthalle vergleichbar, nur erheblich kleiner. Patrick Kinmonth, bereits als Ausstatter für Robert Carsens Ring-Inszenierung in Köln tätig, hatte diesmal auch die Regie übernommen. Dabei hat er eine durchaus originelle und sinnfällige Lösung gefunden, den außergewöhnlichen Raum zu bespielen: das Publikum sitzt auf zwei gegenüberliegenden Tribünen auf beiden Seiten der Spielfläche, man geht also quasi durch das Bühnenbild zu seinem Platz und hat, zumindest in den unteren Reihen, das Gefühl, mitten auf der Bühne zu sitzen. So nah am Geschehen wie es nur geht, das sind fast schon Mitmach-Plätze. Da “naturbelassen” und unplugged gesungen und musiziert wird, muss man sich etwas in die Akustik einhören, das Orchester kommt von einer Seite (zwischen den Tribünen) und wenn ein Sänger herumgeht oder den Kopf dreht, ändert sich natürlich der Klang… und wenn ein ausgewachsener Heldentenor wie Stefan Vinke drei Meter vor einem steht und schmettert… Gänsehaut pur. Das ist zweifellos ein Pluspunkt von Kinmonth’ Inszenierung. Der zweite ist die dichte, intensive und doch natürliche Personenführung; da steht niemand blöd in der Gegend rum, die Charaktere sind plastisch und glaubwürdig gezeichnet, es gibt weder Löcher noch Übertreibungen. Weniger überzeugend geriet allerdings seine Sicht auf das Stück selbst, welches er auf einer Art Schrottplatz spielen läßt. Ein Haufen Autowracks säumen den Schauplatz, mitten drin zwei erhöhte Glaskabuffs, eines dient Alviano, dem Hausherren und Inhaber dieses Un-Ortes, als Büro und Behausung, das andere Carlotta als Atelier und Boudoir. Prinzipiell ist gegen die Erfindung dieser Rahmenhandlung, bzw. zweiten Ebene wenig einzuwenden, der mißgestaltete und grämliche Mechaniker Alviano träumt sich hinein in eine Welt der verschwenderisch-sinnlichen Schönheit und trägt den stückimmanenten Kampf des Hässlichen in einer schönheitssüchtigen Welt in sich aus. Leider ist Kinmonth diese Synthese szenisch nicht gelungen, beide Ebenen laufen komplett nebeneinander her, im Grunde wird nicht eine Geschichte erzählt, sondern zwei verschiedene. Die vielen losen Enden des Geschehens kann der Regisseur nirgends wirklich sinnstiftend verbinden. Das Ergebnis ist leider ein szenisches Kuddelmuddel, in dem außer Alviano himself alle Beteiligten mal heutig und mal historisch gewandet auftauchen. Insbesondere der dritte Akt, der auf besagtem künstlichen Eiland spielt, geht hier überhaupt nicht mehr auf, weder die improvisierte Kunstausstellung auf dem Schrottplatz noch der “Tatort”mäßige Aufmarsch von Polizei und Sanitätern mit Absperrbändern am Schluß sind adäquate Lösungen. Schade, da war nicht nur das Konzept wackelig, es wurde auch nicht zuende gedacht und gearbeitet.
Eine gewisse Themaverfehlung leistete sich auch GMD Markus Stenz am Pult des Gürzenichorchesters. Rein kapellmeisterlich war ihm wenig vorzuwerfen, der Orchesterklang war homogen, geschmeidig und phasenweise von betörendem Wohlklang, eine gewisse Flachheit und mangelnde Tiefenschärfe dürften der speziellen Akustik geschuldet sein. Was in Stenz’ Lesart hingegen komplett fehlte, war die klare Kante, die Schroffheiten und Brüche der Musik, aber auch das Narkotische und Unbedingte. Gerade an den Kulminationspunkten, den triebhaften Momenten des Wahnsinns und der Exaltiertheit, blieb Stenz für diese Bekenntnismusik immer die entscheidende Spur zu kontrolliert, zu akademisch, zu neutral. So funktioniert Schreker nicht.
Eine Glanzleistung liefert Stefan Vinke als Alviano, die Partie liegt ihm perfekt in der Kehle, wie für ihn geschrieben. Vinke verfügt über die Dramatik und die strahlende Durchschlagskraft eines echten Heldentenors, führt die Stimme aber schlank und flexibel und hat auch die Beweglichkeit für die zahlreichen Parlando-Stellen. Im dritten Akt, wo für die meisten Kollegen aus dem Charakterfach Ende der Fahnenstange ist, erreicht er gerade mal Betriebstemperatur und bewältigt die Spitzentöne leuchtend und mühelos. Grandios auch seine Darstellung des hinkenden und innerlich zerrissenen Neurotikers in der Tragik seiner gespaltenen Persönlichkeit. Gäbe es einen Opern-Oscar, Vinke wäre heuer ein ganz heißer Kandidat für die beste männliche Hauptrolle! Ebenbürtig der kernige Bariton von Simon Neal (nicht zu verwechseln mit dem Tenor Simon O’Neill!) als Vitelozzo Tamare. Klug vermeidet der Künstler wohlfeile Schurkenklischees zugunsten einer differenzierteren Rollengestaltung. Hier ist auch der skrupellose Machtmensch, Verführer, Mörder und Vergewaltiger Tamare ein “Gezeichneter”, ein seelisches Wrack, der seine Perversion aber mit der Maske des glatten Politschnösels zu tarnen weiß. Erst im letzten Dialog mit Alviano enthüllt er seine gesamte Niederträchtigkeit, was dann umso erschütternder rüberkommt. Leider stand die Premierenbesetzung der Carlotta, Nicola Beller-Carbone, an diesem Abend nicht zur Verfügung. An ihrer Stelle bemühte sich Ingeborg Greiner mit großem Einsatz, sich in das Ensemble zu integrieren, was ihr darstellerisch auch durchaus gelang. Das relativ harte und wenig verlockende Timbre, das permanente Vibrato und einige Intonationsprobleme bereiteten dagegen wenig Freude. Auf erfreulich hohem Niveau präsentierte sich das Ensemble der Kölner Oper, wobei insbesondere der saftige Baß von Oliver Zwarg in der (vom Komponisten so intendierten) Doppelrolle als Herzog Adorno und Capitano di Giustizia und das quirlige Buffo-Paar Katrin Wundsam (Martuccia) und Ralf Rachbauer (Pietro) hervorzuheben sind.