Wieviel Boris darfs denn sein? Wer Mussorgskijs Oper aufführen will, muß zunächst die dramaturgische Gretchenfrage „Wie hälst Du es mit der Fassung?“ beantworten: die verbreitete, leicht ausufernde Zweitversion von 1872 oder doch lieber den kompakten „Ur-Boris“ von 1868, kurz und bündig, mit ohne Pause und selbstverständlich in der originalen Instrumentierung des Komponisten, so wild, kompromisslos und herb wie die Oper gedacht war? Wie schon bei der letzten Produktion anno 1991 entschied man sich in München wiederum für letztere, statt in dreieinhalb ging es also in knackigen zweieinviertel Stunden über die Bühne.
Und diese 135 Minuten Musiktheater haben es in sich! Natürlich hatte bei einer Inszenierung des katalanischen Regie-Berserkers Calixto Bieto niemand ein putzig-idyllisches Russland-Panorama aus Rauschebärten und wallenden Gewändern, goldenen Kronen und Ikonen erwartet… Statt Tümelei und Russlandkitsch kommen hier nun die Essentials auf die Bühne, eine kompromisslos deutliche, unsentimentale und durch und durch pessimistische Lesart, ein in jedem Moment unter die Haut gehendes Porträt einer auf Machtmissbrauch, Lüge, Verrat, Manipulation und nackter Gewalt fußenden Gesellschaft. Hier ist nicht nur etwas faul im Staate, hier ist schon jede Menschlichkeit den Bach runtergegangen, es herrschen Sozialdarwinismus und Faustrecht, und zwar quer durch alle Schichten, vom Zaren bis zum Bauern reicht die moralische Verwahrlosung. Daß dies natürlich kein russischer Zustand ist, sondern alle angeht, zeigen die Postertafeln mit den Porträts aktueller und früherer Staatschefs aus aller Welt, die der Chor seinem neuen Potentaten entgegenreckt: Berlusconi neben George W., Sarkozy, Abe, Cameron & Co. Gleiche Brüder, gleiche Kappen, die perfekte Gesellschaft für den skrupellosen Machtmenschen und Zarenmörder Boris. Wie schon in Bietos hiesiger Fidelio-Inszenierung hat auch diesmal Rebecca Ringst ein ebenso spektakuläres wie sinnfälliges Bühnenbild konstruiert: ein aus rostigen Stahlplatten und Beton gebautes fahrbares Monstrum, eine Mischung aus Bunker und Schlachtschiff, in dem sich die Mächtigen vor dem Volk verkriechen, Kasernenfestung, Gefängnis und goldener Käfig zugleich. Für die Szenen im Zarenpalast klappen die Wände des Bunkers herunter und offerieren den Einblick in die luxuriöse Behausung der Macht, während wenig später die Molotow-Cocktails eines aufgebrachten Proletariats gegen die Außenwand fliegen. Dem Ambiente entsprechend ist die Personenführung präzise, schnörkellos und spannungsvoll, die atmosphärische Dichte des Geschehens nähert sich zuweilen der Grenze des Erträglichen. Bereits im ersten Bild wird ein Demonstrant von den Sicherheitskräften brutal zusammengeschlagen, die Schankwirtin (hier eine Art Marketenderin und degenerierte Mutter Courage) vermöbelt ihr uneheliches Kind mit dem Gürtel und erschießt einen Soldaten mit dessen eigener Waffe und noch während Boris’ Sterbeszene dringt der Pseudo-Dimitri in dessen Gemächer ein, um die gesamte Zarenfamilie inklusive Amme genüsslich und eigenhändig umzubringen. Es gibt keine Szene, in der niemand geschlagen, getreten, misshandelt oder getötet würde, dabei ergibt der „body count“ auch ein paar Leichen mehr, als im Libretto stehen… „Höhepunkt“ in dieser Hinsicht ist die Szene mit dem Gottesnarren: dieser wird nicht nur von den Kindern grausam gequält, am Ende seines berühmten (und hier besonders bewegenden) Klageliedchens wird er von einem kleinen Mädchen durch Genickschuß getötet, sadistisch und hingebungsvoll. Offenbar zuviel für manche Besucher, in allen von mir besuchten Aufführungen kam es an dieser Stelle zu vorzeitigen Aufbrüchen… Dabei ist das wirklich Verstörende an Bietos Gewaltdarstellungen gar nichtmal ihre visuelle Krassheit, sondern eher ihre beiläufige Selbstverständlichkeit. Dieser beklemmenden Atmosphäre kann man sich die gesamte Aufführung über nicht entziehen, das geht einfach unter die Haut so wie ich es in einer Opernaufführung selten erlebt habe.
Ebenso überragend und intensiv gerät die musikalische Seite, die mit der Regie eine absolute Einheit bildet. Dem leider zum Saisonende scheidenden GMD Kent Nagano gelingt in dieser seiner letzten „großen“ Premiere (es folgt im Juli noch die Neuproduktion der Kammeroper Written on skin von George Benjamin) eine der eindrucksvollsten und suggestivsten Einstudierungen seiner Amtszeit in München. Und das will schon was heißen! Das atemberaubend präzise und transparente Orchesterspiel nimmt die Härte und Kompromisslosigkeit der szenischen Deutung auf und übersetzt sie sozusagen in Musik, schafft aber immer wieder auch emotionale Durchbrüche, Momente der Reflexion und des Hinterfragens. Bei aller Klarheit und Durchhörbarkeit wird der Klang nicht zu hart und kompakt, die düstere Farbigkeit und Schroffheit der Musik, namentlich der hier gewählten Urfassung, arbeitet Nagano sinnfällig und intensiv heraus bis in die letzte Einzelstimme. Die großen Chorstellen haben eine fast archaische Wucht ohne aufgesetzt knallig zu wirken, Nagano spannt einen lückenlosen Spannungsbogen über die sieben Bilder, der auch in den kurzen Unterbrechungen, Auf- und Abtritten dazwischen nicht abbricht, eine Interpretation aus einem Guss, erfüllt von starker innerer Dynamik und Stringenz. Auch eine Sternstunde des Staatsorchesters!
Und schließlich auch eine des Besetzungsbüros; ein so geschlossenes und auf hohem Niveau homogenes Ensemble kann man lange suchen. Für Bass-Fans wie mich ist der Boris natürlich ein Fest, schließlich versammelt die Besetzungsliste mit der Titelrolle, dem Chronikschreiber Pimen und dem versoffenen Bettelmönch Warlaam gleich drei große Tieftöner-Partien…! Diese waren hier alle mit Boris-Stimmen besetzt, aber es konnte natürlich nur einen geben: den erst 38jährigen ukrainischen Bassisten Alexander Tsymbalyuk nämlich, der hier sein Rollendebüt feiern konnte. Wow! – So jung, so elegant und gutaussehend besetzt hat man die Rolle wohl noch nie gesehen. Ein smarter Manager der Macht, der im beinharten Polit-Alltag gelernt hat, seine Komplexe und seelische Deformation zu verbergen, umso effektvoller und schockierender dann sein Zusammenbruch und Tod am Ende der Oper. Zudem beweist Tsymbalyuk eindrucksvoll, dass man einen kaputten Typen auch mit intakter Stimme singen kann, sein prachtvoller Baß ist nachtschwarz und doch leuchtend, wird schlank und kantabel geführt und wabert nicht, hat aber zugleich Körper, Volumen und abgründige Fülle. So souverän die stimmliche Interpretation, so eindrucksvoll ist auch die Rollengestaltung. Und das auf Anhieb, beim Rollendebüt… Chapeau! Mit etwas mürberer, aber immer noch prächtig fließender Stimme und persönlichem Charisma macht Anatolij Kotcherga, selbst ein gefeierter Boris-Interpret, den Pimen zum eigentlichen Widersacher Godunovs. Seine Erzählung vom Tod des kleinen Zarewitsch gehört zu den Höhepunkten des Abends und am Ende kommt er in den Bunker mit dem spürbaren Vorsatz, den Herrscher mental über die Klinge springen zu lassen. Dritter im Bunde der Super-Bässe ist Vladimir Matorin, der mit fulminantem Proll-Appeal einen stimmgewaltigen Warlaam gibt, eigentlich schon eine Luxusbesetzung. Eine solche ist zweifellos auch Markus Eiche als „Regierungssprecher“ Schtschelkalow, so klangschöne und kernig-kultivierte Baritone findet man nicht oft. Bemerkenswertes Niveau herrscht auch an der Tenor-Front: Gerhard Siegel verleiht dem Intriganten Shuiskij charaktertenorale Schärfe und gleißnerischen Charme (dass er optisch stark an Lenin erinnert, ist hier sicher kein Zufall), Sergej Skorokhodov hat wahre Trompetentöne für den zwielichtigen Grischka und Kevin Conners ist ein berührender Gottesnarr, der hellsichtig das Schicksal kommen sieht, dasjenige Russlands wie auch das eigene. Eri Nakamura (Xenia) und Yulia Sokolik (Fjodor) bringen als Godunov-Sprösslinge etwas hellere Klangfarben in die düstere Grundstimmung ein und Okka von der Damerau gibt eine beeindruckend toughe, unwiderstehlich proletarische Schankwirtin. Überhaupt ist im Ensemble bis hin zu den kleinsten Rollen kein Schwachpunkt auszumachen. Gibt es doch gar nicht?! Doch, hier schon.