“Mediterraneo” – die neue CD von Christina Pluhar und L’Arpeggiata

Keine Sorge, trotz des Titels hat diese CD nichts zu tun mit gängigen Kommerzprodukten (nord)italienischer oder südamerikanischer Opernstars, die vor dem Mikrofon auf neapolitanischer Pizzabäcker machen und Funiculì-funiculà schmettern…! Vielmehr handelt es sich um den neuesten Coup der österreichische Gambenistin und Dirigentin Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata. Schon der Begriff „Crossover“ ist hier eigentlich eine Beleidigung und geht völlig an der Sache vorbei. Pluhar gehört zu den ganz wenigen wirklich originellen Künstlerpersönlichkeiten im heutigen Musikbusiness, die etwas zu sagen haben und sich weder von Genre- noch von sonstigen Grenzen aufhalten lassen. Hier sind einfach Überzeugungstäter am Werk, voller Leidenschaft, Musikalität und purer Spielfreude. Zu den Spezialitäten von L’Arpeggiata gehört es, eigentlich fachfernes Repertoire aus fremden Landen für Barockorchester zu arrangieren und in neue Klang- und Sinnzusammenhänge zu stellen, tatkräftig unterstützt von namhaften Instrumentalisten aus diesen Ländern, die authentisch folkloristische oder klassische Akzente einbringen. Nach dem Südamerika-Projekt Los párajos perdidos im vergangenen Jahr haben sich Pluhar und ihre Truppe nun die traditionelle Musik des Mittelmeerraumes vorgeknöpft und wieder eine wunderbar lebendige und so noch nicht gehörte Kompilation geschaffen, eine absolute Gute-Laune-CD. Kernpunkte des Programms sind zum einen der portugiesische Fado und zum anderen der Canto greco-salentino, eine im Zuge der Besiedelung Süditaliens durch griechische Einwanderer zwischem dem 8. und 11. Jahrhundert in der Gegend um Salerno entstandene traditionelle Musik, gesungen übrigens in Griko, einem in der Gegend bis heute noch vorkommenden griechisch-italienischen Mischdialekt. Ergänzt wird dieses Repertoire durch andere traditionelle Lieder und Tänze aus Griechenland, Mallorca, Katalonien und der Türkei. Die Kombination des klassisch besetzten Barockorchesters mit Streichern, Harfe, Theorbe etc. mit Instrumenten wie der Fado-Gitarre, der griechischen Lyra und Lavta und der türkischen Qanun und Saz sorgt für einen reizvolles, faszinierend exotisches Klangspektrum, der Musiziergestus ist durchgehend leidenschaftlich-beherzt, mal zupackend vital, mal lyrisch verträumt. Durch die Mischung melancholischer und fröhlicher Lieder und die verschiedenen Sprachen und musikalischen Idiome kommt keinerlei Monotonie auf, Kontraste werden in der Programmfolge geschickt als Spannungsmittel gesetzt. Wie von Pluhars Aufnahmeprojekten nicht anders gewohnt ist die Besetzung auch hier erstklassig. So bildet der schmeichelzarte lyrische Sopran von Nuria Rial einen wunderbaren Kontrast zu den üppigen und etwas raueren Stimmen von Raquel Andueza und Katerina Papadopoulou sowie zum betont femininem Timbre des italienischen Ex-Ballerinos und heutigem Altisten Vincenzo Capezzuto, der in den Canti greci-salentini das vertraute barocke Vexierspiel der Geschlechter in eine ganz neue Spielart übersetzt. Für mich der absolute Star der Aufnahme ist allerdings die portugiesische Fado-Königin Mísia. In ihrer Heimat bereits eine Ikone, ruft sie hier eine unglaubliche Bandbreite von Farben und Expressionen auf; von rauchzart bis rauchhart, vom sentimentalen Schmachten bis zur lodernden Leidenschaft, vom lauen Lüftchen bis zum Tornado. Eine faszinierende Stimme, die Hingabe mit Feuer, Verletztlichkeit mit Stolz und Koketterie mit Eigensinn verbindet. Diese CD ist Sinnlichkeit pur, ein Volltreffer von der ersten bis zur letzten Sekunde, das Licht des Südens auf Silberscheibe gepresst. Eine Empfehlung? Nein, ein MUST!

„Mediterraneo“

L’Arpeggiata

Musikalische Leitung: Christina Pluhar

Virgin Classics 5099946454720

http://www.virginclassics.com

http://www.arpeggiata.com

Bayerische Staatsoper: “Hänsel und Gretel” – 24.3. 2013

Man glaubt es nicht! Hänsel und Gretel reloaded in der Landeshauptstadt! In einer NEUinszenierung! Nach „erst“ 48 Jahren wurde die mittlerweile prähistorische Produktion abgelöst und ins Magazin verbannt, allerdings (so hört man aus gut informierten Kreisen) noch nicht geschreddert… Man woaß ja nie ned und in Minga scho glei gar ned. Der Aufschrei der Staub & Moder-Fraktion unter Münchens Opernfreunden ließ nicht lange auf sich warten, fast so, als habe der Stadtrat beschlossen, die Regenbogenfahne zwischen den Türmen der Frauenkirche zu hissen oder den Bierausschank unter freiem Himmel zu verbieten… So ist das eben, wenn mehrere Generationen von Opernfreunden ihr Erweckungserlebnis in Sachen Oper mit der nun ausgemusterten Herbert-List-Inszenierung hatten und sich seitdem in Anspruch und Geschmack nicht mehr weiterentwickelt haben… Das war ja sooooo schön! Und vor allem für die Kiiiinder! Übrigens: die Premierengäste im Grundschulalter fanden die neue Inszenierung ganz toll, gingen richtig mit und tobten und kreischten am Ende vor Begeisterung. Soviel dazu.

Wobei: von einer „Neu“inszenierung kann eigentlich keine Rede sein. Vielmehr hat diese Produktion in der Regie von Richard Jones in den Bühnenbildern von Robert Mcfarland bereits eine weite Reise hinter sich, von der English National Opera und weitere Stationen bis zur New Yorker Metropolitan und nun hat man sich am Max-Joseph-Platz die Siebtverwertungsrechte erworben. Oder so ähnlich. Allzu großes Interesse an seiner Arbeit kann man Jones nicht mehr nachsagen, er hatte lediglich seinen Assistenten und seine Bankverbindung nach München geschickt. Ob die persönliche Anwesenheit des Chefs uns einen inspirierteren Abend beschert hätte? Das ist Spekulation, so jedenfalls holperte das Unternehmen nicht wenig, die sehr choreographisch angelegten Bewegungen waren alles andere als präzise und synchron, sahen zuweilen gar improvisiert aus, der Abend kam erst spät und langsam in Fahrt. Genauer gesagt erst gegen Ende des zweiten Aktes, hier allerdings ist Jones mit dem Abendsegen als Traumvsion eines üppigen Festmahls an einer langen Tafel mit brennenden Kerzenleuchtern und serviert von 14 feisten Köchen und einem fischköpfigen Oberkellner ein wunderbar bizarres und zugleich poetisch-irreales Bild gelungen. Wie sich denn überhaupt der Dualismus Essen-Hunger als optische Konstante durch das ganze Stück zieht, von den leeren Küchenschränken des Beginns über die Zwischenvorhang-Motive bis hin zum fröhlichen Gemansche in der Hexenküche. In letzterer erreicht die Regie dann endlich Betriebstemperatur und bietet das ausgelassene, skurrile und von britischem Humor durchzogene Spektakel, das ich mir für den ganzen Abend gewünscht hätte… Denn bis dahin hatte man eine arg langatmige und nicht eben einfallsreiche erste Stunde absitzen müssen, die wenig bis gar nichts fürs Auge bot und weder erhellend noch wirklich lustig war.

Bekanntlich ist Hänsel und Gretel ja eine verkappte Wagner-Oper und hat es orchestral richtig in sich. Nicht wenige Dirigenten haben vor dieser Partitur ob ihrer zahlreichen schnellen Takt- und Tempowechsel so richtig Manschetten und wirklich gerne macht das kaum einer; sogar ein alter Fahrensmann wie Knappertsbusch hielt die Oper für eine der Schwierigsten überhaupt für den Dirigenten… Leider wurden diese Tücken im Dirigat von Tomáš Hanus mehr als deutlich, er und das Orchester fanden kaum einmal eine hörbare gemeinsame Wellenlänge, rhythmische Unsicherheiten und Wackler prägten über weite Strecken das Bild. Vor allem aber fetzte Hanuš die Musik derart undifferenziert lärmend und knallig in den Saal, dass es in den Ohren wehtat. Subtilere Töne waren Mangelware und beschränkten sich auf die Naturschilderungen im zweiten Akt, allerdings riss auch hier der Spannungsbogen mit unschöner Regelmäßigkeit ab.

Großer Premierenjubel, vom Nachwuchspublikum wie von uns Freaks, galt den beiden Protagonisten Tara Erraught (Hänsel) und Hanna-Elisabeth Müller (Gretel), deren natürliches und quirlig-lebhaftes Spiel einfach mitriss und begeisterte, so glaubhaft und ohne Übertreibungen wie man es sich nur wünschen kann. Und auch gesanglich machten beide ihre Sache außerordentlich gut; Erraughts leichtgängiger, zartherb timbrierter Mezzo und Müllers schwebend lyrischer Sopran ergänzten sich ausgezeichnet. Nicht zum ersten Mal hat sich die konsequente und fachkundige Ensemblepolitik des Hauses hier ausgezahlt und Früchte getragen. Umso unverständlicher daher, dass man für die Eltern mit Janina Baechle als Gertrud und Alejandro Marco-Buhrmester als Peter zwei nur mäßig überzeugende Gäste engagiert hatte, wo man doch im eigenen Ensemble mit Okka von der Damerau und Markus Eiche zwei herausragende Besetzungsalternativen gehabt hätte…! Bleibt noch die Hexe, vom hauptberuflichen Mozart-Tenor Rainer Trost mit viel Mut zur Hässlichkeit und spürbarem Spaß an der Freud verkörpert. Daß die Betriebstemperatur im dritten Akt deutlich anstieg, war zum allergrößten Teil sein Verdienst.

Nach schwacher erster Halbzeit ist also schlußendlich noch ein zumindest annehmbarer Premierenabend geworden. Warum allerdings ausgerechnet Hänsel und Gretel, DIE Familien- und Einsteiger-Oper schlechthin, als einziges Werk in dieser Saison OHNE Übertitel gespielt wird, muß man nicht wirklich verstehen…

Im Kino: “Hänsel und Gretel: Hexenjäger” von Tommy Wirkola

“Don’t eat the fucking candy…!”

Kann es sein, dass die Brüder Grimm uns nur die halbe Geschichte erzählt und das Beste verschwiegen haben? Jetzt jedenfalls ist im Kino eine etwas andere Version zu erleben, eine ganz ganz andere sogar… natürlich beginnt auch diese mit dem armen, im Wald verirrten Geschwisterpaar, dem Knusperhäuschen und der Hexe im Ofen, doch ist dies nur Vorgeplänkel und nach zehn Minuten abgehandelt. Es folgt ein Zeitsprung von ca. 15 Jahren, inzwischen sind Hänsel (der sich in der englischen Originalfassung natürlich „Hansel“ schreibt…) und Gretel zu feschen und selbstbewussten Twens herangewachsen. Vor allem aber drehen sie gewaltig den Spieß um und sind als professionelle Hexenjäger und –killer bestens im Geschäft. Ab jetzt wird aufgeräumt und scharf geschossen im deutschen Wald und die Zauberschwestern haben nichts mehr zu lachen, gleich reihenweise werden sie massakriert von zwei coolen, erbarmungslosen Youngstern im engen schwarzen Lederoutfit, mal mit Feuer, oder auch mit Schwert oder gleich mit den seltsamen, zugleich antik und futuristisch aussehenden Schusswaffen. Inszeniert hat diesen extrem blutigen und latent unappetitlichen Spaß der norwegische Regisseur Tommy Wirkola. Hier wird ganz tief in die Special Effects-Kiste gegriffen: Hexen werden im Flug mittels aufgespannter Drähte in Scheiben geschnitten oder verändern permanent ihre Gesichtszüge, aus geheimnisvollen Schönheiten werden verzerrte Digital-Monster-Fratzen und vice versa, halbe Wälder fliegen in die Luft und zum Hexensabbat treten die Schwarzmagierinnen in Kompaniestärke an… irgendwas ist immer los, irgendwie scheinen die Lebkuchen vom Knusperhaus mit synthetischen Drogen getränkt gewesen zu sein. Spielen tut das Ganze im mittelalterlichen Augsburg (Hänsel: „Gibt’s in dem Kaff irgendwo was zu trinken?“) und es gibt sogar so etwas Ähnliches wie eine Handlung, nämlich dass die fiese Oberhexe Mina (Pihla Vitala) zwölf Kinder und Gretel als Nachkomme einer weißen (also guten) Hexe entführen lässt, um aus dero Blut und Herzen in einer Blutmondnacht ein Elixir zu brauen, welches die Hexen unempfindlich gegen Feuer machen soll… Außerdem treten natürlich dezente erotische Versuchungen an die Geschwister heran, für Hänsel in Gestalt der guten Zauberin Muriel (ganz zauberhaft: Famke Janssen), bei Gretel ist es der fesche Bürgerssohn Ben (Thomas Mann; doch, der heißt wirklich so!) und außerdem ist da noch Edward. Edward ist ein Troll, dient ursprünglich der Oberhexe, verliebt sich, King Kong lässt grüßen, in Gretel und wird von dieser umgedreht… Überhaupt wird hier die Filmgeschichte mal wieder gut gefleddert, Wirkola nimmt nicht nur Anleihen beim Meister des Schmunzel-Horrors, Tim Burton, sondern auch beim „Herrn der Ringe“ sowie diversen Klassikern des SciFi- und Splatterkinos. Wirklich Sinn macht das Ganze nicht, aber wo steht geschrieben, dass eine Filmhandlung welchen machen muß?! Und wenn die Dramaturgie lahmt und die Geschichte Löcher bekommt, wird eben noch wem der Kopf abgeschlagen, the show must go on. Bei einem solchen visuell-technischen Overkill haben es die Darsteller von Haus aus schwer, zumal diese eher in der zweiten Hollywood-Liga unterwegs sind. Während Jeremy Renner als Hänsel kaum mehr als eine leicht blasierte Instant-Coolness zu bieten hat, gewinnt Gemma Arterton ihrer Rolle zumindest ein paar Nuancen ab oder wie Hänsel so schön sagt: „Meine Schwester fragt immer nach Beweisen, bevor jemand gegrillt wird!“. Aber das kann auch ein Versehen sein, denn fünf Minuten ohne Blutvergießen, Totschlag, Folter, Feuersbrunst oder technischen Hokuspokus scheinen für den Regisseur verlorene fünf Minuten zu sein und die wilde Jagd geht schon in die nächste Runde. Großes Kino? Sicher nicht, aber für einen kalten, verregneten Mittwochabend im März taugt es allemal…

Bayerische Staatsoper: “Boris Godunov” – 17./27.2. u. 2.3. 2013

Wieviel Boris darfs denn sein? Wer Mussorgskijs Oper aufführen will, muß zunächst die dramaturgische Gretchenfrage „Wie hälst Du es mit der Fassung?“ beantworten: die verbreitete, leicht ausufernde Zweitversion von 1872 oder doch lieber den kompakten „Ur-Boris“ von 1868, kurz und bündig, mit ohne Pause und selbstverständlich in der originalen Instrumentierung des Komponisten, so wild, kompromisslos und herb wie die Oper gedacht war? Wie schon bei der letzten Produktion anno 1991 entschied man sich in München wiederum für letztere, statt in dreieinhalb ging es also in knackigen zweieinviertel Stunden über die Bühne.

Und diese 135 Minuten Musiktheater haben es in sich! Natürlich hatte bei einer Inszenierung des katalanischen Regie-Berserkers Calixto Bieto niemand ein putzig-idyllisches Russland-Panorama aus Rauschebärten und wallenden Gewändern, goldenen Kronen und Ikonen erwartet… Statt Tümelei und Russlandkitsch kommen hier nun die Essentials auf die Bühne, eine kompromisslos deutliche, unsentimentale und durch und durch pessimistische Lesart, ein in jedem Moment unter die Haut gehendes Porträt einer auf Machtmissbrauch, Lüge, Verrat, Manipulation und nackter Gewalt fußenden Gesellschaft. Hier ist nicht nur etwas faul im Staate, hier ist schon jede Menschlichkeit den Bach runtergegangen, es herrschen Sozialdarwinismus und Faustrecht, und zwar quer durch alle Schichten, vom Zaren bis zum Bauern reicht die moralische Verwahrlosung. Daß dies natürlich kein russischer Zustand ist, sondern alle angeht, zeigen die Postertafeln mit den Porträts aktueller und früherer Staatschefs aus aller Welt, die der Chor seinem neuen Potentaten entgegenreckt: Berlusconi neben George W., Sarkozy, Abe, Cameron & Co. Gleiche Brüder, gleiche Kappen, die perfekte Gesellschaft für den skrupellosen Machtmenschen und Zarenmörder Boris. Wie schon in Bietos hiesiger Fidelio-Inszenierung hat auch diesmal Rebecca Ringst ein ebenso spektakuläres wie sinnfälliges Bühnenbild konstruiert: ein aus rostigen Stahlplatten und Beton gebautes fahrbares Monstrum, eine Mischung aus Bunker und Schlachtschiff, in dem sich die Mächtigen vor dem Volk verkriechen, Kasernenfestung, Gefängnis und goldener Käfig zugleich. Für die Szenen im Zarenpalast klappen die Wände des Bunkers herunter und offerieren den Einblick in die luxuriöse Behausung der Macht, während wenig später die Molotow-Cocktails eines aufgebrachten Proletariats gegen die Außenwand fliegen. Dem Ambiente entsprechend ist die Personenführung präzise, schnörkellos und spannungsvoll, die atmosphärische Dichte des Geschehens nähert sich zuweilen der Grenze des Erträglichen. Bereits im ersten Bild wird ein Demonstrant von den Sicherheitskräften brutal zusammengeschlagen, die Schankwirtin (hier eine Art Marketenderin und degenerierte Mutter Courage) vermöbelt ihr uneheliches Kind mit dem Gürtel und erschießt einen Soldaten mit dessen eigener Waffe und noch während Boris’ Sterbeszene dringt der Pseudo-Dimitri in dessen Gemächer ein, um die gesamte Zarenfamilie inklusive Amme genüsslich und eigenhändig umzubringen. Es gibt keine Szene, in der niemand geschlagen, getreten, misshandelt oder getötet würde, dabei ergibt der „body count“ auch ein paar Leichen mehr, als im Libretto stehen… „Höhepunkt“ in dieser Hinsicht ist die Szene mit dem Gottesnarren: dieser wird nicht nur von den Kindern grausam gequält, am Ende seines berühmten (und hier besonders bewegenden) Klageliedchens wird er von einem kleinen Mädchen durch Genickschuß getötet, sadistisch und hingebungsvoll. Offenbar zuviel für manche Besucher, in allen von mir besuchten Aufführungen kam es an dieser Stelle zu vorzeitigen Aufbrüchen… Dabei ist das wirklich Verstörende an Bietos Gewaltdarstellungen gar nichtmal ihre visuelle Krassheit, sondern eher ihre beiläufige Selbstverständlichkeit. Dieser beklemmenden Atmosphäre kann man sich die gesamte Aufführung über nicht entziehen, das geht einfach unter die Haut so wie ich es in einer Opernaufführung selten erlebt habe.

Ebenso überragend und intensiv gerät die musikalische Seite, die mit der Regie eine absolute Einheit bildet. Dem leider zum Saisonende scheidenden GMD Kent Nagano gelingt in dieser seiner letzten „großen“ Premiere (es folgt im Juli noch die Neuproduktion der Kammeroper Written on skin von George Benjamin) eine der eindrucksvollsten und suggestivsten Einstudierungen seiner Amtszeit in München. Und das will schon was heißen! Das atemberaubend präzise und transparente Orchesterspiel nimmt die Härte und Kompromisslosigkeit der szenischen Deutung auf und übersetzt sie sozusagen in Musik, schafft aber immer wieder auch emotionale Durchbrüche, Momente der Reflexion und des Hinterfragens. Bei aller Klarheit und Durchhörbarkeit wird der Klang nicht zu hart und kompakt, die düstere Farbigkeit und Schroffheit der Musik, namentlich der hier gewählten Urfassung, arbeitet Nagano sinnfällig und intensiv heraus bis in die letzte Einzelstimme. Die großen Chorstellen haben eine fast archaische Wucht ohne aufgesetzt knallig zu wirken, Nagano spannt einen lückenlosen Spannungsbogen über die sieben Bilder, der auch in den kurzen Unterbrechungen, Auf- und Abtritten dazwischen nicht abbricht, eine Interpretation aus einem Guss, erfüllt von starker innerer Dynamik und Stringenz. Auch eine Sternstunde des Staatsorchesters!

Und schließlich auch eine des Besetzungsbüros; ein so geschlossenes und auf hohem Niveau homogenes Ensemble kann man lange suchen. Für Bass-Fans wie mich ist der Boris natürlich ein Fest, schließlich versammelt die Besetzungsliste mit der Titelrolle, dem Chronikschreiber Pimen und dem versoffenen Bettelmönch Warlaam gleich drei große Tieftöner-Partien…! Diese waren hier alle mit Boris-Stimmen besetzt, aber es konnte natürlich nur einen geben: den erst 38jährigen ukrainischen Bassisten Alexander Tsymbalyuk nämlich, der hier sein Rollendebüt feiern konnte. Wow! – So jung, so elegant und gutaussehend besetzt hat man die Rolle wohl noch nie gesehen. Ein smarter Manager der Macht, der im beinharten Polit-Alltag gelernt hat, seine Komplexe und seelische Deformation zu verbergen, umso effektvoller und schockierender dann sein Zusammenbruch und Tod am Ende der Oper. Zudem beweist Tsymbalyuk eindrucksvoll, dass man einen kaputten Typen auch mit intakter Stimme singen kann, sein prachtvoller Baß ist nachtschwarz und doch leuchtend, wird schlank und kantabel geführt und wabert nicht, hat aber zugleich Körper, Volumen und abgründige Fülle. So souverän die stimmliche Interpretation, so eindrucksvoll ist auch die Rollengestaltung. Und das auf Anhieb, beim Rollendebüt… Chapeau! Mit etwas mürberer, aber immer noch prächtig fließender Stimme und persönlichem Charisma macht Anatolij Kotcherga, selbst ein gefeierter Boris-Interpret, den Pimen zum eigentlichen Widersacher Godunovs. Seine Erzählung vom Tod des kleinen Zarewitsch gehört zu den Höhepunkten des Abends und am Ende kommt er in den Bunker mit dem spürbaren Vorsatz, den Herrscher mental über die Klinge springen zu lassen. Dritter im Bunde der Super-Bässe ist Vladimir Matorin, der mit fulminantem Proll-Appeal einen stimmgewaltigen Warlaam gibt, eigentlich schon eine Luxusbesetzung. Eine solche ist zweifellos auch Markus Eiche als „Regierungssprecher“ Schtschelkalow, so klangschöne und kernig-kultivierte Baritone findet man nicht oft. Bemerkenswertes Niveau herrscht auch an der Tenor-Front: Gerhard Siegel verleiht dem Intriganten Shuiskij charaktertenorale Schärfe und gleißnerischen Charme (dass er optisch stark an Lenin erinnert, ist hier sicher kein Zufall), Sergej Skorokhodov hat wahre Trompetentöne für den zwielichtigen Grischka und Kevin Conners ist ein berührender Gottesnarr, der hellsichtig das Schicksal kommen sieht, dasjenige Russlands wie auch das eigene. Eri Nakamura (Xenia) und Yulia Sokolik (Fjodor) bringen als Godunov-Sprösslinge etwas hellere Klangfarben in die düstere Grundstimmung ein und Okka von der Damerau gibt eine beeindruckend toughe, unwiderstehlich proletarische Schankwirtin. Überhaupt ist im Ensemble bis hin zu den kleinsten Rollen kein Schwachpunkt auszumachen. Gibt es doch gar nicht?! Doch, hier schon.

Bayerische Staatsoper: Verdi “Messa da Requiem” – 25.2.2013

„Festkonzert zum 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi“ – so stand es auf den Karten und im Programm. Abgesehen davon, dass jener erst im Oktober ansteht; ein Requiem zum Geburtstag? Vermutlich muß man tatsächlich Österreicher sein, um einen so geistreich-morbiden Scherz wirklich würdigen zu können… zumindest hilft es ungemein. Allerdings lieferte der Tod des langjährigen Generalmusikdirektors Wolfgang Sawallisch wenige Tage zuvor dann doch noch einen ebenso betrüblichen wie aktuellen Anlass und die Aufführung wurde vom Haus und den Mitwirkenden seinem Gedenken gewidmet. Allerdings braucht große Kunst natürlich auch keinen Anlass, sondern ist sich selbst ein solcher. Das gilt selbstredend auch für Verdis Messa da Requiem, jenes glut- und blutvolle, klanggewaltige Hochamt aller heimlichen und unheimlichen Agnostiker. Von der seinerzeitigen Presse mit Schlagworten wie „ungeistlich“, „areligiös“ oder „melodramatisch“ gescholten und seither immer wieder gerne (halb)ironisch als „Verdis beste Oper“ tituliert, ist dies eindeutig das Werk eines Musikdramatikers, aber eben auch eines Zweiflers, eines um Glauben und Zuversicht ringenden Künstlers von titanischer Intensität. Selten allerdings dürfte diese Messe derart opernhaft, auftrumpfend und bombastisch erklungen sein wie an diesem Abend im Nationaltheater, insbesondere die großen Chorstellen wie das Dies irae oder das Sanctus habe ich nie zuvor so laut gehört. Wenig erstaunlich; schließlich war Zubin Mehta noch nie ein Kind von Traurigkeit und ist nicht nur vor Ort für seinen beherzten, klangsatten Zugriff auf die jeweilige Partitur bekannt und beliebt. Das schlanke, auf Durchhörbarkeit, Präzision und Differenzierung angelegte Musizieren, auf das Nachfolger Kent Nagano das Orchester eingeschworen hat, hatte für zwei Abende Sendepause, hier durfte wieder ungeniert in den Klangfluten geschwelgt und Pathos und Fülle ruhig etwas dicker aufgetragen werden; eine Lesart, die in diesen Mauern lange nicht mehr zu hören war. Entsprechend emotional fiel auch Mehtas Wiedersehen mit seinem alten Orchester, Chor und Publikum aus, hier galt spürbar das Motto „Alte Liebe rostet nicht“, die ersteren beiden folgten ihrem Ex mit Begeisterung, Konzentration und Musizierfreude, letzteres reagierte darauf mit Ovationen. Auch das hochkarätig besetzte Solistenquartett wurde den Erwartungen gerecht, allerdings auch noch überragt durch die Glanzleistung von Joseph Calleja in der Tenorpartie. Sein Vortrag besaß genau die richtige Mischung von tenoraler Strahlkraft und lyrischer Weichheit, die Phrasierung war elegant und hochmusikalisch, die Höhe glanzvoll. Ekaterina Gubanova sang den Mezzopart mit schön strömenden Kantilenen und sicherer Stimmführung und Kwangchul Youn verlieh dem Basspart die nötige Autorität und Klangschwärze. Bleibt noch der Sopran. Für manchen vielleicht überraschend, aber diese Partie gehört zu den anspruchsvollsten überhaupt im gesamten Verdi-Repertoire; Leuchtkraft und Brillanz sind hier ebenso gefragt wie technische Sicherheit und perfekte Intonation in allen Lagen, eine herausragende Pianokultur und ein breites Spektrum zwischen lyrischer Zartheit und aufbrausender Dramatik…Krassimira Stoyanova wagte den Ritt und hatte viele richtig starke Momente, sei es das wunderschön aufblühende „Signifer sanctus Michael“ oder die ruhige dolcezza ihres „Agnus Dei“. Etwas an die Grenzen stieß sie nur in den dramatischen Passagen, hier fehlt ihr noch die breite Mittellage eines echten Spinto-Soprans, so dass die mittleren und tiefen Register hörbar Mühe bereiteten. Insgesamt ein orchestral, vokal und atmosphärisch beeindruckender Abend, mit Goethes Mephisto könnte man sagen: „Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern“…

Bayerische Staatsoper: “Rigoletto” – 15./30.12. 2012

Mit Narren wieder nichts zu lachen…

Nach gängigem Theater-Aberglauben gibt es Werke, die alleine schon durch lautes Aussprechen ihres Titels Unglück bringen sollen; Offenbach Les contes d’Hoffmann ist so ein Fall und natürlich allen voran das „schottische Stück“ von Shakespeare, respektive Verdi. Jenes, das mit „M“ beginnt… Und dann gibt es offenbar Werke, mit denen ein bestimmtes Theater wenig, bzw. gar kein Glück zu haben scheint und denen man vor Ort nicht beikommt. So verhält es sich mit der Bayerischen Staatsoper und Verdis allseits beliebtem Klassiker Rigoletto. Nach den zwar im Ansatz konträren, aber gleichermaßen komplett missglückten Versuchen von Roman Polanski und Doris Dörrie wagte man nun am Max-Joseph-Platz einen neuerlichen Anlauf. Vorsichtshalber hatte man diesmal keinen Filmregisseur engagiert… Half alles nichts, wieder ging es schief, und zwar auf der ganzen Linie. Fast schien es, als habe Monterones Fluch nicht nur Fürsten und Narren getroffen, sondern auch Kapellmeister, Orchester und Regieteam gleichermaßen, der knackige Posaunenpatzer gleich im zweiten Takt der Premiere gab leider die Richtung vor. Nach Dörries berühmt-berüchtigtem Affen-Theater folgte nun ein Nicht-Theater, gähnende Langeweile und unsägliche szenische Ödnis in hellbeigem Einheitslook. Nun bietet eine Oper wie Rigoletto etliche mögliche Konflikte und „story lines“, die man erzählen könnte: Vater/Tochter etwa, oder auch Außenseiter/Gesellschaft oder Adel/Unterschicht… Pro forma war auf dem Besetzungszettel tatsächlich ein Regisseur angegeben, der Ungar Árpád Schilling nämlich. Was jener eigentlich gemacht haben soll, blieb auch nach wiederholtem Besuch und mit gutem Willen komplett im Dunkeln. Interaktion oder Personenregie fand in keinem Moment statt, jeder Sänger steuerte den ausgebauten Souffleurkasten an, ließ sich dort an der Rampe nieder und sang volle Kraft voraus ins Rund… Das sah den ganzen Abend eher nach vier Wochen bezahltem Urlaub für die Sänger aus denn nach konstruktiver Probenarbeit. Zuweilen wurde so nachlässig und desinteressiert agiert, dass es die Grenze der Arbeitsverweigerung streifte; etwa wenn zum Duett im zweiten Akt der Herzog (an der Rampe, wo sonst?) einfach gemessenen Schrittes hinter Gilda tritt und zu singen beginnt, ohne ihr auch nur die kleinste Reaktion oder Überraschung zu entlocken. Angesiedelt ist die Nicht-Regie in einem nicht weiter definierten Bühnenraum, der lediglich von einer teilbaren Tribüne für den Chor und einem weißen Gazevorhang ausgefüllt wird, am Ende des dritten Aktes schiebt sich eine riesige Pferde-Skulptur von hinten herein, die gerade mal zehn Sekunden zu sehen ist, bevor der Vorhang fällt, vor dem Rigoletto und Gilda den Schluß ihres Duettes abfeiern… Beim ersten Sehen habe ich es noch für eine technische Panne gehalten, es war aber offenbar so gewollt. Incredibile, ma vero. Welch ein Trauerspiel! Leider konnte die musikalische Seite des Abends auch nur partiell dafür entschädigen. Die größte Enttäuschung bereitete das Dirigat von Marco Armiliato, sonst ja als versierter und stilsicherer Maestro in Sachen italienische Oper bekannt und geschätzt… Diesen Premierenabend bekam er irgendwie nicht in den Griff, konnte keine Akzente setzen und beschränkte sich auf eine uninspirierte und zudem von vielen Wacklern, Aussetzern und rhythmischen Unsauberkeiten geprägte Begleitung, die auch dem letzten Rest an Emotion den Garaus machte. Wenn man weiß, wie grandios das Orchester spielen kann, musste man sich schon sehr wundern. Unter diesen Umständen konnte man die Sänger nur bedauern, gegen solche Lethargie anzusingen und lebendige Charaktere zu formen, ist natürlich ein ganz dickes Brett… entsprechend blieben diese, vor allem gestalterisch, auch etwas unter ihren Möglichkeiten. So stellte Franco Vassallo in der Titelrolle vokal durchaus seine Marktführerschaft in Sachen Verdi-Bariton unter Beweis, blieb die Zerrissenheit und zerstörerische Doppelexistenz der Figur allerdings weitgehend schuldig, da habe ich ihn, auch in dieser Rolle, schon besser gehört. Ähnliches gilt auch für Joseph Calleja als Duca, mit dem er 2005 in München debütiert hatte. Inzwischen ist die Stimme dunkler und schwerer geworden, die belcanteske Leichtigkeit und Eleganz nicht mehr so selbstverständlich vorhanden. Das profilierteste Rollenporträt des Abends gelang Patricia Petibon als Gilda; und das, obwohl sie, im Gegensatz zu den Kollegen, nicht unbedingt eine genuine Verdi-Stimme besitzt. Diese ist nicht riesig groß und eher herb als lieblich timbriert, aber tragfähig und differenziert. Diese Gilda ist kein süßes armes Hascherl, sondern eine durchaus toughe und selbstbewusste junge Frau, welche ihre Welt durchaus hinterfragt und ihr Schicksal selbst bestimmt bis zuletzt. Ein bemerkenswertes Debüt gab der junge russische Bassist Dimitri Ivashchenko mit kultivierter Stimmführung und klangschönem (wenn auch etwas baritonalem) Material. Daß er zusätzlich zu Sparafucile auch noch den Monterone sang, hatte ebenso wenig einen erkennbaren Sinn wie die Doppelrolle Maddalena und Giovanna, die von Nadia Krasteva verkörpert wurde.

Während sich die Sänger am Ende eines äußerst ermüdenden Abends feiern lassen konnten, schlug den Regieverweigerern ein Buh-Orkan von lange nicht gehörter Lautstärke und Einhelligkeit entgegen. In dieser Produktion hat nicht nur der Narr nichts zu lachen, dieser Rigoletto ist bereits am Premierenabend ein Fall für die Tonne.